17 - Herbst

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Nachdem die Reiter im Wald verschwunden waren, bat Richard Aveline, ihm auf dem Feld auszuhelfen. Hjalmar erwartete, dass bei seiner Rückkehr der Acker gepflügt war, damit sie Karotten für den Winter anbauen konnten.

Aveline versuchte, Richard weiszumachen, dass sie noch dringend in den Wald müsse, um für Salka ein paar Kräuter zu sammeln, aber er liess keine Ausrede gelten. Die Arbeit auf dem Feld konnte nicht warten.

Widerwillig half sie ihm beim Anschieben des Ochsen. Sie hielt das Biest mit einem Seil in Schach. Der Pflug, den Richard stiess, grub sich tief in die Erde. 

„Wann kehren sie zurück?", wollte sie wissen.

Sie war mit ihrem Kopf nicht bei der Arbeit. Schon zum zehnten Mal hob sie den Blick und starrte zum Waldrand. Sehnsuchtsvoll. Ungeduldig.

Ihre Freiheit wartete dort auf sie und es trieb sie schier in den Wahnsinn, dass sie nicht einfach losmarschieren konnte. Dass sie mit den Füssen tief im nassen Acker steckte und diese körperlich anstrengende Arbeit erbringen musste. Sie wünschte sich, dass sie Richard davon erzählen könnte. Dass er sie gehen lassen würde ...

„Morgen oder übermorgen sind sie zurück", erhielt sie die Antwort.

Aveline löste den Blick von ihrer Freiheit, die hinter den Baumkronen lauerte. „Was, schon?" Sie hatte damit gerechnet, dass die Wikinger mindestens zwei ganze Tage weg sein würden.

Richard keuchte, als er den Pflug anstiess, dieser sich aber nur mühsam durch die schwere Erde schieben liess. Er schien nichts von ihrer Erschütterung gemerkt zu haben.

„Bis nach Thisted ist es nur ein halber Tagesritt." Er presste die Zähne fest aufeinander, während er weiterhin versuchte, den Pflug aus der lehmigen Erde zu hieven. „Heute Nachmittag beginnt der erste Teil des Things. Morgen werden die Entscheide getroffen und beschlossen. Wenn es schnell geht, sind sie morgen Abend schon wieder zuhause. Oder dann spätestens übermorgen." Der Ochse setzte sich endlich in Bewegung, sodass sich der Pflug löste. Richard stöhnte erleichtert auf. „Warum?

Aveline führte den Ochsen am Seil durch den Acker. „Ach, nur so", versuchte sie möglichst beiläufig zu sagen.

Richard musterte sie von der Seite. Sie schwieg jedoch eisern, während in ihrem Kopf die Gedanken rasten. Wenn Rurik und Hjalmar am nächsten Tag bereits zurückkehren würden, dann bedeutete das für sie, dass sie heute oder spätestens am nächsten Morgen in der Früh los musste. 

„Warum willst du das wissen, Aveline?", wiederholte Richard seine Frage. Sie spürte, wie er sie fragend taxierte. Ob er ihre Unruhe bemerkt hatte?

„Ach", sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich mache mir nur Sorgen, dass die Männer die Geburt verpassen könnten." Eine Halbwahrheit. Die Geburt stand tatsächlich bald vor der Tür, doch rechnete Aveline nicht damit, dass sie in den nächsten Tagen beginnen würde. „Das wäre doch wirklich schade", fügte sie hinzu und lächelte Richard an. Sie hoffte inständig, dass er ihr die Lüge abnehmen würde.

Zu ihrer Erleichterung nickte er.

„Die werden schneller wieder da sein, als dir lieb ist", sagte er, ohne zu wissen, wie wahr seine Worte doch waren. Aveline seufzte leise, sodass Richard es nicht hörte und zog den Ochsen weiter über das Feld. „Salka hat uns übrigens heute Abend zum Speisen im Wohnhaus eingeladen."

Aveline runzelte die Stirn. „Wirklich? Wozu?"

Es war ungewöhnlich, dass sie zum Essen eingeladen wurden. Normalerweise assen sie ihre Speisen immer in ihrem eigenen Arbeiterhäuschen.

Schweiss setzte sich auf Richards Stirn ab, den er mit dem Ärmel wegwischte.

„Sie mag es nicht, alleine zu sein", erwiderte er. „Vor allem jetzt, kurz vor Niederkunft des Kindes. Sie möchte Menschen um sich herum haben. Das gibt ihr Sicherheit."

Aveline presste die Lippen fest aufeinander. Salka würde das Kind alleine gebären müssen. Ohne sie. Sie schluckte ihr schlechtes Gewissen, das bei dem Gedanken in ihr aufkam, schnell wieder herunter.

Den restlichen Morgen verbrachten die beiden damit, das Feld zu pflügen, bis die Sonne steil stand und es Zeit für die Mittagsrast war. Aveline spürte ihre Muskeln ächzen und legte sich ins hohe Gras neben der Weide. Diese Arbeit war tatsächlich anstrengender, als sie gedacht hatte.

Richard streckte sich neben ihr und betrachtete die vorbeiziehenden Wolken. Eine Weile verweilten sie da und assen ihr Brot mit getrocknetem Wildschweinefleisch. Die Sonne wärmte ihre Gesichter und die kühle Herbstluft liess die Natur golden glänzen.

Am Nachmittag fuhren sie mit der Arbeit auf dem Feld fort. Die Zeit verging und Aveline vergass, ihren Fluchtplan weiter auszuhecken. Erst bei Einbruch der Dunkelheit dämmerte es ihr, dass sie den ganzen Tag verschwendet hatte. Allerdings hatte Richard ihr keine Gelegenheit gegeben, wegzuschleichen. Wenn er doch bloss wüsste, dass er seiner Freundin damit keinen Gefallen getan hatte.

Nun sass Aveline auf ihrer Liege im Arbeiterhaus und zwirbelte an ihren Haarspitzen. Es blieb ihr nur noch eine Option übrig: Sie musste bis zum nächsten Tag warten und in den frühen Morgenstunden losziehen.

Alles, was ihr für ihre Flucht noch fehlte, war Ruriks Pfeil und Bogen. Den hatte er glücklicherweise nicht zum Thing mitgenommen.

„Bereit für einen gemütlichen Abend?", fragte Richard und hielt die Tür des Schuppens für seine Kollegin auf.

Aveline nickte.

Sie war sehr wohl bereit — für ihren letzten Abend in Gefangenschaft.

・・・

Salka sass am Feuer, als ihre zwei Gehilfen ins Haus traten. Sie grüsste sie mit einem strahlenden Lächeln. Die Schwangerschaft stand ihr hervorragend. Ihre blonden Haare glänzten im Flackern der Flammen und ihr ganzes Gesicht leuchtete. Sie war wunderschön, stellte Aveline fest. 

Eine Hand lag auf ihrem Bauch, mit der anderen winkte sie ihre Gehilfen zu sich.

„Kommt herein. Bitte setzt euch mit mir an die Wärme!"

Richard umarmte sie zur Begrüssung und setzte sich auf einen freien Hocker. Aveline nickte Salka höflich zu und platzierte sich auf ein Wolfsfell, das am Boden neben dem Feuer ausgebreitet worden war. Mit den Fingern strich sie über den grauen Pelz. Er war samtweich.

Salka und Richard verfielen in ein Gespräch über den neusten Strassenklatsch, den Salka auf dem Markt aufgegriffen hatte, während Aveline gedanklich noch immer bei ihrer Flucht hing. Sie starrte in die tanzenden Flammen.

Morgen würde sie nicht mehr hier sein. Morgen lief sie ihrer Freiheit entgegen. 

Das war ihr letzter Abend mit Richard und Salka — ihr letzter Abend in diesem gottverlassenen Ort. 

Sie konnte es wirklich kaum noch erwarten und mit jedem Atemzug, der sie näher zum nächsten Tag brachte, spürte sie die Aufregung in sich hochsteigen. Ihr Herz schlug kräftig in ihrer Brust. Bereit, alles zu geben.

„Aveline", riss Salka sie aus ihrer Geistesabwesenheit, sodass sie den Blick von den Flammen lösen musste. Ihre Herrin lächelte sie an, in ihren Händen hielt sie einen dampfenden Teller. „Hast du schon einmal Wildschwein gegessen?"

Avelines Augen fielen auf den Inhalt im Teller. „Ja", hauchte sie. Im Frankenreich hatten sie manchmal Wildschwein gegessen. Sie schluckte bei der Erinnerung schwer.

Salkas Lächeln wurde breiter. „Ach, wirklich? Ist das in deiner Heimat ein typisches Essen?"

Aveline schüttelte den Kopf.

„Gibt es dort auch so viele Wildschweine, die manchmal die Ernten zerstören, weil sie den Boden aufwühlen?", hakte Salka weiter nach.

Dort. Avelines Herz zog sich zusammen. Es war so merkwürdig, von Salka eine Frage über ihr Zuhause gestellt zu bekommen. Sah sie denn nicht, dass es ihr schmerzte, sich an das zu erinnern, was sie nicht mehr hatte? Sie schluckte schwer, doch Salkas Augen lagen weiterhin neugierig auf ihr. Darin schimmerte ehrliche Neugierde.

Avelines Blick huschte zu Richard, der ihr aufmunternd zunickte. „Los, sprich schon", schien er ihr sagen zu wollen. Also räusperte sie sich.

„Ja, das sind lästige Biester", antwortete sie und nahm den Teller entgegen. Salka lehnte sich zurück, das schöne Lächeln auf ihrem Gesicht wollte nicht vergehen. „Eines Tages — das muss etwa zwei Winter her sein — kam mein Vater mit einem ganzen Wildschwein nach Hause. Der Jäger hatte anscheinend auf dem Markt zehn Tiere verkauft! Sie waren eine Pest und der Jäger — Monsieur Chevalier hiess er — war mit seinen drei Söhnen auf Grossjagd gegangen, um der Plage ein Ende zu setzen." Ein Schmunzeln huschte Aveline bei der Erinnerung über die Lippen. „Es war der Geburtstag meiner Mutter, also wollte mein Vater sie damit überraschen."

Salka lächelte versonnen, als könne sie die Glücksgefühle, die Avelines Mutter verspürt haben musste, nachempfinden.

Aveline seufzte. „An dem Abend hat sie den besten Eintopf gekocht, den ich jemals in meinem Leben gekostet habe." 

Richard liess ein beeindrucktes Schnauben hören. Aveline begegnete seinem Blick und es schien, als ob er ihr mit einem Augenzwinkern dafür dankte, Salka etwas Persönliches von ihr preisgegeben zu haben.

Salka legte eine Hand auf Avelines Schulter und drückte sie sanft. „Was für eine schöne Geschichte!", sagte sie. Dann deutete sie auf den Teller in Avelines Händen „Ich hoffe, ich konnte dieses Wildschwein genau so gut zubereiten wie deine Mutter."

Etwas verlegen schob sie sich eine Strähne hinters Ohr. „Hier in Jütland sind die Schweine zäh", fuhr sie fort. „Sture und starke Tiere. Das zeigt sich in ihrem Fleisch. Ich habe es lange im Wasser gekocht, damit es zart wird. Schauen wir mal, wie es euch schmeckt!"

Mit diesen Worten wurde das Abendessen eröffnet. Aveline biss in das Stück, das sie bekommen hatte. Das Fleisch schmolz auf ihrer Zunge und ein Geschmack von geschmorten Zwiebeln, Karotten und Lauch verbreitete sich in ihrem Mund. Sie blinzelte. Einmal, zweimal.

Es war tatsächlich gut. Fast göttlich.

„Salka, das ist hervorragend!", lobte Richard mit vollem Mund.

Aveline nickte und murmelte etwas, das wie „Sehr lecker" klang.

Salka lächelte die beiden zufrieden an. Die harte Arbeit hatte sie offensichtlich hungrig gemacht.

„Schön, dass es euch schmeckt."

Die Flammen in der Mitte füllten den Wohnraum mit einer angenehmen Wärme. Die drei sassen schweigend um die Feuerstelle und genossen ihr Essen.

„Wie fühlst du dich, Salka?", fragte Richard nach einer Weile. Er hatte seinen Teller zur Seite gelegt. „Ich sehe, dein Bauch liegt schon tiefer." Er trommelte dabei auf seinen eigenen, vom Essen rund gewordenen Leib. „Glaubst du, wir werden den kleinen Sveín in den nächsten Tagen zu Gesicht bekommen?"

Salka legte ihre Hände unter ihren Nabel und massierte sich den Bauch.

„Oh, bitte!", stöhnte sie. „Ich kann es kaum erwarten! Diese Kugel macht mich wahnsinnig." Sie lachte auf. Ein helles, von Glück getränktes Lachen. „Jeder Tag ist eine Qual. Meine Füsse sind geschwollen, mein Rücken schmerzt und ich kann mich nicht bewegen. Wenn der noch weiter wächst, dann dauert es nicht mehr lange und ihr könnt mich zu den Walen im Skagerak bringen."

„Du bist wunderschön, Salka", kam ihr Aveline dazwischen.

Salka seufzte. „Ich war schön, bevor mir Hjalmar dieses Kind in den Bauch gestossen hat!"

Richard liess ein Grunzen hören, das wie ein Lachen klang.

„Ja, ja, der gute Hjalmar", erwiderte er. „Konnte die Finger nicht von dir lassen. Ich weiss noch, als ich euch beide dabei erwischt habe. Hjalmar hat einen Becher nach mir geworfen und mich direkt an der Stirn getroffen. Ich bin vom Schlag in Ohnmacht gefallen und ihr musstet mir aufhelfen."

„Oh stimmt!", erinnerte sich offensichtlich auch Salka. „Das war, als wir dich gerade erst bekommen hatten. Hjalmar war für eine Woche sauer auf dich, weil du ihm beim Schmusen in die Quere gekommen bist!"

Die zwei kicherten wie kleine Kinder.

„Danach hat er mich immer informiert, an welchen Abenden ich die Erlaubnis hatte, ungefragt ins Haus zu kommen." Richard wischte sich eine Träne von den Augenwinkeln.

„Ach, der Arme!" Salka hielt sich den Bauch vom vielen Lachen. „Seit ich diese Kugel mit mir rumstosse, kriegt der nichts von meiner Blume. Der ist schon seit einer Weile ganz zappelig!"

Aveline schwieg, während die anderen sich über ihre gemeinsamen Erinnerungen zu amüsieren schienen. Sowieso — bei dem Thema konnte sie nicht mitreden.

Da wandte sich Richard an seine Freundin.

„Aveline, ich sag's dir", meinte er und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. „Ihr Frauen habt eine Waffe zwischen euren Beinen."

Für einen kurzen Moment huschten seine Augen auf ihren Schoss, dann hob er den Blick. Seine Augen glänzten. „Die Männer lechzen so sehr danach, dass sie vergessen, ihren Kopf zu benutzen!"

Salka nickte zustimmend.

„Das kann ich nicht wirklich sagen", murmelte Aveline. „Ich habe noch nie ... meine Waffen benutzt ..." Die Hitze schoss ihr in die Wangen.

Salka gluckste. Richard starrte seine Freundin mit grossen Augen an.

„Du hast noch nie mit einem Mann geschlafen?", platzte es aus ihm heraus. Die Verblüffung hörte man aus jedem einzelnen Wort heraus.

Salka legte sich die Hand vor den Mund und kicherte.

„Mein Vater hätte es nicht erlaubt", versuchte Aveline sich zu erklären.

Richard streckte die Arme aus. „Natürlich", rief er schon fast, „aber die Männer müssen doch Schlange gestanden haben vor eurem Haus!" 

Aveline schluckte leer und senkte den Blick. Im Frankenreich hatte sie niemand umworben. Sie verstand seine Aufregung nicht.

„Du lieber Himmel!" Richard blies die Luft aus dem Mund. „Ich glaube es nicht — bei deiner Schönheit! Dass du unversehrt hierher gekommen bist! Wie hast du das geschafft?"

Aveline zuckte mit den Schultern. Sie hatte gar nichts getan. Man hatte sie in Ruhe gelassen.

Richard schüttelte den Kopf. „Wenn das die Männer hier erfahren. Du solltest Gefion um Schutz bitten."

Avelines Wangen brannten. Ihr war das ganze Thema überhaupt nicht geheuer. Zu ihrem Glück schien Salka ihr Unwohlsein bemerkt zu haben und lenkte ein.

„Komm, Aveline", flüsterte sie. „Ich will dir kurz mein Gemach zeigen. Ich möchte in unserem Bett gebären und du solltest das Zimmer zumindest schon mal gesehen haben."

Sie erhob sich ächzend von ihrem Hocker und streckte ihr die Hand hin. Aveline griff danach und stand ebenfalls auf. Die zwei Frauen gingen zum Zimmer im hinteren Teil des Hauses.

„Ach, ihr Frauen. Lasst mich ruhig alleine!", rief Richard ihnen hinterher.

Salka schlug das rote Tuch auf und geleitete ihre Gehilfin in den dunklen Raum. Das Tuch fiel hinter ihnen zu.

„Salka, erlaubst du mir von Hjalmars Bier zu trinken?", hörten sie Richard röhren.

„Wenn Hjalmar und Rurik nicht hier sind, bist du der Herr im Haus", antwortete Salka in derselben Lautstärke. „Das weisst du doch, Richard! Aber lass noch was für uns übrig."

„Ja, ja!" 

Aveline legte eine Hand auf den Arm ihrer Herrin. „Salka, solche Getränke sind nicht gut für dich", meinte sie und deutete mit ihren Augen auf den dicken Bauch. „Meine Mutter hat immer gesagt, man solle Wein und Bier meiden."

Salka zeigte abermals ein strahlendes Lächeln. Sie entzog sich von Avelines Berührung.

„Danke für deinen Rat, meine Liebe, aber ich vertraue hier auf die Weisheit meiner Vorfahren. Ein Wikinger kommt schon mit Malz gestärkt auf die Welt. Es gibt schliesslich einen guten Grund, warum unsere Männer so kräftig und furchtlos sind."

Aveline erwiderte daraufhin nichts mehr. Sie liess den Blick durch das Zimmer schweifen. Das Bett war gross und robust und mit kuschligen Schafs- und Wolfsfellen bedeckt. Sie war sich sicher, dass Hjalmar dieses Möbelstück gezimmert haben musste. Beste Handarbeit.

Salka drehte sich zu ihrer Gehilfin um und nahm ihre Finger in ihre Hände. „Ich bin so aufgeregt, Aveline!", sagte sie. „Du nicht auch?"

Aveline nickte etwas zögerlich. „Ja, ich freue mich sehr für dich ... für euch."

Das klang nicht so überzeugt, was auch Salka merkte. Sie legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich.

„Hör mal", begann sie. „Was Richard vorher gesagt hat — schenk dem keine Beachtung."

Aveline spürte, wie ihre Wangen wieder heiss wurden.

„Richard lebt schon seit einer Weile bei uns", fuhr Salka fort. „Dadurch ist er selbst zu einem Jütländer geworden." Der Ansatz eines Lächelns deutete sich auf ihrem Gesicht an.

Aveline verschränkte die Arme vor sich. „Ich verstehe wirklich nicht, warum das ungewöhnlich sein sollte, dass ich noch nie ..."

Sie liess den Satz in der Luft hängen und biss sich auf die Unterlippe. Dieses Thema war ihr einfach zu unangenehm.

„Ach", seufzte Salka. „Ich beneide deine Unschuld. Setz dich doch kurz auf unsere Liege. Lass es mich erklären."

Aveline gehorchte und liess sich auf den Rand des Bettes nieder.

„Hat dir Richard schon einmal von den Walküren erzählt? Ja? Und hat er dir erzählt, dass die Walküren wunderschöne Jungfrauen sind, welche die gefallenen Krieger nach Walhalla bringen und dort mit ihnen feiern? Nun ja, es ist so: Die Walküren bestimmen schon vor der Schlacht, wer im Falle seines Todes würdig sein wird, nach Walhalla gebracht zu werden. Das machen sie nicht in der Schlacht selber. Die Mädchen unserer Sippe erhalten an ihrem zwölften Lebensjahr einen silbernen Armring, der ihre Unbeflecktheit lobt. Diesen Ring erhalten alle jungen Frauen bei ihrer Weihung als volles Mitglied in die Sippe. So wie die Buben am Thing in die Gesellschaft aufgenommen werden und einen Zugehörigkeitsring bekommen, werden die jungen Mädchen an Jule aufgenommen und erhalten ihren Ring. Diesen Armring schenken die Mädchen dann demjenigen, der ihre Jungfräulichkeit nimmt. Das ist für einen Mann eine grosse Ehre. Eine Jungfrau hat ihn auserwählt und ihm ihren Ring geschenkt. Eine Walküre in Menschenform sozusagen. Das heisst: Mit der Gabe des Rings wurde dieser Wikinger von den Walküren auserwählt, nach Walhalla zu gehen, sollte er in der Schlacht sterben. Wenn es bekannt ist, dass eine schöne Frau ihren Ring noch besitzt, dann ist es gut möglich, dass sich die Männer darum prügeln werden, um die Ehre zu bekommen, der Erste zu sein."

Aveline blinzelte ihre Herrin an. „Dieser Ring ist sozusagen ein Passierschein — nach Walhalla?", versicherte sie sich, dass sie richtig gehört hatte. „Ein Passierschein, den man nur bekommt, wenn man einem Mädchen die Jungfräulichkeit nimmt?"

Salka kicherte leise und nickte dann als Antwort. „Das hast du sehr treffend zusammengefasst. Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum das manchmal gefährlich werden kann."

Aveline schüttelte den Kopf, denn sie fand das einfach absurd. „Ihr seid wirklich ein lüsternes Volk. Unfassbar."

Vom Wohnraum aus war Richard zu hören, der die zwei Frauen unglaublich vermisste und ihre Gesellschaft zurückverlangte. Sie gingen zurück und stiessen gemeinsam auf die baldige Geburt des kleinen Sveín an. 

Richard hatte schon gehörig einen sitzen. „Bitte, Salka", lallte er. „Erzähl uns eine Göttergeschichte. Du kennst so viele! Ich versuche Aveline jeden Abend etwas über unsere Götter zu erzählen, aber du kennst einfach die besten Geschichten!"

Sein Oberkörper schwankte und Aveline war sich sicher, dass er in dieser Nacht wieder lautstark schnarchen würde.

Salka grinste. „Na gut. Kommt näher, kommt näher."

Die zwei Gehilfen rückten heran. Das Feuer leuchtete schwacher und tauchte die Stube in ein sinnliches Dunkelrot.

„Da war Thor", begann Salka. „Und ihr wisst ja, wie wichtig ihm Mjölnir — sein Hammer — ist. Eines Nachts, als Thor tief und fest schläft, schleicht sich der Riese Thrym an und klaut ihm seinen Lieblingshammer. Thor ist am nächsten Morgen ausser sich. 'Wie konnte das passieren? Wer hat das getan?' Wer konnte das nur wagen, dem grossen starken Thor seinen schweren Hammer zu stehlen? Thrym gibt sich zu erkennen und versucht, einen Handel mit dem Sohn Odins zu vereinbaren. Thrym will den Hammer nur dann zurückgeben, wenn er Freya dafür heiraten darf. Das will Freya natürlich nicht. Thor schmiedet zusammen mit Heimdall und Loki den Plan, dass Thor sich selbst als schöne Braut verkleiden und so dem Riesen den Hammer wieder entwenden könnte. Gesagt — getan. Thor verkleidet sich als wunderschöne Braut. Wie er seinen roten Bart verstecken konnte, weiss keiner so genau, aber so wird Thor als Frau verkleidet dem Riesen als zukünftige Braut vorgestellt. Dieser ist etwas misstrauisch und Loki — der Täuscher — muss ihn immer wieder beruhigen, so dass er keinen Verdacht schöpft. Der Riese Thrym hat für seine Braut ein riesiges Fest veranstaltet. Der Hammer wird von allen Riesen bestaunt und rumgereicht und landet irgendwann auf dem Schoss der Braut. Dieser Moment hat Thor natürlich erwartet. Er packt seinen Hammer und lässt seiner Wut freien Lauf. Er zerschlägt die Tische und Stühle und erschlägt alle Riesen, die an der Hochzeit teilgenommen hatten. Auch Thrym tötet er mit seinem mächtigen Hammer."

Richard klatschte begeistert in die Hände. Aveline war einfach nur sprachlos.

„Warum muss der denn alle töten?", fragte sie.

„Niemand nimmt Thor seine wertvollste Habe weg. Niemand", meinte Richard.

„Thor ist sehr gutmütig, aber er wird auch schnell zornig", fügte Salka nickend hinzu.

Aveline schüttelte bloss den Kopf. Sie wurde aus diesen Göttern wirklich nicht schlau. Ihr Unverständnis schien Salka köstlich zu amüsieren. Sie lachte aus vollstem Herzen, wie schon seit Anbeginn des Abends.

・・・

Richard und Aveline leisteten ihrer Herrin bis Mitternacht Gesellschaft. Es war ein gemütlicher Abend mit viel Gelächter, Gesängen und Geschichten. Selbst Aveline genoss die Dreisamkeit.

So sehr sie diesen Ort auch verabscheute, auf Salka konnte sie nicht böse sein. Sie tat keiner Seele etwas und war ein guter Mensch — auch wenn sie eine Normannin war.

Aveline war froh, dass sie einen solch entspannten Abend hatte verbringen dürfen.

Als Vorsichtsmassnahme hatte sie sich absichtlich den Magen vollgeschlagen, sollte sie auf ihrer Flucht nicht gleich dazu kommen, Nahrung zu finden. Der gesellige Abend hatte sie beruhigt und sie von ihren sorgenvollen Fluchtgedanken abgelenkt. Nun fühlte sie sich körperlich und seelisch gestärkt, ihr Entkommen früh am nächsten Morgen anzupacken.

Als die zwei Gehilfen aufbrachen, um sich schlafen zu legen, bedankte sich Salka bei beiden mit einer langen Umarmung. Aveline und Richard winkten gute Nacht und gingen zurück in ihr eigenes Schlafgemach.

Ruriks Pfeil und Bogen lagen noch immer in seinem Zimmer. Aveline hatte im Verlaufe des Abends entschieden, die Sachen erst am nächsten Morgen in der Früh holen zu gehen.

Im Morgengrauen, wenn alle noch schliefen, würde sie auf Zehenspitzen ins Wohnhaus schleichen und sich dann sogleich für immer davonmachen.

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