4. Fundstück

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Wie die Zeit dahinflog, wenn der Verstand gefesselt war! Melinda hockte auf dem Dielenboden in Arndts Arbeitszimmer zwischen aufeinander gestapelten Umzugskartons und blätterte in einem seiner Skizzenbücher. Nur die wenigsten Kartons waren ausgeräumt. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, aus dessen Richtung das gelbe Licht einer Design-Lampe notdürftig den Raum erhellte. Aus der Decke sprossen nackte Kabel. Es roch nach Wandfarbe und frisch aufgebauten Ikea-Regalen, die ihren Platz noch nicht gefunden hatten. Als Melinda nachsah, was sie am Po drückte, hielt sie einen Inbusschlüssel in der Hand, den Arndt hier liegengelassen haben musste. In der Ecke wölbten sich hingeworfene Aufbauanleitungen. Es war klar ersichtlich, viel Zeit hatte Arndt in die Einrichtung dieses Zimmers noch nicht investiert.
Vor dem Haus waren die Brems- und Rutschgeräusche eines Wagens zu hören. Melinda stand auf, schob die Vorhänge ein Stück zur Seite und sah hinunter auf die Straße. Es hatte aufgehört zu schneien. Dafür schienen sich die Schneemassen auf Straße, Gehweg und benachbarten Dächern verdoppelt zu haben. An der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses hingen beeindruckend lange und spitze Eiszapfen. Melinda sah wie Bullerjahn und Arndt aus dem Auto krochen, durch den Schnee auf dem Gehweg stapften und das Haus betraten. Schuhe wurden abgetreten, ein kurzer Wortwechsel, Scherze über das Wetter, Schnaufen auf der Treppe.

Kurz darauf ging die Wohnungstür, doch da lag Melinda bereits wieder unter ihren Decken, in der Hand ein weiteres Skizzenbuch ihres Kollegen, das sie noch nicht durchgesehen hatte. Sie ahnte, dass Arndt es nicht gutheißen, sie wahrscheinlich zurechtweisen würde, doch er hatte seine Chance gehabt, seit Wochen schon. Eine Melinda Sieben ließ sich nicht vertrösten. Früher oder später nahm sie sich, was sie wollte. Egal wann, wo und von wem. Sie konnte nichts dafür. So war sie nun einmal gestrickt. Sich die Butter vom Brot nehmen lassen? Kam nicht infrage.

Arndts Zeichnungen lösten etwas in ihr aus, sie konnte unmöglich davon lassen. Wo Arndt nur düsteres Gekritzel sah, das ihn unzufrieden und mürrisch werden ließ, erkannte Melinda Formen, Gesichter, Gegenstände. Sie sprachen zu ihr, zeigten ihr unbekannte Welten und wie die umständlich und rätselhaft verknoteten Bauteile des Universums miteinander verbunden waren. Zumindest glaubte sie das und redete es sich ein. Und das war mindestens so schön, als wenn ihr jemand die Wahrheit in ihrer ganzen Kopflastigkeit und Kälte präsentierte, von der sie im Übrigen annahm, dass sie gar nicht existierte. Die Wahrheit über Arndts und ihre eigenen Fähigkeiten würde wohl für immer ein nie ganz gelöstes Rätsel bleiben, das hatte sie im Inneren der Heidehöhle trotz aller Erleuchtungen schmerzhaft erkennen müssen. Ob es Arndt genauso ging? Beschäftigte ihn die Tatsache auch so sehr, dass sie aus der Gefangenschaft in Freislers Waldhütte mehr zurückbehalten hatten als Traumata und Angststörungen? Arndts Gabe, vergangene Geschehnisse beinahe hellseherisch zu erspüren und sie in wilden Zeichnungen zu bannen. Das war doch pure Zauberei. Melindas Fähigkeit Tiersprache wahrzunehmen, ohne sie zu hören, Bilder und Geräusche aus vergangenen Zeitschichten zu erspüren und lieb gewonnene Seelen in sich aufzunehmen, wie die Seele ihres Vaters und die ihres Hundes Zippo. Reine Magie. Diese Gaben bereiteten ihr weniger Angst als sie es vielleicht sollten, dachte Melinda. Was womöglich daran lag, dass sie so zufällig, so unkontrolliert auftraten und ihre Wirkung entfalteten und weder Arndt noch sie selbst sie zu bändigen und zu kanalisieren vermochten. Aber wollten sie das überhaupt? Wollten sie nicht einfach nur fleißig arbeitende und gut kombinierende Ermittler sein, die nichts weiter benötigten, als ihren messerscharfen Verstand? Der erste Schritt in diese Richtung war für Melinda wohl weniger die Zähmung mysteriöser Begabungen, als vielmehr der Abschied ihrer heiß und innig geliebten Rauschmittel. Lüstern schielte sie zu der braunen Glasflasche mit Hustensaft hinüber. Arndt hatte sie ihr heute Morgen gebracht. Eine verstaubte Kartonverpackung voller klebriger Fingerabdrücke. Es wäre ein leichtes gewesen, herauszufinden, wer sie im Badezimmerschränkchen hatte vergammeln lassen. Das Haltbarkeitsdatum war seit einem Vierteljahr abgelaufen. Egal. Melinda hatte die Flasche bereits zur Hälfte geleert. Das Zeug schmeckte nach mehr.
Sie schob das Skizzenbuch tief unter das Kopfkissen. Die Tür öffnete sich und Arndt steckte den Kopf zu ihr hinein. »Bin wieder da. Wie geht es dir?«
Melinda tat so, als würde sie sich aus einem fiebrigen Traum kämpfen. Sie klimperte mit den Lidern, warf sich von einer Seite zur anderen, zog die Beine an den Körper, streckte sie wieder und schleuderte dabei eine ihrer Decken vom Bett. Arndt eilte zu ihr und setzte sich auf die Matratze.
»Schauspielerin!«
Melinda dreht ihm den wackeligen Kopf zu, vergaß auch nicht etwas Spucke aus dem Mundwinkel laufen zu lassen und öffnete die Augen.
»Wie? Was? Oh, Arndt! Wie schön ...«
»Du hast das Licht brennen lassen.«
»Das was ...?«
»Das Licht. In meinem Arbeitszimmer.«
Melinda zog sich an Arndts feuchtem Mantelärmel hoch und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Schlaf ... Ich muss ... Schlaf ... Ich bin wohl im Schlaf ...«
Sie sah ihn an. Er lächelte und sie lächelte zurück.
»Ich hätte sie dir schon noch gezeigt ...«
Melinda drückte ihm einen Kuss auf den Hals.
»Du bist nicht sauer?«
Er nahm ihre blassen Hände in die seinen und küsste sie. Dabei fiel sein Blick auf die Hustensaftflasche.
»Zwei Löffel pro Tag. Nicht zwanzig!«
Melinda kniff die Augen zusammen, als könne sie ohne diese Maßnahme nichts sehen.
»Der Saft ist abgelaufen. Man muss mehr davon nehmen, wenn er wirken soll.«
Lallte sie? Wie peinlich, dachte Melinda. Verdammt nochmal, wieviele Umdrehungen hat das Zeug? Sie spürte heftige Schmerzen im Unterbauch und erinnerte sich wieder an ihre volle Blase. Erstaunlich flink sprang sie aus dem Bett und lief ins Badezimmer.

Als sie zurückkam, saß Arndt bei gedimmtem Licht auf der Wohnzimmercouch und nuckelte an einer Bierflasche. Melinda kuschelte sich neben ihn und zog die karierte Wolldecke über ihre Beine. Die letzten Minuten der Tagesthemen liefen. Ingo Zamperoni beendete gerade den tiefgreifenden Teil der Sendung und kam zum launischen Abschlussbericht über einen eigenbrötlerischen Schatzsucher, der auf der Nordseeinsel Norderney eine Brosche aus der Wikingerzeit gefunden haben wollte. Die Kamera begleitete einen Mann mittleren Alters mit Vollbart und leuchtenden Auge, abgegriffener Wollmütze, Kopfhörern, Allzweckjacke mit tausend Taschen, kniehohen Stiefeln und Metalldetektor in der Hand durch die Dünen. Der Wind riss an seiner Kopfbedeckung, Schneewolken wirbelten durchs Bild. Man sah, er war auf der Jagd. Die Kamera fuhr um ihn herum, zeigte das graue Wintermeer, dann wieder die Dünen mit dahinterliegenden Häusern und einem weit entfernten, nur mit sehr viel Mühe zu erkennenden Wäldchen. Jetzt zeigte das Bild eine schwielige, leicht zitternde Handfläche, in der eine auffällig kunstvoll gearbeitete, kreisrunde Brosche lag. Die raue, sehr norddeutsch gefärbte Stimme des Mannes war zu hören. Er erklärte Aufbau und Form des Schmuckstücks, bei dem es sich seiner festen Überzeugung nach um eine Grabbeigabe aus der Wikingerzeit handelte. Vermutlich siebtes, vielleicht aber auch neuntes Jahrhundert vor Christus. Wo er seinen Fund gemacht hatte, verriet er nicht, nur dass er selbstverständlich Kontakt zum Niedersächsichen Amt für Denkmalpflege aufgenommen hatte und hoffte, dass der Schatz in naher Zukunft einem breiten Publikum präsentiert werden könnte. Ein gescheitelter Mann mit Kassenbrille rutschte ins Bild. Der Untertitel wies ihn als Denkmalpfleger Dietmar Bertram aus.

Melinda griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton aus. Sie schwang sich auf Arndts Schoß. Dann blickte sie ihm tief in die Augen.
»Das nenne ich ein Zeichen!«
»Melinda, was soll das? Du bist krank und gehörst ins Bett!«
Arndt angelte nach der Fernbedienung, wollte den Ton wieder anschalten, doch Melinda hinderte ihn daran.
»Wie der Zufall will, habe ich ein Haus auf Norderney. Und wenn ich mich nicht verrechnet habe, bleibt dir noch eine ganze Woche Urlaub. Lust auf eine gemeinsame Reise?«
Arndt verstand nur Bahnhof und begann erneut, an seiner bereits geleerten Bierflasche zu nuckeln. Melinda gab ihm ein Stück ihrer Decke ab und schaltete den Fernseher aus. Je mehr sie von Frankys Haus und dem Leben an der Nordseeküste erzählte, desto begeisterter zeigte sich Arndt. Kurz nach Mitternacht stand fest, dass sie Silvester auf Norderney verbringen würden. Nur auf die Wahl eines Verkehrsmittels hatten sie sich nicht einigen können. Arndt sprach sich für das Auto aus, Melinda plädierte für die Bahn.

Beim Zähneputzen sprach Melinda Arndt noch einmal auf die Wikingerbrosche an. »Ich weiß ja, dass das ein uraltes Symbol ist, aber ...«
Arndt spuckte weißen Schaum ins Waschbecken und spülte ihn mit Wasser in den Ausguss. »Du meinst die Swastika, das Sonnensymbol auf der Brosche?«
Melinda nickte. »Hat nichts mit den Nazis zu tun. Weiß ich. Trotzdem irgendwie gruselig. Schatzsucher buddelt Hakenkreuzbrosche aus Norderneyer Sand. Crazy shit!«

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