65. Park und Tor und Wald, doch wo?

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Die Waffe wanderte zurück in Lisbeths Hosenbund. War das Mitgefühl in ihrem Blick oder die pure Verachtung? Ich konnte es nicht sagen. Sie griff nach dem Knoten vor meiner Brust und begann daran herumzufummeln.

»Okay, Lupo Scholz, Prüfung bestanden. Schwein gehabt! Dieses Mädchen, wie heißt es noch?«

»Lyff.«

»Diese Lyff scheint zu wissen, wo die Teufelsbrüder hingefahren sind!«

Ich schälte mich aus dem sich lockernden Seil und ließ es auf den Boden gleiten. Was hatte Lyff gesagt? Sie hatte von einem Park gesprochen, einem Tor, einer glatten, vermutlich asphaltierten Straße. Welchen Park konnten die Brüder gemeint haben? Den Stadtpark? Den Tierpark? Doro Schlesinger war die Besitzerin und Lisbeth hatte gewisse Verbindungen zwischen ihr und den Lauensteins angedeutet. Doch sollten sie sich tatsächlich dort herumtreiben, dann wäre Lisbeth nicht zur Mönchshöhe gefahren, sondern gleich zum Tierpark.

Heute war Otte-Tag und am Otte-Tag warfen die Brüder arme Wittiche ins Wasser. Wenn sie für ihre Schandtat in diesem Jahr nicht die ehemalige Opferstätte an der Mönchshöhe wählten, dann konnte es dafür nur eine Erklärung geben: es musste irgendwo einen weiteren Übergang zur anderen Seite geben, ein weiteres Gewässer schwarz wie Lakritz und gierig nach Wittichen wie ein Suchtkranker nach Kieferschnaps.
Ich teilte Lisbeth meine Überlegungen mit, doch sie runzelte bloß die Stirn. Von einem Otte-Tag hatte sie noch nie gehört und sie bezweifelte stark, dass ein solcher überhaupt existierte.

»Lieber Lupo, meine Schwester ist nicht das Unschuldslamm, für das sie sich ausgibt. Sie steckt mit den Lauensteins unter einer Decke. Fiese Dinge laufen da, ganz fiese Dinge!«

Leise begann ich die Worte zu murmeln.

»Einer hinein, ein andrer hinaus. So ist es schon seit ewgen Zeiten.«

Lisbeth starrte mich entgeistert an. Ihre Zigarre hing auf Halbmast und war kurz davor, ihr aus dem Mund zu fallen.

»Du kennst den Spruch?«

»Klar. Er steht im Otte-Buch, dieser Kampfschrift. Irgendwo auf Seite 33, mit Bleistift hingekritzelt. Stammt, glaube ich, von Pastor Lauenstein.«

»Nazi-Otte hat ein Buch geschrieben?«

Ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Wow, ich wusste mal was, das Lisbeth nicht wusste!

»Hat er! So ein dünnes, kleines. Keine hohe Auflage. Ich hab's hier, es steckt im Rucksack!«

Hektische Zigarrenzüge. Weißer Qualm in trübem Licht. Plötzlich erschien mir der Geruch von Lisbeths Zigarren gar nicht mehr so aufdringlich, im Gegenteil, er verströmte etwas Behagliches, fast schon Gemütliches. Ich wusste etwas, das Lisbeth nicht wusste. Wow!

»Aber woher ...?«

»Aus Lauensteins Büro. Hab's mitgehen lassen.«

Jetzt war es an Lisbeth, die Welt nicht mehr zu verstehen, das sah ich ihr an. Es war Zeit, ihr meine Geschichte mit Rebecca und ihrem Vater zu erzählen, dann würde sie verstehen, dass ich in der ganzen Sache tiefer drinsteckte, als sie sich vorstellen konnte.
Viel mehr als eine Kurzversion ließ Lisbeths Geduld jedoch nicht zu.

»Aha, aha. Schön schön. Na gut. Aha«, murmelte sie, während sie damit begann, wie wild in ihren auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Unterlagen herumzuwühlen. Sie schob Bücher und Zeitschriften zur Seite, schaufelte Aktenordner und Karteikästen ins Regal, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Ein zusammengefaltetes Stück Papier, das sich beim Auseinanderziehen als Umgebungskarte von Grubenhagen herausstellte. Hier der Fluss, dort der kleine Marktplatz, hohe Berge rechts und links, die Hauptstraße, am Ende des Tals die Staumauer, der Stausee, das Café Sösedamm. Ach, wie gern säße ich jetzt auf der Sonnenterrasse, den Blick auf das glitzernde Wasser gerichtet, über das die Mückenschwärme tanzen. Der nasse Leib einer Flussforelle schnellt aus dem Nass und fällt mit einem seichten Klatschen zurück ins Wasser. Mara kommt an meinen Tisch. In der Hand hält sie ein riesiges Tablett voller Tortenköstlichkeiten und einer Kanne Kaffee mit zwei Tassen. Sie hat Dienstschluss und gemeinsam feiern wir ihren Feierabend. Wir sehen uns lange in die Augen.

Lisbeths Räuspern weckt mich aus meinem Tagtraum. Sie hat die Karte auf dem Tisch ausgebreitet und die Lampe darüber gezogen. Ich erkenne mehrere mit rotem Marker eingekreiste Stellen. Der Zigarrenstummel wandert auf eine Untertasse, wo Lisbeth ihn ausdrückt. Sie reibt sich das Kinn, zieht an ihrer Nase, popelt ein bisschen, erst im einen, dann im anderen Nasenloch.

»Schöner Park. Ein Tor. Wald. Glatte Straße. Was kann deine Lyff gemeint haben? Wo sind die Teufelsbrüder hingefahren?«

Und als ich nicht sofort reagiere: »Du kennst dich hier doch aus! Du bist doch von hier!«

Ich trat näher an den Tisch heran und betrachtete die Karte genauer. Ein roter Kringel um das Pfarrhaus der Lauensteins. Okay. Einer um den städtischen Tierpark. Aha. Ein weiterer Kringel um die Mönchshöhe. Natürlich. Den mit Abstand fettesten Kringel, mehrmals nachgezogen bis das Papier beinahe durchgescheuert war, entdeckte ich auf dem Marktplatz, in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung. Ein Riesenkringel mit Kreuz darin. Nachdem was Mama Beauty mir über die Nazi-Zeit in Grubenhagen erzählt hatte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Unterirdische Fabriken, Zwangsarbeiter in engen, nassen Stollen. Geheime Staatsprojekte, hochgerüstete Monster aus dem Dämmerskog, gedrillt für den Kampf im Osten. Der Eingang zur Hölle mitten im Zentrum unseres lieblichen Städtchens.
Ich zeigte auf die Karte.

»Der Marktplatz. Sie wissen, was da vor 1945 gewesen ist?«

Lisbeth nickte. Ihr Gesicht war zu einer ernsten Grimasse verzogen. Plötzlich streckte sie mir ihre beringte Hand entgegen. Ich ergriff sie spontan und schüttelte sie kräftig.

»Lisbeth, nenn mich doch einfach Lisbeth!«

»Lupo, ich bin Lupo!«

Wieder einmal hatte sie mich mit ihrem ungeplanten, völlig unerwarteten Verhalten kalt erwischt. Ich war mir nicht sicher, ob es sinnvoll war, mit dieser sprunghaften, waffenfuchtelnden Frau loszuziehen und den gefährlichsten Typen der Stadt den Garaus zu machen. Das musste zwangsläufig im Chaos enden. Doch hatte ich eine Wahl?

»Unterirdische Anlagen. Waffenproduktion. Zwangsarbeit. Schlimme Sache. In noch viel älteren Plänen aus der Kriegszeit, 44 oder 45, weiß ich nicht mehr, habe ich mir im Staatsarchiv in Hannover angesehen, na ja, auf diesen Plänen kann man jedenfalls auf dem Marktplatz einen breiten Einstieg erkennen. 20 mal 20 Meter oder sowas. Ein Riesending. Das real existierende Nichts. Wie rausgestanzt. Eine Rampe führte unter Tage. Stell dir das vor. Dort, wo noch ein paar Jahre zuvor der Wochenmarkt stattfand, Obst, Gemüse, Hühnerhälften, Wurstwaren und so weiter, da hat dieser Gauleiter über Nacht eine Mega-Baustelle einrichten und innerhalb weniger Wochen das unterste zu oberst wühlen lassen. Furchtbar! Riesige Hallen unter Tage, kilometerlange Stollen, und wenn mich mein Sachverstand nicht ganz im Stich lässt, dann ...«

Ich setzte den Satz für sie fort.

»Dann existiert dort ein zweiter Übergang zum Dämmerskog!«

Lisbeth sah mich überrascht an. Nicht zum ersten Mal. Sollte ich ihr von Mama Beauty und der Sklavenarbeit in den Schächten Grubenhagens erzählen, von den Ungetümen, denen sie helfen musste, ans Tageslicht zu kriechen? Sollte ich von diesem einen sehr netten Ungetüm in menschlicher Erscheinung erzählen, der später mein Vater und Jahre später Lisbeths Geliebter wurde?
Ich entschied mich dagegen. Auch wenn Lisbeth eine mit allen Wassern gewaschene Geisterjägerin war, diese Neuigkeiten würden selbst ihr den Glauben an die Welt und alles, was darunter waberte, entreißen.

Ihr Zeigefinger huschte über die Karte, tippte auf diese und jene Stelle, während sie leise vor sich hinmurmelte: »Schöner Park. Ein Eingangstor. Was könnten die Teufelsbrüder gemeint haben? Was hat diese Lyff gehört?«
Und an mich gewandt: »Jetzt sag doch mal, wie gut kennst du diese Gegend wirklich?«

»Ziemlich gut.«

»Ziemlich?«

»Sehr gut!«

»Schon besser! Und, was meinst du, wo stecken die Satansbraten? Dein kleiner Talisman da, kann der dir nicht die Lösung flüstern?«

»Ist bloß ein Bernstein aus'm Kaugummiautomaten!«

»Schade!«

Ich dachte angestrengt nach, grübelte, bis ich Schnee vor den Augen sah. Die Gewissheit, dass die Zeit unweigerlich verstrich, Mara, Lyff und der Junge von Minute zu Minute dem Ende näher kamen, beförderte meine Kreativität nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Es drohte Blockade-Alarm.
Bei »Park« fiel mir natürlich unser kleiner Stadtpark ein, dann der Tierpark, klar. Beide befanden sich im Tal, in der Stadt, nicht im Wald, wie Lyff es beschrieben hatte. Park. Park. Park. Wo in dieser gottverdammten Gegend gab es denn noch einen Park, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen besonderen, einen, an den sich sogar ein verkommener Lauenstein-Lutscher erinnerte?

Ich beugte mich über die Karte, denn ich hatte eine Idee.

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