Zwischen Furcht und Hoffnung nur das Maß

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

"Bruder." Tua spricht beschwörend zu seinem Telefon, das er auf dem Schreibtisch abgelegt hat, als ich sein Kinderzimmer betrete und perplex in der Tür stehenbleibe. Nicht nur, dass mein Freund halbnackt vor mir steht, nein. Ich höre auch Momo aus dem Handylautsprecher auf ihn einreden.
"- wissen nicht genau, wann sie ihn das nächste Mal rauslassen können -"
"Bruder", wiederholt Tua lauter. "Iara ist hier, wir klären das nachher."
"Was?", forme ich stumm mit den Lippen.
"Hannes", antwortet Tua wortkarg und zieht sich ein T-Shirt über den Kopf.
"Hey Iara", tönt Momos Stimme vom Schreibtisch zu mir rüber.
"Hi", antworte ich. "Tut mir leid, ich wollte euch nicht unterbrechen", sage ich und sehe dabei Tua an, der meinen Blick erwidert und den Kopf schüttelt.
"Was ist? Unten alles okay?", fragt er.
"Ja", kann ich ihn beruhigen, woraufhin seine Gesichtszüge etwas weicher werden. "Hast du mit Jenn gesprochen?", deute ich in Richtung Telefon. Tua schließt die Augen und atmet tief durch.
"Ja, hab ich. Du solltest Tarik anrufen, er hat dir was zu erzählen." Ich ziehe eine Braue hoch, Tua verdreht die Augen. "Mach einfach", fordert er mich auf und will mich mit einer unwirschen Handbewegung aus dem Zimmer scheuchen.
"Ey", räuspert sich Momo am anderen Ende der Leitung plötzlich streng. "Rede nicht so mit deiner Frau."
Von meinem Herzen ausgehend breitet sich eine Wärme in meinem gesamten Körper aus, die die Polkappen zum Schmelzen bringen könnte, als Momo mich verteidigt. Wir kennen einander kaum, aber das macht ihn mir endgültig schrecklich sympathisch. Innerlich verdrücke ich ein kleines Tränchen, nach außen hin nicke ich bloß kühl zu seinen Worten und schaue ernst zu Tua auf. Dessen schlechtes Gewissen meldet sich jetzt offenbar endlich aus den Tiefen seiner geschundenen Seele zurück, nachdem er es unter tausend Tonnen voreiliger Trauer begraben hat. Ein schuldbewusster Ausdruck legt sich in seine Miene.
"Entschuldige", murmelt er reumütig. Ich schließe die Lücke zwischen uns und küsse ihn, bevor ich mich abwende und mit meinem Handy wieder nach unten verschwinde. Soll er mit Momo reden.
"Iara", hält Ivanka mich an. "Ist alles in Ordnung?" Sie sieht besorgt aus und ich kann es ihr nicht verübeln, immerhin ist ihr Sohn konstant angespannt und begegnet jedem, der ihn anspricht, auf eine grimmige Art und Weise. Es ehrt mich, dass sie mich nach seinem Befinden fragt. Das zeigt mir, dass sie meinem Urteil vertraut.
"Er telefoniert mit einem Freund und ich werde rasch dasselbe tun. Es sei denn, du brauchst meine Hilfe bei irgendwas", schiebe ich schnell hinterher, doch Ivanka schüttelt den Kopf.
"Nein, geh nur." Ich schenke ihr ein Lächeln und will schon in den Garten stürmen, da fahre ich ein zweites Mal zu ihr herum, weil sie erneut meinen Namen genannt hat. "Danke für deine Hilfe mit Kostja", sagt sie. "Du hast das sehr gut gemacht."
"Ich -", stottere ich überrascht. "Dankeschön."
"Geh telefonieren", entlässt sie mich mit einem gnädigen Lächeln auf den Lippen, das ich höflich erwidere.

"Hola, guapa", begrüßt Tarik mich auf Spanisch und ich steige lächelnd darauf ein.
"Dígame." Dialoge wie dieser sind mir vertraut. Tarik hat früher immer hier und da ein paar Fetzen Spanisch mit mir gesprochen, als ich noch zur Schule gegangen bin. Ich erinnere mich daran, wie wir meinen Stoff für die müdliche Abi-Prüfung auf einer Hip-Hop-Party durchgenommen haben, umgeben von Zigarettenqualm und jeder Menge Alkohol.
"Wie geht's dir? Jenn mir gesagt, was los ist", switcht er ins Deutsche zurück und ich seufze.
"Könnte besser sein. Aber Stean hat mir verraten, dass du den Drogen abschwörst. Das ist mein Lichtblick im Moment."
"Ja, ich mach's wie Bastian", bestätigt er. "Hat aber auch 'nen Grund. Über den wollte ich mit dir sprechen."
"Spuck's aus."
"Ich hab Jenn einen Antrag gemacht."
Abrupt bleibe ich stehen, statt weiter in meinem imaginären Rasen-Viereck auf und ab zu marschieren.
"Antrag wie in Heiratsantrag?", hake ich nach.
"Sie hat ja gesagt", überspringt er meine Frage einfach und ich spüre, wie sich das Druckgefühl mit meiner Freude für ihn vermischt. Am Ende kommt bloß ein Pansch aus allem Möglichen dabei raus und als hätten sich die zwei wiedersprüchlichen Emotionen gegenseitig ausbalanciert, bringe ich nicht mehr als ein neutral klingendes Wow heraus.
"Das ist wahrscheinlich ein ungünstiger Zeitpunkt, dir das zu erzählen. Innerlich überschlägt sich bei dir bestimmt gerade alles. Aber ich hoffe, du verstehst trotzdem, dass ich einfach nicht länger warten konnte. Ich musste dir das sagen."
Ich beiße mir kurz auf die Zunge, um meinen Frust im Keim zu ersticken. Es ist unangebracht, ich muss Tarik jetzt zeigen, dass er das Richtige getan hat.
"Danke, dass du mir das erzählst", sage ich und umklammere mein Handy ein Stück fester. "Tarik, bitte hör mir genau zu, okay?", setze ich zu der Predigt an, von der ich immer wusste, ich würde sie eines Tages jedem meiner Freunde halten müssen. Tarik ist also der Erste, der diesen Moralhagel von mir abbekommt. "Du heiratest und das macht mich glücklich. Natürlich nicht so glücklich wie dich, aber ich freue mich wirklich wahnsinnig für dich. Und deswegen möchte ich, dass du dein Leben auf keinen Fall in den Sand setzt. Mit Jenn an deiner Seite trägst du noch mehr Verantwortung. Du musst mir versprechen, dass du ein guter Ehemann für sie sein wirst und ich möchte, dass du allem abschwörst, was ihr direkt oder indirekt schaden könnte. Keine Eskapaden mehr."
"Ich habe gestern lange mit Maurice darüber geredet", sagt er. "Er hat sich übrigens bei mir entschuldigt, weil er mich bei der letzten Party im Bunker, wo du auch da warst, einfach hat gewähren lassen. Ihm ist inzwischen klargeworden, dass es mir ernst damit ist, die Finger von dem Zeug zu lassen und dass du dich rückblickend betrachtet mir gegenüber mehr wie eine Freundin verhalten hast als er."
"Das soll er einfach nie wieder machen. Wenn mir einer von euch nochmal vorwirft, ich wollte ihm den Spaß verderben, weil ich euch regelmäßig aus der Scheiße ziehe, während die anderen nur lachend daneben stehen, bin ich mit meiner Geduld am Ende. Ja, ich fahre harte Geschütze auf, aber ich werde mich bestimmt nicht dafür entschuldigen, dass ihr Idioten mir wahnsinnig am Herzen liegt. Nur deshalb tue ich mir das an. Ihr braucht mich, ich weiß, was gut für euch ist."
"In der Hinsicht ja", stimmt Tarik mir zu und ich male mit meiner Schuhspitze ein Unendlichkeitszeichen ins nasse Gras. Ich sollte wohl wirklich keinen Allgemeinanspruch darauf erheben, in jeder Situation die beste Lösung zu kennen und durchzusetzen. "Wie ist es in Reutlingen? Laut Jenn weiß Tua übrigens ganz genau, dass er sich dir gegenüber nicht sonderlich fair verhält zurzeit. Er schämt sich für den Schmerz, den er fühlt."
Ich beiße die Zähne fest zusammen und wische mir über die Augen, in denen sich neue Tränen sammeln.
"Sowas Ähnliches habe ich mir schon gedacht", gestehe ich. "Tarik, ich hab ein echt schlechtes Gefühl. Ich glaube, es geht wirklich bald mit seinem Vater zu Ende und Tua spürt das genauso unmissverständlich wie ich. Wenn das passiert, wird er allen Halt verlieren. Ich bin nicht ausreichend darauf vorbereitet, für ihn da zu sein, wenn er von der Trauer überspült wird." Eine Pause entsteht, in der ich die Nase hochziehe. "Ich werde zusammen mit ihm in seinem Leid ertrinken, ich kann ihn so nicht sehen. Das macht mich fertig."
"Iara", beschwört Tarik mich leise. "Ich verstehe, dass du Angst hast, aber du wirst das schaffen, okay? Ihr übersteht das, alle beide. Vergiss nie, dass Tua seine Gefühle lange unterdrückt hat und den Dingen, die ihm widerfahren, aufgrund dessen heute schlimmer ausgeliefert ist als jemand wie du. Du hast dir nie verboten, das zu fühlen, was du fühlst. Manchmal erlaubst du dir vielleicht nicht, deine wahren Emotionen zu zeigen, das ist aber nicht dasselbe. Tua hat seine Gefühle komplett in sich weggeschlossen und das ewig als eine Art Notwendigkeit betrachtet. Ich kann das nachvollziehen, er ist auf jeden Fall nicht der einzige, der mir sowas über sich erzählt hat und ich kenne diese Methode mit den eigenen Gefühlen umzugehen auch von mir selbst. Wenn sein Vater stirbt, wird seine Trauer natürlich echt sein - aber du musst durch den Schleier schauen, denn er fühlt vielleicht mehr, als er fühlen muss. Hilf ihm dabei, Maß zu halten."

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro