32 An Schneewittchens Bett

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„Sie ist ein aufgewecktes Mädchen, weißt du! Kreativ, einfallsreich, mutig."

Lauenstein biss in einen Keks. Die Krümel fielen ihm zwischen die Beine, einer blieb ihm an der schiefen Oberlippe kleben.

„Sie ist so gänzlich anders als Absolom, Adam und Abraham! Was ihre Brüder mit dreifacher Muskelkraft nicht hinbekommen, vermag sie mit ihrem hübschen Köpfchen."

Hatte ich mich verhört? Was waren das für Namen? Pastor Lauenstein hatte seinen drei Söhnen ungelogen alttestamentarische Vornamen verpasst, so weit reichte meine religiöse Bildung noch. Wie konnte man seinen Kindern so was antun? Die waren doch für ihr Leben gestraft!

Drei zu zwei für Rebecca. Da schien ein Wettstreit zwischen den Geschwistern zu toben, befeuert vom eigenen Vater. Doch worum ging es bei dem Gerangel? Diese Familie wurde mir immer unsympathischer.

Ich spürte, dass ich etwas sagen musste, wollte ich hier nicht wie ein belehrter Schuljunge hinausschleichen, der langatmige Reden über sich ergehen lässt und mit gesenktem Kopf von dannen zieht.

Ein Krümel kitzelte mich im Hals. Ich räusperte mich.

„Wie geht es ihrer Tochter?"

Lauenstein rieb sich die Nase und zog die linke Augenbraue nach oben, wo sie wie festgefrorenen stehen blieb. Wieder einmal war ich beeindruckt. Bei Mara sah es unübertroffen aus, doch auch der Pastor beherrschte es nahezu perfekt. Wieder fragte ich mich ob man das lernen konnte, oder ob einem so etwas in die Wiege gelegt wurde.

„Es geht ihr den Umständen entsprechend. Willst du sie sehen?"

Die Frage überraschte mich. Sie klang so kühl, als hätte er mir die Begutachtung seiner wertvollen Briefmarkensammlung angeboten.

Ich hatte keine Ahnung weshalb ich ihm in den finsteren Bauch des Hauses folgte, mit ihm die breite, geschwungene Treppe hinaufstieg, ihm zusah wie er mit den Fingerspitzen die Klinke zu Rebeccas Zimmer hinunterdrückte, und ihm mit wohlbedachten Schritten hinein folgte. Wenn ich gedacht hatte einen musikhörenden Teenager in seiner engen, posterverhangenen Bude, auf seinem zerwühlten Bett hockend vorzufinden, dann hatte ich mich komplett getäuscht.

Rebeccas Zimmer glich einem Salon, der mindestens ebenso groß war wie das Büro ihres Vaters. Die schweren Vorhänge hatten man zugezogen und somit jegliches Tageslicht ausgesperrt. Mehrere Kerzenleuchter bildeten die einzigen Lichtquellen im Zimmer. Ihr Schein sorgte für eine feierliche, aber ebenso schaurige Stimmung. Ich fühlte mich an eine Gruft, oder das Zimmer einer Sterbenden erinnert. Hatte Lauenstein nicht gesagt, es ginge seiner Tochter gut?

An der linken Wand stand ein gewaltiges Himmelbett, ein Traum aus Kissen, Decken und rotem Seidenstoff, welcher sich in Form eines Baldachin über das Bett spannte. Ich schätzte, dass zehn Personen gleichzeitig darin schlafen konnten, doch im Augenblick lag dort nur eine Person. Kissen, Decken und Überwürfe waren schneeweiß und faltenfrei gebügelt. Rebeccas Haar wirkte auf dem Weiß dunkler als ich es in Erinnerung gehabt hatte, ihre Lippen röter, ihre Gesichtsfarbe bleicher. Klar, dass mir bei diesem Anblick das Märchen vom Schneewittchen und den sieben Zwerge einfiel. Das liebe, hübsche, aber leider vergiftete Schneewittchen im Glassarg. Schon als Kind war mir sein Anblick zu Herzen gegangen, ob im Bilderbuch oder im Fernsehen, ich hatte Tränen der Rührung vergossen.

Ich musste mir kräftig in den Handrücken kneifen, um zurück in die Wirklichkeit zu finden. In diesem Bett dort lag Rebecca Lauenstein, die hintertriebenste Siebzehnjährige, die ich jemals kennengelernt hatte. Sie war nicht lieb, sie war nicht hold. Sie war eine Terrortussi, das war sie.

Pastor Lauenstein bot mir an näher zu treten. Ich tat es nur zögerlich. Viel zu sehr war ich in das vertieft, was Rebecca links und rechts des Bettes an die Wände gepinnt hatte: Eine überdimensionale Karte des Harzes und der umliegenden Städte und Dörfer. Überall steckten rote, grüne und gelbe Nadeln. Es mussten hunderte sein. Nach welchem Prinzip sie dort angebracht worden waren, konnte ich auf die Schnelle nicht erkennen. Eingerahmt wurde die Karte von Zeitungsausschnitten, herausgerissenen Buchseiten, handbeschrifteten Zettelchen voller Namen, Adressen und Telefonnummern. Auf der anderen Seite hing eine Karte Grubenhagens. Auch hier gab es zahlreiche rote Stecknadeln, ein paar schwarze und genau drei grüne. Drei zu zwei für Rebecca.

Ich trat näher an die Karte heran. Mit dem Finger suchte ich den Marktplatz, meine Straße, mein Wohnhaus. Ich schluckte schwer. Eine grüne Nadel hatte sich dort tief in die Wand gebohrt.

Lauenstein hatte die Hand seiner Tochter gegriffen und streichelte behutsam über jeden ihrer Finger.

„Nur ein paar Tage Ruhe, dann wird sie wieder die alte sein. Sie ist ungeheuer stark!"

Weshalb hatte er mich zu ihr geführt? Was führte er im Schilde? Ich konnte mir nicht helfen, das Ganze kam mir wie eine einzige Demonstration von Macht und Überlegenheit vor. Und dazu hatte er sich ausgerechnet mich, Lupo Scholz, den Studenten ohne Abschluss, den ständig klammen Junggesellen mit den zweifelhaften Begabungen ausgesucht? Wie arm war das denn?


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