Bin dankbar, unendlich dankbar

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Meine Finger pulen die Tapete von der Wand, ohne dass ich es wirklich bemerke. Ich spüre keinen Schmerz, obwohl ich meine Unterlippe blutig gebissen habe ... Wie lange genau es her ist, dass ich mir das erste Mal über den Mund fahren musste, um die roten Tropfen wegzuwischen, kann ich nicht sagen. Die Bewegung setzt automatisch ein, immer und immer wieder. Ich fahre mir über die Lippen, dann über die Augen und alles ist nass, mein Handrücken feucht, wenn sich meine Finger in meine Wade bohren, ich meinen Arm um meine angezogenen Beine schlinge, um sie vom Zittern abzuhalten. Diesem Zittern, das einfach nicht aufhören will. Zusammengekauert sitze ich eng mit dem Rücken an die Wand gepresst neben der Steckdose, starre aus dem Fenster. Durch die Vorhänge stürzt das Licht in den Raum wie eine Schneelawine, kalt und grellweiß. Ich kann Tua nicht anschauen. Jedes Mal, wenn ich seine Silhouette im Augenwinkel wahrnehme, verschwimmen die Konturen seines aufgerichteten, zur Salzsäule erstarrten Körpers, werden transparent, als würden sie sich auflösen. Meine Tränen versuchen sich verzweifelt an den Wimpern festzuhalten, aber sie sind zu schwer. Ihre eigene Last zieht sie in die Tiefe, sie zeichnen die Karte von Venedig auf meine Wangen. Tod in Venedig.

Kostja ist vor dreiundzwanzig Minuten gestorben. Tua hat sich seit dreiundzwanzig Minuten nicht mehr gerührt. Ivanka ist seit dreiundzwanzig Minuten verstummt. Ich war nicht im Raum, als es passiert ist, habe mich rausgeschlichen. Vielleicht, weil ich wollte, dass Kostja seinen letzten Moment allein seiner Frau und seinem Sohn weiht, vielleicht ... Andere Erklärungen für meine Flucht verdränge ich lieber und das aus gutem Grund. Lieber bin ich unwürdig als feige. Ich will nicht das Mädchen sein, das weggerannt ist.

Als Tua seine Mutter plötzlich loslässt und Ivanka ihren Kopf auf Kostjas Brust bettet, ohne den vertrauten Klang seines Herzschlags dabei im Ohr zu haben, bete ich zum Universum, es möge mir Kraft schenken. Lass mich aufstehen; denn ich will ihm hinterher, ich muss.

Mein Freund ist verschwunden, hat die Tür hinter sich einen Spaltbreit offengelassen. Ich taste mit einer Hand über den Holzboden, drücke mich hoch, merke, dass ich schwach bin, ignoriere die Lähnmung ... Meine Gefühle steuern mich. So lande ich in der Küche, wo Tua einen gelben Zettel auf die Theke presst. Er umklammert das Festnetz-Telefon und es zittert neben seinem Ohr. Genauso heftig wie meine Beine noch immer zittern. Ich setze mich seitlich auf einen der Stühle, die sich ungeordnet rund um den Esstisch verteilen, und reibe fest über meine Oberschenkel. Das soll doch die Blutzirkulation in Gang bringen, wieso sind meine Muskeln trotzdem taub?

Tua sagt irgendwas von "abholen, so bald wie möglich" ... und er legt auf und atmet ein ... und weint stumm. Er steht da, hat mir den Rücken zugewandt, nur das Beben seiner Schultern verrät ihn. Was auch immer mich dazu veranlasst, es ist eine zielgerichtete kosmische Energie, die dafür sorgt, dass ich aufspringe, zu ihm laufe und ihn von hinten so fest in die Arme schließe, dass er kurz ein ersticktes Geräusch von sich gibt. Auf einmal geht sein Atem schneller, er droht panisch zu werden, doch ich lockere meinen Griff und er reißt sich nicht von mir los, dreht sich lediglich zu mir um und sieht mir in die Augen. Ich wäre für niemanden so star, wie ich es gerade bin, außer für Tua. Er weiß es nicht, aber er fühlt es. In diesem Augenblick sind wir ganz - Wir sind eins. Er und ich. Keiner von uns beiden sagt etwas, weil alle Worte ihre Bedeutung verloren haben. Alles, was nicht pure Emotion ist, ist nutzlos. Unsere reglose Umarmung währt unendlich. Sie ist ein transzendentaler Zustand, eine Erinnerung an etwas, das in uns beiden verankert ist; die Erinnerung an bedingungslose Liebe ...

Nach und nach erscheint mir das Straßenpflaster immer dunkler. Es hat angefangen zu regnen, kurz nachdem Tua zusammen mit Kostjas Seele das Haus verlassen hat. Inzwischen sind Stunden vergangen und ein Trauerschleier hat sich über die Vorstadt gelegt. Das prasselnde Geräusch der Milliarden von Tropfen ist so laut, dass ich ein brasilianisches Kinderlied summe, um es zu übertönen. Meine Schwester und mein Vater haben es mir früher oft im Duett zum Einschlafen vorgesungen. Gott, das ist lange her. Ich trinke einen Schluck Tee und zucke zusammen, als es hinter mir klappert.
"Oh", sagt Ivanka leise und observiert erstaunt aus müden, aber weit aufgerissenen Augen den Topf, den sie eben hat fallen lassen. Schnell stelle ich meine Tasse auf der Fensterbank ab und hebe Topf sowie Deckel vom Boden auf. "Ich wollte Milch aufsetzen", stottert Tuas Mutter. "Für ein bisschen heiße Milch mit Honig." Statt ihr das Feld am Herd zu überlassen, berühre ich sie leicht an der Hand. Sie trägt bloß ein altes Hemd, das ihr viel zu groß ist. Bestimmt hat es mal Kostja gehört. Ich sollte ihr eine Decke holen, sie wird noch auskühlen, wenn sie weiter barfuß durch die Flure wankt.
"Das mit der Milch kann ich doch machen", wende ich ein, stelle den Topf vorsorglich beiseite und geleite Ivanka rüber an den Tisch, wo sie sich erst niederlässt, als ich sie sanft runterdrücke.
"Wo ist Johannes?", fragt sie mich, während ich das Ceran-Kochfeld einschalte.
"Ich weiß es nicht", antworte ich ehrlich. "Ich musste ihn gehen lassen, er hat es nicht mehr ausgehalten." Die Aussage bedarf keiner weiteren Ausführung. "Konntest du schlafen?", wechsle ich darum das Thema.
"Kurz, ja. Eine halbe Stunde. Ich habe von dem Tag geträumt, an dem ich ihn das erste Mal gesehen habe." Mit ihn meint sie ihren verstorbenen Mann. "Das Schicksal wollte, dass wir uns begegnen. Er kam nur nach Troieshchyna, weil er seinen Freunden dorthin gefolgt ist. So eine törichte Entscheidung hätte er nie selbst getroffen, es muss das Schicksal gewesen sein, verstehst du, Iara?" Sie sieht mich an und fragt: "Glaubst du ans Schicksal?"
Ich nicke andächtig und schütte die schäumende Milch, in die ich schon einen Löffel Honig gerührt habe, in eine hübsch bemalte Tasse aus gebranntem Ton.
"Ich glaube nicht nur daran, ich vertraue darauf. Das Vertrauen ist noch viel wichtiger, sagt meine Großmutter immer." Ich schenke Ivanka ein Lächeln, überreiche ihr die Tasse und geselle mich zu ihr.

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