ausgelaugt °✨° Fr. 13.11.2020

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„Ja, selbstverständlich. ...
Selbstverständlich, das ist überhaupt kein Problem. ...
Natürlich werden wir Ihren Auftrag vorziehen. Eilige Kunden sind gute Kunden. ...
Ja ...
Natürlich. ...
Freitag auf der Rampe ...
Ja, machen wir. Auf wiederhören."

Ich lege auf.
Auch das noch! Das ist vollkommen utopisch.
Wenn ich das abgelehnt hätte, wären wir einen alten Stammkunden losgeworden. Aber Freitag bei denen auf der Rampe heißt Donnerstag bei uns raus heißt Mittwoch Endkontrolle und Verpackung. Und wie soll ich jetzt bitte bis Mittwoch Morgen je 100.000 Kunstdruck-Kalender mit Apotheken-Ketten-Logo in drei verschiedenen Designs kreieren, von denen genehmigen lassen, durch die Druckerei jagen und endfertigen lassen?
Der Betriebsrat steht mir auf den Füßen wegen der zusätzlichen Nachtarbeit, zur Zeit meldet sich alle Nase lang jemand krank, ich muss erstmal das Papier beschaffen und die Druckerkapazität freischaufeln, ...
Das Papier!

Ich greife wieder zum Hörer, rufe meine Designer, meine Druckerei, den Papierlieferanten, die Personalabteilung und die Telefonseelsorge an und versuche die Quadratur des Kreises.
Wie ich dieses fruchtlose Diskutieren hasse!
Ich kann doch auch nichts dafür, dass ich von meinem Vater ein marodes Unternehmen geerbt habe und jetzt bei laufendem Betrieb den wirtschaftlichen Untergang verhindern muss!

Ich stürze raus aus meinem Büro zu meiner Sekretärin, lasse sie die drei wichtigsten Leute zu mir scheuchen und bespreche mit denen dann, wie wir diesen zusätzlichen Auftrag schaffen können. Drähte laufen heiß, Mitarbeiter werden zu längeren Schichten verdonnert, das Arbeitsamt wird um zehn Hilfsarbeiter angefleht. Aber selbst da ist im November Ebbe in der Kartei, weil alle im Moment mehr Leute brauchen. Und dann mache ich mich daran, drei andere Kunden zu vertrösten, weil wir leider blablabla ... und darum ihre neuen Speisenkarten, den Werbeflyer und den Haushaltsplan 2021 für die Jahrenshauptversammlung „etwas" verspätet blablabla ...

Ich verlasse erst nach 22.00 Uhr mein Büro, auch wenn ich heute Nacht sowieso nicht schlafen werde und morgen gleich früh wieder ran muss. An jeder Ampel fallen mir fast die Augen zu. Ich muss mitten durch die noch ziemlich belebte Innenstadt von Changwon, um nach Hause zu kommen.
Nach Hause ...
Ein Zuhause, das ich mitgeerbt habe, mir aber eigentlich gar nicht mehr leisten kann. Ein Haus, das das Zuhause meiner mutterlosen Kindheit war, steril und unbelebt und mir schon lange völlig fremd geworden.

Ich fahre nun langsamer. Die grellen Lichter der Läden und Kneipen rechts und links blenden mich. Und vor einer dieser Kneipen wird doch tatsächlich grade ein Parkplatz frei.
O.K. - dann soll das so.
Ich bremse ab, setze den Blinker und gleite mit leise schnurrendem Motor in die Parklücke. Ich betrete das „Changwon O'Briens Irish Bar and Restaurant", lasse sofort misstrauisch meinen Blick schweifen, ob mich hier jemand erkennen könnte, und rutsche mit einem zufriedenen Aufseufzen an einen kleinen Tisch in der Ecke.

Eine koreanische Kellnerin kommt angewuselt und nimmt meine Bestellung auf. „Ein Bier bitte."
„Ein koreanisches oder ein europäisches Bier?"
„Europäisch?"
Kurz registriert eine Nebenspur in meinem Hirn, dass das gesamte Ambiete tatsächlich sehr bodenständig und westlich aussieht.
O'Briens Irish Bar ...
„Ein europäisches bitte."
„Gut, also ein irisches Guinness?"
„Gerne, es gibt immer ein erstes Mal."

Ich lehne mich erschöpft zurück und lasse wieder meinen Blick durch den Raum wandern. Dunkles Holz, abgeliebte Tische, auf Tafeln handgeschriebene Tagesangebote, vielfältige Gerüche nach fremdländischem Essen, ... Apropos essen. Mein Magen knurrt so laut, dass man es wahrscheinlich bis zum Billardtisch gehört hat. Als die Kellnerin mein Guinness bringt, studiere ich grade die Speisenkarte. Zweisprachig, gut sortiert, keine übertriebenen Preise und lauter fremde Gerichte. Das Tagesgericht auf der Tafel klingt allerdings auch nicht schlecht, also bestelle ich mir das und sinke wieder gegen die Stuhllehne.

Das Publikum ist sehr gemischt. Koreaner, Japaner - und alles andere sind sicher Amerikaner und Europäer, die froh sind, dass sie hier vorher wissen, was sie essen werden. Die Theke ist gut besetzt, und Gesprächsfetzen fliegen hin und her. Hinter dem Tresen wuselt ein Koreaner rum – und ein Berg von einem Kerl. Also für koreanische Verhältnisse ein Berg. Groß, breit, rund, kurze rote Haare, die an den Schläfen erste Anzeichen von Grau zeigen. Kräftige Stimme, volltönendes Gelächter.
Das wird dann wohl O'Brien sein – wenn der Name der Bar tatsächlich was bedeutet.
Ich fühle mich zum ersten Mal seit Wochen (oder Monaten?) wohl in meiner Haut, in meiner Umgebung, unbeobachtet und frei von allen Lasten.

Dann will ich doch mal dieses Guinness probieren. Das soll ja was ganz Besonderes sein.
Auf dem bauchigen Glas ist über dem Schriftzug eine goldene Harfe abgebildet. Der Schaum tritt nicht über den Rand, und das Bier ist dunkel, fast schwarz. Erst kitzelt mich der Schaum ein bisschen an der Oberlippe, dann habe ich das Gefühl, ich gieße mir flüssiges Öl in den Mund. Ich meine – es ist nicht irgendwie eingedickt. Aber das Zeug hat ein so starkes, intensives Aroma, dass es sich irgendwie „dick" anfühlt. Der Geschmack ist malzig und süßlich.
Ich glaube, daran könnte ich mich gewöhnen.

Ich bekomme mein Essen und damit noch viel mehr aromatische Aha-Erlebnisse. Und ich fälle einen  Entschluss.
Hier war ich nicht zum letzten Mal!
Satt und zufrieden nippe ich wieder an meinem Guinness. Da sehe ich Unruhe hinter dem Tresen aufkommen. Der Wirt legt grade sein Handy weg, runzelt die Stirn, kratzt sich am Hinterkopf und verschwindet in den Katakomben seiner Kneipe. Erst nach einer ganzen Weile taucht er wieder auf mit einer großen Aufstelltafel und einem weißen Stift. Unweit der Eingangstür hockt er sich hin und fängt an, auf der Tafel zu schreiben und zu malen. Ich stehe auf und gehe näher ran.

Vor meinen Augen entstehen ein klassischer Würfel und zwei Spielfiguren, die als Weihnachtsmänner verkleidet sind.
O.K.?
Dann kommt ein Datum – 1. bis 24. Dezember 2020. Der Wirt dreht den Aufsteller um und fängt von vorne an. Dann überlegt er ein bisschen. Obendrüber schreibt er „freies Essen für den Sieger", unten drunter „Mensch, ärgere dich nicht-Turnier" und „täglich 19.00 Uhr". Wieder dreht er den Aufsteller um und schreibt alle Texte noch auf Englisch hin, was ich zwar nicht lesen kann. Aber ich hab ja eben die koreanischen Worte gesehen. Schließlich steht der Mann auf und trägt den Aufsteller vor die Tür seiner Kneipe.
Witzige Idee!
Wenn ich das richtig verstehe, wird er im Dezember an jedem Tag bis Weihnachten hier in der Kneipe ein Spiele-Turnier veranstalten. Und der Sieger des Abends bekommt sein Essen umsonst. Tische hat er. Spiele hat er. Die Spieler werden mit Sicherheit was trinken beim Spielen.
Und EIN Essen pro Abend wird er in der Kasse nicht spüren.

Als der Mann wieder reinkommt, spreche ich ihn an.
„Das ist eine witzige Verkaufsstrategie. Kommt rein und spielt – und trinkt, bis die Börse leer ist."
Der Ire schaut mich mit einem seltsamen Blick von oben bis unten an.
„Spannend, dass Sie beim Anblick zweier grinsender Spielepöppel-Weihnachtsmänner als erstes an den Profit denken. Ich mein' - ich weiß, dass ich nicht soooo toll malen kann. Aber hat Spielen nicht in erster Linie was mit Spaß zu tun?"
Dann lässt er mich stehen, dreht sich um und verschwindet wieder hinter seinen Tresen.

Verblüfft über diese deutliche Abfuhr lasse ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken. Der Mann hat mich offensichtlich in die Kategorie „herzloser Profitgeier" eingeordnet.
Schade.
Die Idee, jeden Abend mit jemand anderem am Spieltisch zu sitzen und ausnahmsweise mal nicht um tausende Won sondern um Spaß und ein Abendessen zu spielen, fasziniert mich.

Ich setze mein professionelles „keiner kann mir was"-Gesicht auf und gehe zum Tresen. Erst bezahle ich mein Essen und mein Guinness, dann spreche ich den Wirt noch einmal an.
„Verzeihen Sie, das ist grade blöd rüber gekommen. Muss man sich anmelden, wenn man mitspielen will? Und muss man dann jeden Abend kommen? Ich denke, dass ich das nicht einhalten könnte. Aber ab und zu?"
Während er seelenruhig das nächste Bier zapft und eine herrliche Schaumkrone auf die goldene Flüssigkeit zaubert, bekomme ich die gewünschte Antwort.
„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Niemand ist zu irgendwas verpflichtet, jeder darf mitmachen. Es soll einfach Spaß machen."
Das klingt gut.
Ich schmeiße noch ein paar Won in die Mitarbeiterdose, gehe raus in die Kälte und fahre deutlich wacher und irgendwie zufriedener als vorhin nach Hause.

Die Kälte und Einsamkeit der völlig überteuerten Luxushütte meiner Eltern holt mich jedoch sofort wieder auf den Boden der Tatsachen. Und die heißen: sieh zu, dass du so viel wie möglich verkauft kriegst, und schraub dein Leben runter auf ein normales Maß, sonst hast du bald gar nichts mehr.
Seufzend fahre ich mein Notebook hoch und checke, was mein Auto, meine Hütte und das ungenutzte Gelände neben der Druckerei wohl im Moment für einen Marktwert haben könnten.

Ich gehe in Gedanken durch meinen Kleiderschrank und überlege, ob nicht auch die ganzen Designerklamotten noch einiges wert sein könnten. Aber dafür würde ich niemals den echten Wert bekommen. Also trage ich sie lieber selbst. Dann checke ich meine Hobbies, Zeitungsabonnements, Vereinszugehörigkeiten, Wohltätigkeitsverpflichtungen. Langsam geht es echt ans Eingemachte. Wenn ich das alles streiche, dann schieße ich mich nicht nur ins gesellschaftliche Off. Dann nehme ich auch mir selbst das einzige, was mein Leben wenigstens einigermaßen sinnvoll macht.

Irgendwann fällt mir der Kopf auf die Tastatur, darum fahre ich den PC runter und gehe ins Bett. Was meinen Kopf natürlich nicht daran hindert, virtuell weiter am PC zu sitzen und mit Zahlen zu jonglieren.
Vor allem mit roten Zahlen ...

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13.11.2020    -    12.1.2021

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