Jeder hat seine Fehler, du hast eben viele

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Thoralf ist bei Mama in der Küche, Henry bei meiner Schwester Carrie im Flur und wo ist Tua? Tja, das wüsste ich wirklich gerne. Jedenfalls ist er nicht bei mir. Oder überhaupt auch nur in der Nähe der Wohnung im schicken Charlottenburg, in die meine Mutter und ihr frischgebackener Ehemann vor einiger Zeit gezogen sind.
"Mach dir keine Gedanken." Carrie bietet mir wie aus dem Nichts plötzlich eine riesige Tasse Kakao an, die ich ihr dankbar abnehme. "Du hast selbst gesagt, dass er unfähig zur Pünktlichkeit ist. Er kommt schon noch."
Sie lächelt warm und ich möchte ihr glauben, aber die Wahrheit ist, dass es gut sein könnte, dass er einfach keinen Bock auf mich hat und darauf, heute heile Welt mit mir zu spielen. Es ist zwar Heiligabend, aber so heftig wie gestern haben wir uns schon lange nicht mehr gezofft.
Nach unserem Streit war er mit Sicherheit im Boxclub. Jenn hat mir später geschrieben, dass er bei ihr und Tarik für die Nacht untergekrochen ist. Zu dem Zeitpunkt, es muss etwa halb zwei gewesen sein, lag ich in seinem Bett, allein, und habe mich hundsmiserabel gefühlt. Natürlich hätte ich in die WG fahren und mich bei Pari und Mika ausheulen können, aber ich habe irgendwie gehofft, Tua würde vielleicht doch noch zurückkommen. Mir kam es gestern beinahe so vor, als wäre der ganze Fortschritt, den wir im Urlaub beziehungstechnisch gemacht haben, mit dieser einen blöden Auseinandersetzung schon wieder hinüber; und ich kann diesen Gedanken noch immer nicht vollständig abschütteln.
Die Straße unten, auf die ich nachdenklich blicke, ist leer und verlassen. Nur einzelne weiße Flocken rieseln herab und hin und wieder hinterlassen Familien, oder Paare, oder Freunde Spuren im Schnee, wenn sie ihren alljärlichen Weihnachtsspaziergang genießen. Oder hinter sich bringen, je nachdem.
Verfluchtes Fenster, wieso kann ich es nur nicht lassen, aus dir rauszustarren? "Carrie?", wende ich mich an meine Schwester, die über etwas lacht, das ihr Freund gerade gesagt hat.
"Was ist denn, Spatz?", dreht sie sich nun zu mir um.
"Ich glaube, er kommt nicht mehr", sage ich leise. Die Erkenntnis bricht über mich herein und sorgt dafür, dass mir Tränen in die Augen steigen, die jeden Moment meine Wangen hinabzuperlen drohen.
"Wieso sollte er nicht?" Sie tritt an mich ran und streichelt mir besänftigend über die Schultern, die mein schwarzes Strickkleid freilegt. Tua hat es mir geschenkt, weil es ihm so sehr an mir gefallen hat, als ich es im Urlaub in einer schnuckligen Boutique anprobiert habe.
"Wir hatten gestern Abend noch Stress und ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört."
"Worum ging's denn?", fragt sie mitfühlend.
"Um Idiotisches, wie immer, wenn wir streiten", murmle ich niedergeschlagen. "Er will mich seiner Familie wohl nicht vorstellen, jedenfalls behauptet er, sie würden dieses Jahr nicht feiern."
Meine große Schwester hebt eine Augenbraue. "Und warum glaubst du ihm das nicht?"
"Er ist komisch in letzter Zeit, irgendwas verschweigt er mir. Vielleicht will er Schluss machen und wartet bloß auf den richtigen Moment."
Carrie schnalzt mit der Zunge. "So ein Unsinn", rügt sie mich.
Das Klingeln an der Tür überhöre ich fast, weil ich bei der Erinnerung an die Geschehnisse schluchzen muss.

"Iara, da ist Besuch für dich", lächelt meine Mutter und hinter ihr betritt allen Ernstes Tua das Wohnzimmer, als hätte ich ihn heraufbeschworen. Ungläubig und erleichtert reibe ich mir die Augen. Bin ich wach? Ein Zwicken verrät mir, dass ich es theoretisch sein müsste. Carrie hat mich gekniffen. Jetzt grinst sie und schiebt mich in seine Richtung. "Was habe ich dir gesagt?", flüstert sie mir zu.
"Hi", wirft er kurz in die Runde, bevor sich seine Augen wieder auf mich richten. Er geht langsam auf mich zu und wirkt dabei recht unsicher. Ich könnte ihn aufhalten, aber irgendwie habe ich ihm schon fast vergeben, als er eben durch die Tür getreten ist. Nur fast. Trotzdem reicht die Erleichterung für den Moment aus, sodass ich ihm übermütig um den Hals falle. Er riecht frisch, nach Regen und seinem Parfüm und alles vermischt sich mit dem Geruch der Tannennadeln vom geschmückten Weihnachtsbaum, der rechts von uns steht. Die Anspannung löst sich schlagartig von mir.
"Können wir kurz ungestört irgendwo reden?", fragt er mich leise. Sein Bart kitzelt an meinem Ohr.
Ich wische mir mit dem Ärmel einmal unter der Nase entlang und schniefe ein wenig, ohne ihn loszulassen. "Du bist so ein Arsch manchmal, lass mich nie wieder so hängen, hörst du?"
Tua drückt mich an sich und haucht mir einen Kuss auf den Scheitel, aus dem die volle Reue spricht. Ich löse mich von ihm und zupfe mein Kleid zurecht.
"Mama, Tua und ich müssen reden. Können wir eine Minute in euer Schlafzimmer?" Meine Stimme klingt ein bisschen kratzig, aber ich schaffe es zu lächeln.
"Natürlich, mein Engel", erwidert Mama freundlich.
"Danke."
"Ja, danke, dauert nicht lange", echot Tua. "Was musst du dich den jedes Mal kommentarlos davonmachen?", frage ich ihn laut und mustere ihn finster. Ich bin froh, dass er hier ist, aber das heißt nicht, dass ich nicht noch immer wütend auf ihn bin.
Er atmet tief aus, lehnt sich gegen den großen Kleiderschrank und ich sinke aufs Bett und bleibe dort sitzen, die Hände flach auf den Knien platziert.
"Du hast mich eingeengt mit deiner Fragerei, Iara, ich brauchte Luft zum Atmen", erklärt er sich notdürftig.
"Du hast mich gegen den beschissenen Türrahmen geschubst, Tua!", fahre ich ihn an. "Egal, wie sauer du auf mich bist und wie gefangen du dich fühlst, das ist inakzeptabel. Es ist sogar ein absolut handfester Grund, dich zu verlassen, bist du dir dessen bewusst?"
"Das tut mir wirklich leid und es wird nie wieder vorkommen", sagt er fest und ich sehe in seinen Augen deutlich, dass es ihm ernst ist.
"Okay", seufze ich und zucke die Schultern. Ich lasse den Blick zur Seite schweifen. "Weißt du, das ist genau, was ich meine", beginne ich zögerlich. "Du solltest mir reinen Wein einschenken. Jetzt."
Er kapiert, dass das der einzige Ausweg aus dieser unangenehmen Situation ist, er ist ja nicht dumm, aber diesmal ist es anders und ich verstehe plötzlich, was er damit gemeint hat. Er sagt mir nicht, was nicht mit ihm stimmt, weil er es tatsächlich nicht kann. Stattdessen wird er kreidebleich. Als er zu mir rüberkommt, mehr schon stolpert, rutsche ich sofort auf der Matratze zur Seite. "Du siehst aus, als müsstest du dich übergeben", spreche ich aus, was mir durch den Kopf schießt. "Geht gleich wieder", widerspricht er, doch dann sinkt er mit dem Oberkörper runter auf die Tagesdecke, die Augen geschlossen, sein Atem geht rasselnd.
Kurzerhand springe ich auf, laufe zum Nachttisch rüber, auf dem glücklicherweise eine Wasserkaraffe steht und schenke meinem Freund ein Glas ein. Er nimmt es entgegen und leert es in zwei tiefen Zügen. Ich gieße Wasser nach, woraufhin er nur noch einen einzelnen Schluck nimmt und das Gefäß danach in seinen Händen dreht. "Meine Eltern konnten sich die Namen der Frauen, die ich ihnen vorgestellt habe, nie merken", informiert er mich plötzlich.
"Ich dachte, es gibt nur drei Ex-Freundinnen", antworte ich dumpf.
"Es hat sich immer eine für die Feiertage gefunden", gesteht er. "Im Dezember habe ich oft eine nur zu dem Zweck länger an mich gebunden."
Rasch stehle ich das Glas aus seiner Hand und trinke es selbst aus. Jetzt ist mir auch total schlecht.
"Du sollst nicht Teil dieser Reihe namenloser Frauen sein, verstehst du?", setzt er nach.
"Hat das was mit deinem Kontrolltick zu tun, dass du nie allein zu solchen Familienfesten gehen konntest?", spekuliere ich.
"Wahrscheinlich", nickt er und atmet tief durch. "Wenn du möchtest, dann besuchen wir meine Eltern zu Silvester."
Er streicht mir eine verirrte Locke aus dem Gesicht. "Danke für das Zugeständnis", murmle ich.
"Liebst du mich noch?", fragt er und ich muss unwillkürlich schmunzeln.
"Dasselbe hat Vovô immer Vovó gefragt", sage ich leise.
"'Tschuldige, wer hat wen gefragt?"
"Mein Opa hat meine Oma jeden Morgen gefragt, ob sie ihn noch liebt", erläutere ich.
"Was hat sie ihm geantwortet?"
"Sim. Claro que sim, gato."

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