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Ich würde gleich sterben, wie ich geboren wurde. Mein Körper würde in sich zusammenfallen, sich falten und legen, bis nur noch ein Staubkorn übrig bleiben würde. Das gleiche Staubkorn, aus dem ich geboren wurde. Und irgendwann würde ich wiedergeboren werden. Ich würde mich entfalten wie ein Schmetterling. In ganzer Schönheit und Pracht, die mir gewährt war.

Doch bis jetzt durfte ich leben und darüber war ich dankbar. Vielen war das Leben nicht gewährt worden und sie hatten die Prüfung nicht bestanden. Doch ich hatte sie überlebt und war nicht gescheitert. Das war mein erster Gedanke. Der erste wirkliche Gedanken, den ich fassen konnte. Und es fühlte sich grossartig an.

Obwohl ich in nicht endender Dunkelheit schwebte, wo ich keinen Ausgang sah, kein Licht, fühlte ich mich lebendig. Ich spürte, wie mein Körper sich mit der eisigen Luft um mich herum füllte, immer weiter anschwoll, bis er sie wieder freigab. Ich hörte das leise Pumpen meines Herzens und das Pulsieren meiner Pulsader. Ich fühlte das Leben in mir und konnte kaum genug davon kriegen. Ich wollte in dieser Dunkelheit schweben und mich von den Gefühlen des Lebens überrollen lassen.

Mein zweiter Gedanke galt meinen zuckenden Nerven. Ich fragte mich, ob ich mich jemals so lebendig gefühlt hatte, wie in diesem Moment, als meine Nerven anfingen wie wild zu zucken. Es fühlte sich herrlich an. Ich spürte auch den ganzen Schmerz, den das Leben mit sich trug. Doch ich war nicht abgeschreckt. Ganz im Gegenteil. Ich genoss ihn, zog ihn förmlich in mir ein.

Jahrelang war ich in Unwissenheit gebettet gewesen und jetzt würde ich zum ersten Mal während meiner ganzen Existenz aufwachen. Mein Brustkorb schwoll vor Aufregung an und am liebsten hätte ich die Augen aufgerissen, um alles gleich zu sehen, doch ich wusste, dass ich es nicht übereilen durfte. Sonst würde ich beim Start versagen und sterben. Das war der einzige Grund, der mich zurückhielt.

Ich konnte die Umgebung um mich herum wahrnehmen. Wenn auch nicht bildlich. Doch ich hörte die Stimmen, das Rauschen und Knarren. Ich roch den Schmutz, die Erde und die Beeren.

Irgendjemand streifte um mich herum und musterte mich. Sein Blick brannte sich tief in meine Haut, doch ich hatte keine Angst. Ich wusste, dass diese Person nur das Beste für mich wollte. Sie war ausgewählt worden, um mir beizustehen, mich zum Menschen zu machen. Deswegen blieb ich still liegen, schwebte ruhig in der Dunkelheit. Ich fühlte mich geborgen, dadurch, dass ich wahrnahm, was geschah.

Jemand legte seine kalte Hand auf meine Stirn und ich atmete seinen Geruch ein. Er roch nach Herbst. Erstaunlich. Ich hatte bisher nicht gewusst, dass Menschen nach Jahreszeiten riechen konnten oder das Jahreszeiten überhaupt rochen, doch er roch nach dem Laub, das von den Bäumen fiel. Sein Geruch umhüllte mich wie eine feine Decke und raubte mir die Luft. Ich lag steif unter seiner Hand und war benebelt von seinem Duft.

Ich hörte, wie er sich räusperte. Tausend Lichtpunkte tanzten vor mir her. Das erste Mal, dass Licht durch die Dunkelheit drang und mich erreichte. Ich freute mich darüber. Ich war mir sicher, dass ich an meinem baldigen Ziel angekommen war.

Es musste ein Mann sein. Ich konnte seine Silhouette erkennen, als meine Augenlider langsam anfingen zu zucken. Er war grösser und älter als ich. Dabei wusste ich nicht einmal, wie gross oder alt ich war. Doch ich sah es. Er war nervös, lief immer und immer wieder hin und her, beugte sich über mich, strich mir über die Wange und Stirn. Mehr konnte ich nicht erkennen.

„Bist du wach?", hörte ich ihn wispern.

Er hatte eine sehr tiefe Stimme. Sie vibrierte und klang wie ein Raunen. Ich hätte ihm gerne geantwortet, doch dazu war ich noch nicht in der Lage. Stattdessen zuckte meine linke Hand. Er atmete erleichtert aus und griff nach ihr. Seine Hände schienen nicht mehr so kalt, wie auf meiner Stirn.

Ich kehrte wieder in mich zurück, versuchte, mich darauf zu konzentrieren, aufzuwachen. Ich versuchte meinen Körper zu fühlen, wie ein Mensch es tat. Doch er entglitt mir immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, ihn erreichen zu können. Er schlüpfte davon, sobald ich ihm befahl. Er schien ein spassiges Spiel daraus zu machen, versteckte sich vor mir, doch immer so, dass ich das Gefühl hatte, ihn gleich zu finden. Es war ein anstrengendes Spiel.

Der Mann, der meine Hand hielt, drückte sie sanft und holte mich zurück. Ich hatte zwar das Spiel verloren, doch ich hatte noch ihn. Er würde mir helfen. Das hatte ich das Gefühl. Und er enttäuschte mich nicht.

Immer wieder drehte er meinen Kopf hin und her, als wollte er mich wachrütteln. Mein Körper genoss es, endlich wieder einmal in Bewegung zu sein. Langsam schien ich zu erwachen. Ich merkte, wie ich die Kontrolle über meinen Atem zurückgewann, wie ich meine Hände frei bewegen konnte, ohne dass es in einem unkontrollierten Zucken endete. Ich spürte, wie mein Körper sich veränderte und sich mir anpasste. Ich konnte schlucken, den Mund leicht öffnen, die Lider zucken lassen. Es war die reinste Faszination.

Auch der Mann schien bemerkt zu haben, dass ich einigermassen bei Bewusstsein war. Erschrocken liess er von mir ab und überliess mich meinem Körper. Ich fing an, ihn zu erforschen. Ich wollte jede Ecke dieses Körpers kennenlernen. Ich wollte wissen, wer ich bin. Was aus mir geworden war.

Ich fühlte mich wohl in ihm. Ich wollte ihn nie wieder ausziehen und eintauschen. Noch nie hatte ich mich so menschlich gefühlt. Auch wenn ich einst gemeint hatte, erahnen zu können, was es bedeutete Menschlich zu sein, merkte ich jetzt, dass ich es nicht annähernd hätte erträumen können. Ich beschloss, dass ich für immer ein Mensch bleiben wollte.

„Kannst du mich hören?", riss der Mann mich leise aus meiner Erforschung.

Langsam fing ich an zu blinzeln. Ich wusste, dass ich meine Augen nicht zu schnell öffnen durfte. Das grelle Licht machte es mir schwer, die Augen ruckartig zu öffnen. Nach einigen Versuchen schaffte ich es schliesslich. Die ganze Landschaft war in unerträgliches Weiss getränkt und auf einmal überrollten mich die ganzen Geräusche wie eine tosende Welle. Mein Instinkt war es, die Hände auf die Ohren zu drücken und die Augen so schnell wie möglich wieder zuzukneifen.

Der Mann bewegte sich nicht, sondern starrte mich einfach nur an. Irgendwann legte sich der Lärm und ich nahm vorsichtig die Hände von meinen Ohren. Meine Augen öffneten sich langsam und dieses Mal war die Landschaft um mich herum nicht weiss. Ich lag auf dem Rücken im Gras und starrte in den Himmel.

Ich brauchte einen Moment, um wirklich glauben zu können, dass ich lebte. Es war erstaunlich und unrealistisch. Ich blickte regungslos in den hellblauen Himmel, an dem die Wolken vorbeizogen und Vögel kreisten. Ich schluckte und senkte den Blick.

Um mich herum wuchs das giftgrüne Gras hoch und fühlte sich weich und sanft unter mir an. Nicht weit von mir entfernt stand ein grosser Baum, denn ich als Kiefer ausmachte. Ganz in der Nähe gab es einen Maulwurfshügel und Schilf. Ein unfassbares Glücksgefühl durchströmte mich und ich versuchte mich aufzurichten.

Das war schwer. Ich gab mir Mühe mich mit meinen Händen hinter dem Rücken abzustützen, doch ich knickte immer wieder ein. Mein Körper hatte noch nicht genügend Kraft dafür. Je länger ich es versuchte, umso anstrengender wurde es. Schliesslich liess ich mich kraftlos nach hinten sinken und starrte weiter in den Himmel, ohne auch nur einmal den Mann zu Gesicht zu bekommen, der zu meinen Füssen sass.

Ich hörte ihn schwer atmen.

„Wer bist du?" Er klang unsicher und die Frage kam zögerlich.

Ich hatte meine Sprache noch nicht gefunden. Und ich suchte nach meinem Namen. Ich wusste, ich hatte einen, doch ich hatte vergessen welchen. Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, doch da klaffte eine Lücke. Man hatte mir einst einen Namen gegeben, ich war mir sicher. Doch da ich ihn nicht wusste, schwieg ich. Ich machte nicht noch einmal den Versuch, mich aufzurichten.

Der Mann richtete sich auf und kam näher. Indem ich leicht schielte, konnte ich seinen Schatten erkennen. Er setzte sich neben mir, jedoch mit genügend Abstand. Langsam neigte ich den Kopf zur Seite.

Er war nicht so alt, wie ich gedacht hatte. Er hatte wie ein älterer Mann gewirkt, doch er konnte nur drei Jahre älter sein als ich. Mit der Grösse hatte ich jedoch Recht. Er war ein Ries. Er hatte ein markantes Gesicht und wirkte nicht besonders freundlich. Seine Gesichtszüge waren hart und eingemeisselt. Seinen Mund hatte er bitter verzogen und nur in seinen dunklen Augen konnte ich die Unsicherheit ausmachen. Er zog seine schmalen Augenbrauen fragend zusammen und strich seine schwarzen Haare aus der Stirn.

Sein Duft schwebte zu mir und ich drehte mich wieder Richtung Himmel. Dieser Anblick erschien mir lieber.

„Kannst du nicht sprechen?", fragte der Mann.

Ich bewegte vorsichtig meine Zunge, bevor ich mich räusperte. Tatsächlich kam ein kläglicher Ton aus meinem Mund. Glück überkam mich. So sanft wie möglich drehte ich den Kopf wieder zu ihm um.

Meine Stimme war kratzig und leise. „Hilf mir, mich aufzusetzen."

Er verzog den Mund und musterte mich genauer, bevor er den Kopf schüttelte. Ich räusperte mich ein zweites Mal und wollte noch etwas sagen, doch er kam mir zuvor.

„Ich habe keine Ahnung, wer du bist. Wenn du mir diese Frage beantwortest, helfe ich dir."

Ich erinnerte mich. Menschen waren auch unfreundliche Wesen. Sie waren oft egoistisch und hinterhältig. Sie töteten sich gegenseitig und hintergingen einander, um einen Vorteil zu haben, denn sie waren einfachgestrickte Wesen. Und doch fand ich sie interessant.

„Na, kommt noch was?", fragte er ungeduldig.

Ich räusperte mich, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. „Maureen", murmelte ich.

Er runzelte die Stirn und sah mich eindringlich an. „Maureen?", wiederholte er langsam.

Ich nickte leicht. Er richtete sich auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Dann griff er nach meinen Händen und bevor ich mich versah, sass ich aufrecht im Gras. Endlich konnte ich meine Umgebung wirklich wahrnehmen. Ich sass auf einer Lichtung mitten im Wald. Die Lichtung war gross. Es wuchsen Wildblumen, Bienen schwirrten herum und ich entdeckte dort, wo das Schilf wuchs, einen kleinen See. Es war schon fast ein Tümpel. Auf der schmutzigen Oberfläche trieben Seerosen und Frösche quackten. Es war der Augenblick, in dem ich begriff, dass ich im Paradies angelangt war. Ein zartes Lächeln legte sich auf meine Lippen. Erst fühlte es sich befremdend an, doch je länger ich lächelte, umso sicherer war ich mir, dass es zu mir gehörte.

Der Mann hatte sich aufgerichtet und stand in leichter Entfernung, angelehnt an einer Fichte. Ihre Rinde konnte ich bis hier hin riechen. Es roch nach Wald. Nach Tannen, Fichten und Kastanien. Die Luft trug den süssen Duft von Blumen mit sich und eine kleine Brise wehte. Die Äste der herumstehenden Bäume knarrten. Ich konnte mich nicht genug satt sehen.

Der Mann räusperte sich und riss mich aus meiner kindlichen Begeisterung.

„Maureen." Es klang, als wollte er testen, wie sich mein Namen in seinem Mund anfühlte. „Woher kommst du? Was hast du hier zu suchen?"

Ich blickte an mir herab. Ich trug ein schneeweisses Kleid, das mir hochgerutscht war. Rasch zog ich es wieder über meine Knie und musterte meine Hände. Ich war so fasziniert von mir selbst, dass ich seine Frage fast vergessen hätte.

„Ich weiss es nicht", sagte ich, nachdem ich genug lange meine schlanken Finger angestarrt hatte.

Ich konnte ihm ansehen, dass er mir nicht glaubte, doch er fragte nicht weiter. Stattdessen griff er nach einem Gewehr, dass er ins Gras gelegt hatte. Ich warf ihm einen Blick zu und nahm jeder seiner Bewegungen in mir auf. Er bewegte sich geschmeidig und bedacht. Es wirkte, als sei jede Bewegung eingeübt und sein Körper hätte nicht die geringste Mühe, sie auszuführen. Ich verglich ihn mit einer Raubkatze. Seine Bewegungen hatten die gleiche Anmut und Sanftheit, doch gleichzeitig schien er auf der Lauer und vorbereitet auf alles.

Er wandte sich kein einziges Mal von mir ab, sondern fing an seine Schnürsenkel zu binden, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sein Misstrauen konnte ich förmlich spüren.

„Wie heisst du?", fragte ich schliesslich.

Er richtete sich wieder auf und musterte mich eindringlich, als könnte er abschätzen, ob er mir seinen Namen verraten konnte oder nicht.

„Nathan", sagte er wirsch. „Wieso bist du hier?"

Anstatt zu antworten, zuckte ich mit den Schultern. Er blickte mich an, als könnte er mich so einschätzen. „Und wohin willst du?"

Etwas verwirrt blickte ich ihn an. Vor nur wenigen Minuten hatte ich gedacht, er wäre mein Verbündeter, doch allem Anschein nach hatte ich mich geirrt. Dabei täuschten mich meine Sinne nie. Vielleicht gehörte das aber auch zum Menschsein dazu. Es gab noch vieles, was ich lernen musste.

„Was meinst du?", fragte ich.

Er seufzte, als hätte ich nichts Dümmeres fragen können. „Du liegst hier mitten in meinem Jagdgebiet, weißt nicht, was du hier willst und woher du kommst. Was willst du jetzt machen? Hier liegen bleiben, ist eindeutig keine gute Idee, das kann ich dir schon einmal sagen. Der nächste Jäger würde dich wahrscheinlich erschiessen."

Bei seinen Worten zuckte ich zusammen und schlang die Arme um mich, als könnten sie mich vor dem schützen, was er sagte. Er sah mir spöttisch dabei zu und schüttelte den Kopf. Doch ich musste ihm Recht geben. Ich hatte kein Ziel vor Augen, kein Ort, wo ich hin gehen könnte. Eigentlich wusste ich nur, woher ich kam und dass ich zurück musste irgendwann, aber mehr war da nicht.

Als er irgendwann merkte, dass ausser meinem eisernen Schweigen nichts mehr kommen würde, kratzte er sich am Kopf und ging vor mir in die Knie. Dabei achtete er gut darauf, dass das Gewehr ja nicht nah genug war, dass ich es greifen hätte können. Weshalb ich das hätte tun sollen, war mir unklar, doch es schien ihm wichtig.

„Also, Maureen", er sprach meinen Namen aus, als würde er ihm den Mund verbrennen, „wohin willst du jetzt?"

Er redete mit mir, als wäre ich ein kleines Kind. In einem anderen Moment hätte mir das vielleicht etwas ausgemacht, doch jetzt fühlte ich mich mit einmal einfach nur verloren.

„Ich weiss es nicht", murmelte ich und starrte in die Leere vor mir.

Nathan strich sich mit einer Hand stöhnend über das Gesicht und sah mich mit fast schon gequältem Ausdruck an.

„Das ist wohl dein Lieblingssatz."

Wenn ich mich recht entsinne, war es wirklich der meistgesagte Satz, doch ich stimmte ihm nicht zu. Ich glaubte, Verzweiflung wegen meiner Verlorenheit in seinen Augen zu erkennen. Er atmete tief ein und liess sein Blick forschend über mein Gesicht wandern, als könnte er so meine Gedanken lesen. Das gab er schliesslich stark seufzend auf.

„Also, wo soll ich dich absetzen?", fragte er.

Mit grossen Augen starrte ich ihn an. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich glücklich aufnahm, jedenfalls nicht, nachdem ich meine Augen geöffnet hatte, doch dass er mich einfach mir selbst überlassen wollte, erschreckte mich. Ich hatte Angst, ganz alleine in diese grosse Welt geschmissen zu werden, die ich noch nie zuvor betreten hatte.

„Du willst mich aussetzen?", wisperte ich und er musste wohl die Angst in meinen Augen gesehen haben, denn er schüttelte hastig den Kopf.

„So war das nicht gemeint. Aber ich kann dich nicht zu mir nehmen und irgendwohin musst du ja gehören. Du kannst nicht einfach aus dem Nichts hier auftauchen und nirgendwohin hören."

Ich verzog das Gesicht und schluckte hart. „Bitte setz mich nicht aus."

Er rang verzweifelt mit den Armen, wobei ihm das Gewehr von der Schulter rutschte, das er jedoch schnell wieder aufhob.

„Ich setze dich nicht aus", widersprach er mir. „Ich bringe dich dorthin, wo du hingehörst, und dann gehe ich nach Hause."

Die Menschen waren hilfsbereit, dachte ich. Jedoch nicht so sehr, dass sie mich bei sich haben wollten. Auf einmal wusste ich nicht recht, ob ich wirklich hier sein wollte. Es war das erste Mal, dass ich zweifelte, ob ich ein Mensch sein wollte.

„Ich weiss aber nicht, wohin ich gehöre", gestand ich murmelnd.

Ich sah Nathan an, dass er nicht recht wusste, was er darauf antworten sollte. Schliesslich stand er auf und warf sich das Gewehr über die Schulter. Er reichte mir die freie Hand und, als ich sie ergriff, zog er mich mit einem zögerlichen Ruck vom Boden hoch. Jetzt, wo ich neben ihm stand, war er gar nicht mehr so gross. Er war noch immer einen Kopf grösser als ich, doch es wirkte längst nicht so gross, wie vom Boden aus.

Fragend sah ich ihn an und er fuhr sich seufzend durch die Haare, nachdem er seine Hand zurückgezogen hatte, als hätte er sich verbrannt. Er wirkte ähnlich verloren wie ich und das beruhigte mich kein bisschen.

„Wir sollten einfach mal Richtung Dorf laufen. Auf dem Weg können wir überlegen, was wir machen", schlug er nach langem Schweigen vor.

Mein Herz machte einen kleinen Satz. Vielleicht würde er mich doch nicht einfach aussetzen. Ich stapfte hinter ihm her und meine nackten Füsse fühlten sich herrlich an auf der nassen Erde. Es musste vor kurzem geregnet haben, denn die Erde war feucht und an den Grashalmen klebte die Feuchtigkeit wie ein Tuch. Ich hatte das Gefühl, die ganze Welt unter meinen Füssen zu spüren, und als wir am Waldrand ankamen, schritt ich ehrfürchtig über die erste Wurzel der Tanne. Das Laufen war viel einfacher, als ich gedacht hatte. Und es fühlte sich so befreiend an.

Nathan lief vor mir her und führte mich immer tiefer in den Wald. Irgendwann waren wir nur noch von Baumstämmen umzingelt und, wenn ich zurückblickte, konnte ich die Lichtung nicht mehr sehen. Überall standen hohe Bäume, deren Wurzeln aus dem Boden ragten und von Moos bedeckt waren. Die Sonnenstrahlen wurden von den Baumkronen gebrochen und ein leichter Nebel zog sich durch die Tannen und Fichten. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen und in den Gebüschen krabbelte und raschelte es. Meine Füsse waren voller Erde und Moos.

„Wohin gehen wir?", fragte ich irgendwann, als ich mich einigermassen voll gesehen hatte.

Nathan drehte sich nicht zu mir um, noch reduzierte er sein Tempo. Er lief in den gleichen eiligen Schritten voran und nahm kaum Rücksicht auf mich, obwohl ich mir ganz sicher war, dass ihm keiner meiner Bewegungen entgingen. Ich hastete ihm hinterher, bis ich schliesslich neben ihm her lief.

„Ins Dorf", sagte er wortkarg.

Ich versuchte mir ein Bild von ihm machen. Doch bisher gab es nur sein Aussehen, seine distanzierte Art und seinen Namen. Er schien auch nicht sonderlich daran interessiert, das Bild zu erweitern. Trotz seiner deutlichen Abneigung Gesprächen gegenüber, sprach ich weiter.

„Wo ist das?"

„Im Süden."

„Wohnst du dort?"

„Ja."

„Ist es schön?"

Nathan atmete genervt aus. „Ist es. Hör auf, Fragen zu stellen. Lauf lieber und sieh zu, dass du nicht plötzlich umkippst."

Verwirrt sah ich ihn von der Seite an. Er beschleunigte seine Schritte und ich musste fast neben ihm her rennen, um sein Tempo halten zu können.

„Wieso sollte ich umfallen?"

Dieses Mal drehte er den Kopf zu mir und ich sah, dass ich ihm wohl grausam auf die Nerven ging. Wir waren noch nicht einmal fünf Minuten gelaufen und schon fragte ich Fragen über Fragen. Bei seinem Blick zog ich vorsichtig den Kopf ein.

„Hör auf, zu fragen", war seine Antwort und ich schwieg.

Einige Minuten liefen wir schweigend neben einander her. Ich wagte immer wieder einen vorsichtigen Blick zur Seite zu werfen, um zu schauen, ob er noch genervt war. Nur war es sehr schwer abzuschätzen, denn er hatte durchgehend den gleichen verschlossenen Gesichtsausdruck. Beim Mustern seines Gesichts fiel mir auf, dass er eine Stupsnase hatte und viele kleine Sommersprossen, die sie darum verteilten. Das war mir davor noch gar nicht aufgefallen. Sie passten nicht zu seinem dunklen Typ. Eigentlich hatten bloss Blonde und Rothaarige Sommersprossen. Das war jedenfalls das, was ich über Menschen wusste.

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich jetzt selbst ein Mensch war. Ich sollte aufhören, von Menschen zu sprechen, wenn ich selbst einer war. Das nahm ich mir für die Zukunft vor mit dem Wissen, dass ich es innerhalb weniger Minuten wieder zunichte machen würde.

Nathan schien bemerkt zu haben, dass ich sein Gesicht anstarrte, und er blieb abrupt stehen. Das realisierte ich jedoch etwas zu spät und lief einige Schritte weiter, bis es mir auffiel. Langsam drehte ich mich um und Nathan musterte mich von oben bis unten mit einem eindringlichem Blick, in dem so viel Verärgerung steckte, dass ich mich nicht einmal wirklich getraute, laut zu atmen.

„Meinst du, es ist eine bessere Idee, mich anzustarren, anstatt zu fragen?", fragte er.

Ich zuckte vorsichtig mit den Schultern, doch er liess erst gar nicht zu, dass ich was sagte. Er redete einfach weiter. „Was ist?"

„Wie alt bist du?", platzte es aus mir, obwohl das nicht einmal mein Gedanke war.

Verblüfft starrte er mich an, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. „Deswegen starrst du mich seit gefühlten zehn Minuten an?"

„Ich würde gerne mehr über dich erfahren."

Er zog die Schultern an und lief an mir vorbei. Ich lief ihm eilig hinterher und stolperte dabei beinahe über eine herausstehende Wurzel. Der Geruch des nassen Holzes war betörend.

„Du brauchst nichts über mich zu wissen, denn wir werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen", sagte er grob und sah mich dabei nicht einmal an.

Ich stolperte weiter neben ihm her, weil er sein Tempo verdoppelt hatte und ich kaum nachkam. „Wieso?"

Ich musste ihm wirklich grausam auf die Nerven gehen, denn er antwortete mir nicht einmal mehr. Also hastete ich neben ihm her, darauf konzentriert, nicht noch einmal über eine Wurzel zu stolpern. Eigentlich hatte ich gedacht, alle Eindrücke würden mich überrollen und sich nicht sortieren lassen. Doch ich konnte jeden Geruch vom Anderen trennen, die Geräusche zuordnen und hatte den Orientierungssinn noch nicht verloren. Ich wusste, woher wir gekommen waren und in welche Richtung wir liefen. Ich war begeistert von meinem Körper.

Nathan blickte stier nach vorne und sprang einiges eleganter als ich über einen umgefallenen Baum. An der Rinde haftete Moos und ich sah eine Ameisestrasse. Die Ameisen trugen giftgrüne grosse Blätter auf ihrem Rücken und flüchteten hektisch, als ich stehen blieb, um sie mit dem Finger zu berühren. Auch Nathan hatte mein plötzliches Halten bemerkt und blieb ebenfalls stehen. Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren, weshalb ich mich schnell wieder umdrehte und weiterlief.

Ohne etwas zu sagen, gingen wir weiter und liefen immer tiefer in den Wald, der kein Ende finden wollte. Mein weisses Kleid war am Saum schon schmutzig und ich betastete sanft mein Gesicht. Voller Faszination fühlte ich meine Nase, die sich unter meinen Fingern spitz anfühlte. Meine Haut war weich und rein.

Den ganzen restlichen Weg, bis wir zum Waldrand kamen, verbrachten wir mit Schweigen. Ich hatte mein Gesicht zu genügend betastet und er hatte mich stets ignoriert. Das Licht am Waldrand war grell und tauchte die ganze Landschaft, die sich vor mir erstreckte, in eine warme Farbe. Wir standen am Rand eines Waldes, der leicht erhöht auf einem Hügel lag, unter uns sah ich ein kleines Dörfchen. Es war nicht besonders gross und formte einen Kessel. Aus den Kaminen stieg Rauch und auf den Weiden und Wiesen grasten Kühe, Schafe und Ziegen. Ich hörte die Kinder bis zu uns. Ein grosser Fluss floss am Dorf vorbei und verlor sich irgendwo am Horizont.

Nathan liess mir einen kurzen Moment, um all diese Eindrücke in mir aufzunehmen, und spielte mit dem Gewehr auf seiner Schulter. Ich war erstaunt, dass auch hier alles so grün und bunt war. Die Farben waren alle samt so schön und greifbar, dass ich einen Augenblick brauchte, um mich von diesem Anblick loszureissen.

„Erkennst du es?", fragte Nathan zögernd.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein", hauchte ich.

Er nickte und plazierte das Gewehr um. Dann lief er den Hügel hinab. Es gab keinen Weg, wir liefen einfach durch das hohe Gras und die ganzen Wildblumen, die blühten. Ich sah Bienen, die sich auf ihnen niederliessen, und Schmetterlinge, die einander hinterher jagten. Die Welt war noch viel schöner, als in meiner Vorstellung.

Nathan lief nicht mehr so schnell, sondern passte sich mir an. Wir kamen kaum vorwärts, so begeistert war ich von dem, was ich zu Gesicht bekam. Meine Augen waren gross und ich sah ihn einmal sogar lächeln, als er die Begeisterung in ihnen aufblitzen sah. Das Lächeln verschwand jedoch schnell, als er bemerkte, dass ich es gesehen hatte. Ein undurchdringlicher Ausdruck legte sich auf seinem Gesicht nieder.

Ich liess mir meine Begeisterung und Faszination nicht nehmen. Schliesslich standen wir am Ende des Hügels und ich drehte mich um, um einen Blick auf den Wald zu werfen. Erst jetzt konnte ich sehen, dass er sich kilometerweit erstreckte. Schon nur der Waldrand zog sich von Hügel zu Hügel und wollte kaum enden.

„Es ist so schön hier", brachte ich heraus.

Nathan zuckte mit den Schultern. „Ja, eigentlich schön", sagte er knapp. „Wir sollten weitergehen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."

Ich drehte mich hastig um. In seinen Augen musste ich mich benehmen wie ein kleines Kind, denn er sprach genauso mit mir. Also sagte ich den restlichen Weg nicht mehr viel, fragte ihn bloss vereinzelt, wo er jetzt eigentlich hin wollte. Auf meine Fragen erhielt ich jedoch keine genaue Antwort, weswegen ich die Fragerei auch irgendwann bleiben liess.

Wir kamen am Dorfrand an und Nathan führte mich auf einem schmalen Weg zwischen den zwei grossen Höfen vorbei. Die Häuser waren alt und das Holz schon dunkel. Manche hatten eine kleine Terrasse, die aber nicht weit auf die Strasse herausreichte. Der Weg war nicht gepflastert, sondern vom vielen Laufen geformt worden. Sobald man den beiden Höfen vorbei gekommen war, wurde der Weg breiter und die Häuser standen nicht mehr so eng bei einander. Erstaunt stellte ich fest, dass das Gras kaum nachliess, sondern bis zu den Hauswänden reichte. Es blühten an den unterschiedlichsten Ecken weisse Gänseblümchen und Sonnenblumen und Rosen schlängelten sich den Hauswänden hoch bis zu den Fenstern. Die Häuser waren allesamt nach aussen gerichtet, so dass die Gärten und Höfe vom Weg aus gar nicht zu sehen waren. Kinder sassen auf den Hausstufen und spielten mit Kieselsteine, die sie wohl beim Bach aufgelesen hatten. Einige hatten Muster aus Steinen, Blätter, Blumen und Hölzchen gelegt und andere spielten Fangen oder Verstecken. Ein Bauer trieb ein Maultier mit einem kleinen Wagen beladen mit Früchten und Gemüse an uns vorbei und zwei Frauen mit Körben unter den Armen unterhielten sich im Schatten eines hervorstehenden Dachs.

Ich konnte meinen Blick kaum von all den Eindrücken lösen. Die Bewohner grüssten Nathan und warfen mir neugierige Blicke zu. Nathan erwiderte die Grüsse, doch seine Stimmung war immer noch distanziert und unterkühlt. Wahrscheinlich war das seine Art, dachte ich.

Irgendwann waren wir auf dem Dorfplatz angekommen, wo fünf Stände aufgebaut waren. Es waren Fremde, die ihre Ware in dem kleinen Dorf feil boten und in wenigen Tagen weiterziehen würden. Wieso ich das wusste, war mir unklar. Doch diese Erkenntnis erschien mir selbstverständlich. Der Dorfplatz war umrundet von fünf Häusern, die in grossem Abstand voneinander standen. Im Schatten der Häuser sassen die Kinder und Erwachsenen, um zu spielen oder sich zu unterhalten. Eines der Häuser war riesig und als eines der Einzigen im Dorf aus Stein gebaut. Es hatte ein Holzdach und eine Treppe führte hoch zur Tür. Die hölzernen Fensterläden waren geschlossen und es wirkte verlassen. Ein Schild war über der Tür angebracht, doch was darauf stand, konnte ich nicht lesen. Zwischen den Häusern gab es grosse Lücken und Wege, die nach aussen führten. Auf dem Dorfplatz tummelten sich die meisten Menschen. Sie redeten, lachten, kauften exotische Früchte, die sie zuvor noch nie gesehen hatten, Seide aus dem Orient, Holzfiguren aus der Wüste und Glaskunst aus dem Eisland. Es waren so viele Menschen, dass ich sie nicht hätte zählen können. Doch es schienen mir schon beinahe zu viele für dieses kleine Dorf.

Nathan stürzte sich mitten in das Getümmel hinein und ich beeilte mich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er wurde wieder von allen Seiten gegrüsst. Dieses Mal bekam ich nicht so viele neugierige Blicke ab, denn man ging davon aus, dass ich zu den fremden Händlern gehörte. Das war mir eindeutig lieber.

Nachdem wir fast die Hälfte des Dorfplatzes überquert hatten, steuerte Nathan geradewegs auf eine mollige Frau in einem verblasstem rosa Kleid zu, das sehr abgenützt aussah. Sie unterhielt sich gerade mit einem Händler, dessen schneeweissen Zähne im Sonnenlicht aufblitzten und dessen schwarzen Augen funkelten. Seine Haut war dunkel und er trug einen nachtblauen Turban. Er hielt der rotbäckigen Frau eine graue Seide entgegen. Die Frau war sehr klein und hatte ihre strohblonden Haare unter einem roten Tuch versteckt, doch eine Strähne hing heraus. Sie hatte einen geflochtenen Korb bei sich, der prall gefüllt war mit jeglichen Früchten, Fleisch, Gemüse und Käse. Einzelne Holzfiguren ragten heraus und ich erkannte sogar eine kleine Glasskulptur.

Nathan klopfte ihr ungehalten auf die Schulter und die Frau drehte sich um. Ihre Augen hatte sie zusammengekniffen, doch als sie ihn sah, hellte sich ihr Gesicht auf. Der Händler hörte auf, auf sie einzureden, und wandte sich einem weiteren Kunden zu, als er bemerkte, dass sie ihm nicht gleich wieder ihre Aufmerksamkeit schenken würde.

Sie erinnerte mich an eine typische Grossmutter, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie das Alter noch längst nicht erreicht hatte. Sie konnte erst vierzig Jahr alt sein. Trotzdem strahlte sie etwas Älteres aus, das ich nicht einordnen konnte.

„Nathan, mein kleiner Engel", rief sie aus und nahm ihn in den Arm.

Nathan sah aus, als würde er sich am liebsten aus dieser Umarmung herauswinden, doch er liess es klaglos, jedoch nicht ohne leicht das Gesicht zu verziehen, über sich ergehen. Ich stand leicht betreten daneben und wusste nicht, wohin mit meinen Armen. Sie liess ihn wieder los.

„Was führt dich denn auf den Markt?", fragte sie und sah ihn tadelnd an. „Du hast doch nicht wieder irgendetwas ausgefressen."

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich sah, wie eine sanfte Röte seine Wangen hoch kroch. Er schüttelte den Kopf und warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Die Frau folgte seinem Blick und ihre blauen Augen blieben an mir hängen. Sie schien nicht ganz zu verstehen, was er ihr sagen wollte, denn sie runzelte die Stirn.

„Also, Ina, das ist Maureen", sagte er und spielte an seinem Gewehr herum. „Ich wollte dich bloss fragen, ob sie dir bekannt vorkommt."

Ina musterte mich eingehend, bevor sie schliesslich den Kopf schüttelte. „Mädchen, dich habe ich hier ja noch nie gesehen. Woher kommst du denn? Bist du mit den Händlern unterwegs?"

Sie hatte eine sehr sanfte Stimme. Ich wartete darauf, dass Nathan irgendetwas sagen würde, doch er fühlte sich nicht angesprochen. Also ergriff ich das Wort.

„Nein", sagte ich unsicher. „Ich weiss es nicht."

Erstaunt zog Ina eine Augenbraue hoch und ein leichtes Schmunzeln hatte sich auf ihrem Gesicht niedergelassen.

„Also weißt du nicht woher, du kommst, oder du weißt nicht, ob du mit den Händlern hier bist?"

Jetzt meldete Nathan wieder. Er blicke weder Ina, noch mich an, als er sagte: „Ich habe sie im Wald gefunden."

„Im Wald? Ach, du lieber Gott, was hast du denn im Wald zu suchen, mein Liebes", fragte Ina regelrecht bestürzt.

Es drängelten sich Menschen an uns vorbei. Nathan zuckte mit den Schultern und warf mir einen kurzen Blick zu, als wollte er sicher gehen, dass ich nicht plötzlich in der Menschenmenge untergehen würde.

„Das weiss sie auch nicht", sprach er für mich. „Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe. Ich habe gemeint, sie sei tot."

Ina schüttelte bemitleidend den Kopf und seufzte. „Das ist ja seltsam. Kannst du dich denn wirklich an nichts erinnern?"

Ich überlegte, doch das Einzige, was mir an Wissen geblieben war, dass ich eigentlich kein Mensch war und dass man mich vorbereitet hatte. Ich hatte gewusst, was mich hier erwartete, doch ich hatte vergessen, woher ich gekommen und weswegen ich überhaupt hier war. Jahrtausende war ich in der Dunkelheit gelegen. Und jetzt stand ich hier und wusste nicht, wohin ich gehörte. Wenn ich ehrlich war, war ich wütend darauf, dass man mich nicht auf meine Hilflosigkeit vorbereitet hatte, mit der ich gerade zukämpfen hatte.

„Nein", brach ich heraus.

Nathan sah Ina mit einem Blick an, der deutlich hiess; habe ich doch gesagt. Ina übersah diesen Blick jedoch.

„Kannst du nicht an irgendwelche Namen erinnern?", fragte sie weiter.

Wieder verneinte ich. Ich hatte bloss meinen eigenen Namen im ganzen Strudel Nichts gefunden, doch mehr war da nicht gewesen.

„Du kommst jedenfalls nicht von hier", stellte Nathan fest und legte den Kopf in den Nacken. „Was wohl bedeutet, dass du irgendwo weiter südlich herkommen musst. Das wird ja eine tolle Geschichte. Wie soll ich dich jemals dort zurückbringen?"

„Du musst mich nicht zurückbringen", war das Klügste, was mir in diesem Moment einfiel.

Er warf mir einen ungläubigen Blick zu. „Ach, was soll ich dann mit dir machen?"

Darauf hatte ich keine Antwort. Ina kratzte sich am Kopf und dabei verrutschte ihr Tuch. Schliesslich griff sie in ihren Korb und streckte mir eine Rübe unter die Nase. Zögerlich nahm ich sie entgegen und musterte sie von allen Seiten. An der rötlichen Schale klebte noch Dreck und ich war unsicher, was ich jetzt damit anfangen sollte.

„Iss", sagte sie bloss.

Zögerlich machte ich sie an meinem weissen Kleid sauber, was ich innerhalb weniger Sekunden bereute, als ich die Dreckstreifen sah. Ich biss einen kleinen Bissen ab und kaute nervös darauf herum. Erstaunlicherweise schmeckte es gut. Besser, als ich erwartet hatte. Nathan beobachtete mich dabei mit kühlem Blick und Ina forderte mich auf, weiterzuessen, als ich die Rübe wieder sinken liess.

„Du solltest etwas essen", sagte sie, während ich weiterass. „Wir wissen ja nicht, wie lange du im Wald gelegen bist und nichts gegessen hast."

„Seit gestern Nacht", erwiderte Nathan schlicht.

Ina warf ihm einen Blick zu. „Warst du jagen?"

Er nickte und somit wusste wir schon einmal, seit wann ich dort gelegen hatte. Ich musste mir eingestehen, dass die Rübe echt hervorragend schmeckte. Genüsslich kaute ich auf dem Stück herum.

„Hat man dir etwas angetan?", fragte Ina irgendwann zögerlich.

Erstaunt blickte ich auf, denn ich war sehr vertieft dabei gewesen, zu essen. Ihre Frage verwirrte mich. Wer sollte mir etwas angetan haben, fragte ich mich.

Ich schüttelte zögerlich den Kopf.

„Sie hat keine Verletzungen, soweit ich das gesehen habe", sagte Nathan.

„Seltsam", murmelte Ina. „Was sollen wir jetzt mit dir machen?"

Das Gewehr auf seiner Schulter wurde wohl langsam schwer, denn er nahm es herunter und lehnte es vorsichtig gegen sein Bein, bevor er die Arme vor der Brust verschränkte.

„Das ist eine hervorragende Frage", meinte er.

Ich fühlte mich seltsam. Irgendwie schuldig, weil ich ihnen keine Antwort auf die Frage geben konnte. Stattdessen starrte ich auf meine nackten Füsse, an denen Gras und Dreck hing. Ina und Nathan schien mittlerweile begreift zu haben, dass von mir nicht besonders viel Aufschluss- oder Hilfsreichendes kommen würden, weshalb Ina schliesslich das Wort ergriff.

„Wir können dich nicht einfach so auf die Strasse werfen", stellte sie fest und ich war gerührt, dass sie sich mit verantwortlich fühlte. „Zu mir kannst du nicht kommen, denn mein Sohn ist mit seiner Familie auf Besuch und ich habe kein Zimmer für dich frei."

Nathan, der anscheinend schon vor mir begriffen hatte, auf was das Ganze hinauslief, riss die Augen und schüttelte wild mit dem Kopf.

„Auf keinen Fall", stöhnte er auf. „Ina, das meinst du doch nicht ernst."

Sie zuckte bloss mit den Schultern. „Du hast niemanden bei dir zuhause und ein Zimmer hast du sowieso immer leer stehen. Da kannst sie wohl für ein paar Tage aufnehmen, bis wir herausgefunden haben, wohin sie gehört."

„Sie ist eine Wildfremde", murrte er.

Da musste ich ihm recht geben. Er wusste nicht das Geringste über mich, doch wir mussten gerecht bleiben. Ich wusste genauso wenig über ihn. Ina seufzte.

„Jetzt stell dich nicht so an, Nathaniel", erwiderte sie und Nathan zuckte bei seinem ganzen Name leicht zusammen. „Morgen sehen wir weiter. Ich meine, sie kann nirgendwo sonst schlafen."

Nathan sagte nichts mehr, sondern starrte nur mit finsterem Blick Löcher in die Luft. Ina wandte sich mit einem aufmunternden Lächeln zu mir. In ihren Augen lag Güte und Herzlichkeit.

„Nimm dir seine Art nicht zu Herzen, Schätzchen", sagte sie, als wäre Nathan nicht anwesend. „Er kann ziemlich zynisch sein, aber er ist ein wirklich netter Junge."

Ich sah kurz zu Nathan, der verärgert das Gesicht verzog und die Nase rümpfte. Ina raffte ihr Kleid und warf einen Blick über ihre Schulter, um sicherzustellen, dass ihre Seide noch da war.

„So, jetzt muss ich hier weiter verhandeln. Schaut doch morgen bei mir vorbei." Mit diesen Worten drehte sie sich um und der orientalische Händler fing wieder an, auf sie einzureden.

Nathan starrte sie mit verbittertem Blick an, bevor er das Gewehr wieder hochhob und es sich auf die Schultern legte. Er sah mich nicht einmal an, als er auf der Stelle kehrte und wieder in die Richtung ging, aus der wir erst gerade gekommen waren. Inas Vorschlag schien ihn nicht besonders zu begeistern.

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