3 - Sommer

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Ein dröhnender Hornstoss, fernes Geschrei und ein heller, stechender Schmerz in den Rippen. Aveline öffnete benommen ihre Augen und blickte um sich. Ein zweiter heisser Stich durchzuckte ihren Körper und sie kniff die Augen zusammen. Der Schmerz strahlte aus und pulsierte von ihrem Oberkörper in ihre Arme und Beine. Jede Bewegung war eine Qual, sogar das Atmen fiel ihr schwer. Sie blieb so regungslos wie möglich sitzen und versuchte krampfhaft sich zu erinnern, was soeben geschehen war. 

Sie sass bei der Eiche und fühlte den rauen Stamm im Rücken. War sie eingeschlafen? Sie grübelte fieberhaft.

Das erklärte nicht ihre schmerzende Flanke. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war. Ihr Kopf dröhnte und das helle Licht stach ihr in den Augen. Sie schloss erschöpft die Lider, um dem marternden Pochen zwischen ihren Schläfen entgegenzuwirken.

Schritt für Schritt rekonstruierte sie die Erinnerungen in ihrem Kopf: Das Frühstück mit ihrer Mutter, das Häkeln der Fischernetze, der Garten, das Meer und die frische Luft... Wie in alles in der Welt war sie unter dem Baum gelandet? Sie kniff die Augen fest zusammen und ging den Tag noch einmal durch. Erst das Frühstück zuhause, die Fischernetze draussen vor der Tür, der Kräutergarten, das Meer und die ... das Meer!

Plötzlich kamen die Bilder wellenartig über sie hereingespült. Wie sie die Kreatur im Wasser gesehen hatte und dann die Krieger, die schwer bewaffnet aus dem Schiff herausgesprungen waren. Wie sie zurückgerannt war und von einem dieser Männer gejagt wurde — er viel zu schnell und sie viel zu langsam.

Die Verzweiflung kroch in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu.

Er hatte sie eingeholt! Sie hatte ihm nicht entkommen können. Aber warum lebte sie noch? Warum hatte er sie nicht getötet?

In der Ferne waren Rufe zu hören. Fremde Stimmen, eine Sprache, die sie nicht verstand.

Sie wollte um Hilfe rufen, aber ihr Mund war zu trocken, ihre Stimme zu brüchig. Eine unsichtbare Kraft sog sie in ein dunkles Loch. Sie war zu schwach, um dagegen anzukämpfen und liess Körper und Geist ins Leere driften.

・・・

Aveline erwachte wieder aus ihrem Dämmerzustand, die Baumrinde drückte ihr in den Rücken. Sie versuchte sich zu erheben, aber stöhnte vor Schmerz auf, als sie sich ihrer Arme nützlich machen wollte. 

Es war zwecklos. Aus eigener Kraft würde sie sich nicht aufrichten können, geschweige denn den Weg zurück zu ihrem Haus schaffen. Bittere Tränen schossen ihr beim Gedanken an ihre Familie in die Augen.

Sie hoffte so sehr, dass alle wohlauf waren.

Ihr Oberkörper brannte, als stünde sie in Flammen. Die Rippen an ihrer rechten Flanke mussten gebrochen sein. Sie presste die Zähne zusammen. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut! Falls die gebrochenen Knochen im Inneren ihres Körpers Schaden angerichtet hatten, konnte dies tödlich für sie enden. Das hatte sie einmal bei einer Kundin ihrer Mutter gesehen, die nach einem Sturz für eine Behandlung zu ihnen ins Haus gekommen war. Die Frau war nach drei Nächten im Fieberwahn gestorben. 

Aveline schob diesen Gedanken schnell wieder von sich. Sterben konnte sie jetzt nicht, zuerst musste sie herausfinden, ob es ihrer Familie gut ging — und zwar schleunigst. Jeden Moment konnte einer dieser Kerle zurückkommen und sie töten. Sie musste handeln, bevor man sie entdeckte. 

Sie atmete ruhiger, um den stechenden Schmerz in ihrem Brustkorb zu lindern. Als die Hitze unter ihren Rippen abflaute, reckte sie den Kopf in die Höhe. Sie blinzelte und versuchte, durch die grünen Blätter der Eiche irgendetwas zu erspähen. Ein Spaziergänger, ein Bewohner der Stadt, eine Nonne, irgendjemand. 

Der Wind strich durch die Äste und liess die Blätter leise rascheln. Alles, was sie sah, waren die braunen Rauchsäulen, die im starken Kontrast zum stahlblauen Himmel standen und in die Wolken stiegen. Das hohe Gras, in welchem sie sass, machte es unmöglich, weit zu sehen. Es war, als hätte die Natur sie verschluckt. 

Ein Blick nach oben verriet ihr, dass es schon fast um die Mittagsstunde sein musste. Für diese Zeit war es viel zu still. Totenstill. Selbst die Insekten schienen verstummt zu sein und die Lust am Zirpen verloren zu haben. 

Aveline wollte nicht aufgeben. Sie lebte noch. Das war alles, was zählte. Irgendwie musste sie es auf die Beine schaffen, damit sie sich zu ihrer Familie zurückschleppen konnte. Ihre Mutter würde sich um ihre Verletzung kümmern können. Ganz bestimmt.

Sie wollte ihre Sitzposition etwas verbessern, denn die Baumrinde drückte gegen ihre Rippen. „Eins ... zwei ... drei ...", sagte sie zu sich selbst und zog bei drei ein Bein näher an sich heran.

Ein entsetzlicher Schmerz schoss ihr durch die Brust und ihr wurde schwindelig.

„Nein, nicht ...", murmelte sie, doch da zerfiel die Realität in Einzelteile.

・・・

Jemand berührte ihre Schulter.

Aveline wollte ihre Lider öffnen, doch sie waren so schwer wie Blei. Sie liess zu, dass man sie anfasste, dass man ihren Arm hoch streckte. Zu hoch! Sie stöhnte laut auf und verzerrte das Gesicht vor Schmerz — das war die schlechte Seite. Sah diese Person denn nicht, dass sie verletzt war?

Der Arm wurde losgelassen. Aveline rollte ihren Kopf hin und her, ihr Mund öffnete sich. Sie wollte der Person zuflüstern, dass man sie behutsam berühren müsse, ihre Rippen seien gebrochen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

Dann spürte sie zwei kräftige Hände, die sie unter ihren Achseln packten und sie hochhoben. Es drehte sich wieder alles so schnell, sie drohte schon wieder ohnmächtig zu werden. Der heftige Schmerz in ihrem Brustkorb liess sie die Augen weit aufreissen. 

Eisblaue Augen in einem schmutzigen, blutverschmierten Gesicht blickten ihr direkt in die Seele.

Sie erschrak so heftig, dass sie für einen kurzen Moment ihre Verletzung vergass. Das Gesicht kannte sie, es gehörte dem Krieger, der ihr nachgerannt war und sie umgeworfen haben musste. Ihr Herz raste, drohte ihr aus der Brust zu springen. Sie wollte sich wehren, doch dazu fehlte ihr die Kraft.

Der Wikinger stemmte ihren Körper auf seine Schultern. 

„Nein!", keuchte sie.

Der Geruch von Rauch, Blut und frischem Schweiss stieg ihr in die Nase. Er stank fürchterlich. Ihr wurde übel und da war er wieder, dieser heisse Schmerz in ihrer Seite, der durch ihren ganzen Körper zuckte und sie in die Dunkelheit riss.

・・・

Düstere Nacht. Das Geräusch von Regen und glucksendem Wasser. Ein klammes Gefühl auf der Haut und sanftes Wiegen, rhythmisches Knarzen.

Träumte sie schon wieder?

Aveline wurde durch das Klappern ihrer Zähne und das heftige Zittern ihres eigenen Körpers geweckt. Ihre Haare und ihr blaues Kleid trieften vor Nässe. Ein dickes Seil umschlang ihren Oberkörper. Sie konnte sich kaum bewegen, so fest war sie angebunden worden. Es herrschte absolute Dunkelheit und es war kalt. Das war definitiv kein Traum. 

Es fühlte sich echt an.

Sie versuchte, Umrisse in der Finsternis auszumachen. Es gab nichts zu erkennen, der Regen prasselte ihr in die Augen. Sie konnte den Wind pfeifen hören und spürte die Böen auf ihrer nassen Haut. Ihr Gleichgewichtssinn nahm eine schaukelnde Bewegung wahr. Diese Bewegungen kamen ihr nur zu bekannt vor. Sie war auf dem Wasser! Also musste sie sich auf einem Boot befinden. Das würde auch das knirschende Holz erklären.

Aber auf wessen Boot war sie gelandet?

Sie erschauderte.

„Nein!", sagte sie zu sich selbst. „Nein, das darf nicht wahr sein." Sie begann heftig zu zittern.

„Aveline! Gott sei Dank, du lebst!", hörte sie jemanden sagen.

Ihr Herz machte einen Sprung. Sie kannte diese Stimme! Sie gehörte Schwester Joscelin, einer Nonne aus dem Frauenkloster. Aveline blinzelte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Joscelin war eine der Nonnen gewesen, die ihnen regelmässig Ziegenmilch und Butter im Tausch für Seifen, Heilsalben und Kräutertees vorbeigebracht hatte. Eine vertraute Person, eine Überlebende.

„Schwester!", rief Aveline.

Sie war heilfroh, nicht alleine zu sein und eine bekannte Stimme in der Dunkelheit zu hören. Es gab ihr nicht unbedingt Zuversicht, dass alles wieder gut werden würde, aber es gab ihr einen Funken Hoffnung. Hoffnung, dass einige Bewohner von Fécamp überlebt haben könnten. Vielleicht ja auch ihre Familie.

„Was ist geschehen?", fragte sie die Nonne. Sie konnte in der Dunkelheit nur ihre Umrisse sehen.

„Oh, mein Liebes, es sind die Wikinger!", klagte die Schwester. „Sie haben uns angegriffen. Die ganze Stadt stand in Flammen. Sie haben alles zerstört. Das Kloster, sie haben es dem Erdboden gleichgemacht ... es ist alles weg. So viele arme Menschen haben sie getötet!" Die Nonne schluchzte.

Aveline rieb sich mit der Schulter die klammen Haare aus dem Gesicht. „Schwester! Haben Sie etwas von meiner Familie gehört?", fragte sie. „Oder gesehen? Ich war am Strand als es passierte, ich konnte nicht mehr rechtzeitig zurück."

Aveline musste wissen, was mit ihrer Familie geschehen war. Ob sie noch am Leben waren, ob sie verletzt wurden, ob sie fliehen konnten. So viel wollte sie wissen! Der Gedanke an ihre Familie verursachte ein Stechen in der Brust. Ihr Herz schmerzte vor Sorge.

Joscelin schien zu zögern. „Nein, gehört habe ich nichts ...", antwortete sie. „Wir wurden gefangen genommen und sofort zur Küste gebracht. Sie haben uns aber den Weg zum Strand hinunter geführt. Der Weg, der an deinem Haus vorbeiführt ..." Sie beendete ihren Satz nicht.

„Und was, Schwester?", hakte Aveline sofort nach. „Bitte sagen Sie mir, was haben Sie gesehen? Bitte, ich muss es wissen!"

„Das Haus stand in Flammen." Die Worte trafen Aveline wie eine Faust in die Brust. „Es tut mir so leid, mein Liebes, aber sie haben jedes Haus in Brand gesetzt."

Tränen mischten sich auf Avelines Wangen mit den Regentropfen und der Gischt. Der Kloss in ihrer Kehle schmerzte. Sie wollte es nicht wahrhaben. Das durfte einfach nicht sein!

„Haben Sie meinen Vater oder meine Mutter irgendwo gesehen?", fragte sie weiter. „Waren sie noch dort? Bitte, ich flehe Sie an, ich muss wissen, ob sie noch am Leben sind." Ihre Stimme brach. 

Die Schwester konnte nicht mehr antworten, denn eine zweite Stimme kam ihr dazwischen. Es war ein Mann, der sprach. Ein Mann, den Aveline nicht kannte.

„Wenn deine Familie nicht hier auf dem Boot oder sonst auf einem anderen dieser gottverdammten Schiffe ist", sagte er, „dann gewöhne dich an den Gedanken, dass sie tot sind. Die haben kaum eine Seele am Leben gelassen und die einzigen, die lebend aus dieser Hölle herausgekommen sind, sind wir." Seine Tonlage war genauso bitter wie seine Worte. 

Aveline wimmerte, als ihr Herz brach. Ihre Familie war verloren und ihr Zuhause zerstört.

Das Leben machte keinen Sinn mehr —ohne das Flicken der Fischernetze mit ihrem Vater, ohne den Geruch nach frischen Kräutern im Garten und ihre Mutter, die Seife herstellte, und ohne ihren Bruder, der mit Ästen in der Erde wühlte und Regenwürmer fürs Fischen herauspulte. 

Nie wieder würde sie die Kirchenglocken hören, die sie sonntags zum Gebet lockten, oder die hallenden Rufe der Verkäufer des Gemüsemarktes, die manchmal bis zu ihrem Haus drangen. Das Surren der Heuschrecken an heissen Tagen oder das Streicheln der salzigen, kühlen Meeresbrise auf ihrer Haut.

Es war alles verloren.

Ein starkes Bedürfnis überkam sie. Ein Bedürfnis, sich losreissen zu wollen und in die schwarzen Wellen zu stürzen. Dieses Elend zu beenden. Hier und jetzt.

Die Schwester begann neben ihr laut zu beten: „Oh gütiger Herr im Himmel, behüte uns! Bitte steh uns bei und begleite uns durch diese schwierige Zeit ..."

Aveline wandte ihren Blick von Schwester Joscelin ab und starrte in die dunkle Nacht. Wie hätte ein gütiger Gott so etwas Schreckliches überhaupt zulassen können? In nur einem Tag hatte sie alles verloren.

Alles, was ihr lieb war. Alles, was ihr etwas bedeutete.

・・・

Als Aveline nach ihrer ersten Nacht die Augen öffnete, erkannte sie im Tageslicht besser, wer mit ihr gefangen genommen worden waren. 

Da sassen der Bäckerjunge — ein starker und etwas fleischiger junger Mann, der erst vor Kurzem das Handwerk von seinem Vater erlernt hatte — und die drei Nonnen aus dem Frauenkloster, die alle etwas zerzaust aussahen. Aveline wollte sich das gar nicht erst vorstellen, was mit ihnen passiert war. 

Sie sah neben dem Bäcker noch einen weiteren Mann sitzen, dessen Auge stark geschwollen war. Seine Gesichtszüge waren unter den Beulen schwer zu erkennen. Aveline war sich nicht sicher, ob sie diesen Mann überhaupt kannte.

Die Gefangenen sassen im vorderen Teil des Schiffes, allesamt in einer Reihe mit Seilen am Bordrand befestigt. So würden sie die Schiffsbesatzung bei ihrer Arbeit nicht stören. Man hatte sie neben dem Raubgut befestigt, fast wie wertvolle Frachtware, die nicht über Bord fallen durfte.

Aveline versuchte, das eng geschnürte Seil um ihre Brust zu lockern, denn es schnitt ihr die Luft ab. Ihr fiel das Atmen schwer. Sie drückte ihren Oberkörper dagegen, aber der Knoten schien sich nicht lockern zu wollen. Sie blieb fest angebunden. Resigniert lehnte sie ihren Kopf an die Holzbalken hinter ihr und schaute sich weiter um. Wenigstens war der Schmerz in ihrer Brust etwas abgeflaut. Das würde sie aushalten können.

Am Heck des Schiffes, auf einem höher gestellten Deck, standen drei Wikinger und diskutierten — wie es schien — über das Wetter oder den Wind. Aveline musterte die Männer aus der sicheren Distanz. Sie waren alle gross gewachsen, trugen schwarze Hosen und dazu beige und blaue Tuniken. Aufgrund der kühlen Meeresbrise hatten sie sich dicke Felle und schwarze Gewänder um die Schultern gelegt. Ihre Haare waren hell, lang und wild. Fast alle trugen buschige Bärte zur Schau.

Sie sahen zufrieden aus und Aveline erkannte denselben glücklichen Gesichtsausdruck, den man nur an Menschen sehen konnte, die am Meer geboren waren und es liebten, ihr Leben auf den Wogen zu verbringen. 

Ein stechender Schmerz in ihrem Herzen erinnerte sie an ihren Vater. Sie würde alles dafür geben, jetzt in diesem Moment mit ihm auf hoher See zu sein und die Fischernetze auszuwerfen. 

Überall wollte sie sein, nur nicht hier mit diesen Nordmännern.

Avelines Blick schweifte weiter über das Schiffsinnere. In der Mitte des etwa dreissig Schritt langen Schiffes ragte ein grosser Mast in die Luft. Ein rotes Segel spannte im Wind. Quer über den Schiffsrumpf erstreckten sich zehn Reihen Ruderbänke. 

Einige Männer hatten sich im Kreis um den Mast versammelt, stehend und auf den Bänken sitzend und machten den Eindruck, als ob sie jemandem in der Mitte zuhörten. Ihre Waffen hatten sie abgelegt.

Die Gefangenen neben ihr waren still und in sich gekehrt. Die Nonnen beteten und die zwei Männer schienen, als hätten sie sich ihrem Schicksal vollkommen ergeben.

Aveline seufzte tief. Sie war froh, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren, denn es hatte ihr die Kälte der Nacht aus den Knochen getrieben. Das Licht tat ihr gut. Sie schloss die Augen und versuchte, sich auf das wohlige Gefühl der warmen Strahlen auf ihrer Haut zu konzentrieren. 

In ihren Gedanken reiste sie zurück an den Strand von Fécamp.

・・・

Jemand fummelte am Seil, an dem sie befestigt war. Aveline öffnete ihre Augen und erblickte einen jungen Wikinger mit braunen, kurzen Haaren und einem freundlichen Gesicht, der ihren Knoten öffnete. Sie blinzelte ihn verdutzt an. Er lächelte und sagte etwas in seiner Sprache. Aveline verstand kein einziges Wort. Diese Sprache hatte sie noch nie gehört. Eine nordische Sprache.

„Was?", fragte sie ihn, obwohl sie wusste, dass auch er sie nicht verstehen würde.

Du må lindre dig selv ...", wiederholte er.

Aveline sah, wie er errötete. Sie verstand wirklich nicht, was er von ihr wollte. Er würde sie ja wohl kaum freilassen. Ob das eine Falle war?

Er streckte ihr seine Hand entgegen und wiederholte den Satz. Kurz zögerte sie, doch dann reichte sie ihm ihre eigene Hand. In seinen Augen sah sie, dass er nichts Böses wollte. Sie spürte das. 

Er riss sie ruckartig hoch, wodurch ein stechender Schmerz ihr durch die Rippen blitzte und sie aufschreien liess. Der Junge blickte sie erschrocken an. Aveline hielt sich die verletzte Flanke. Sie atmete angestrengt und starrte konzentriert auf den Boden. Bloss keine Schwäche zeigen! Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was die Wikinger mit ihr tun würden, wenn sie merkten, wie geschwächt sie war. Was sie mit einer kränklichen Gefangenen tun würden? Vielleicht über Bord werfen?

Ihr Aufschrei hatte Köpfe recken lassen. Die Männergruppe beim Mast blickte nun zu ihnen herüber. Aveline drückte die Hand des Jungen und nickte. Sein erschrockener Gesichtsausdruck entspannte sich. Dann führte er sie behutsam zum vorderen Teil des Schiffes, wo ein paar Kisten standen.

På bagsiden", sagte er und wies mit seiner Hand hinter die Kisten.

Aveline verstand noch immer nicht, was er meinte und wagte ein paar Schritte nach vorne zu der Ecke hinter den Kisten, auf die der Knabe zeigte. Da stand ein leerer Holzeimer.

Es war ihr schleierhaft, was sie damit sollte und so blickte sie hilfesuchend zum Jungen zurück. Er nickte und gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie sich in die Ecke dort stellen solle. Auf ihren fragenden Blick hin wies er mit seiner Hand zwischen die Beine und dann mit der selben Hand wieder in die Ecke hinter den Kisten.

Aveline sog laut die Luft durch den Mund ein. Jetzt hatte sie verstanden. Das war das kleine Örtchen, auf dem sie sich wohl auf Kommando erleichtern solle. 

Eine hohe Welle packte das Schiff und warf sie fast um. Der Eimer kippte um und rollte ihr vor die Füsse. Sie merkte, nun, wo sie so da stand und darüber nachdachte, dass sie wirklich dringend pinkeln musste. Sie zögerte kurz, aber liess die Unsicherheit von sich weichen. 

Auf einem Schiff mit etwa fünfundzwanzig blutrünstigen Wikingern zu stehen und in einen kleinen hölzernen Kübel zu pinkeln war im Vergleich zu dem, was vor Kurzem passiert war, wohl nur halb so schlimm.

Entschlossen hob sie den Eimer auf, stellte ihn zurück in die geschützte Ecke und erleichterte sich darin. Sie nahm den Kübel und schüttete den Inhalt gleich über Bord. Sichtlich erleichtert ging sie zum Jungen zurück, der sich höflicherweise umgedreht hatte. Diese taktvolle Behandlung hatte sie nicht erwartet — ganz zuletzt von einem Wikinger. 

Sie tippte ihm auf die Schulter und so brachte er sie zurück an ihren Platz neben den anderen Gefangenen. Er band sie an den Seitenbalken fest, dieses Mal aber nicht so eng. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu.

„Hat er dich angefasst?", fragte der Bäckerjunge, als der Wikinger sich mit Joscelin an der Hand von ihnen entfernte.

Sein Name war Claude, erinnerte sich Aveline. Sie wurden einander einmal vorgestellt, als ihr Vater der Meinung war, sie solle sich um eine abgesicherte Zukunft kümmern und junge Männer kennenlernen, mit denen sie ausgehen könne. Dass der bullige Bäcker Aveline schon damals nicht sehr sympathisch war, scherte ihren Vater nicht. Sie solle ihm wenigsten eine Chance geben, hatte er gemeint und sie einander vorgestellt. 

Aveline schüttelte ihren Kopf. „Nein. Er bringt uns alle aufs Örtchen. Hinter den Kisten haben sie einen Eimer für die Notdurft hingestellt."

Claude schnaubte verächtlich. „Als wären diese Barbaren um unser Wohl bekümmert!", rief er aus. „Hast du gesehen, was sie uns angetan haben? Geschlachtet haben sie uns, wie Schweine. Mein Vater wurde an einem Fleischerhaken aufgehängt, sein Bauch haben sie aufgeschlitzt und seine Gedärme herausgerissen."

Aveline musste leer schlucken. Sie hatte rein gar nichts von dem ganzen Schrecken mitbekommen.

„Er hat noch gelebt", fuhr Claude fort. „Sie haben mich gezwungen, ihnen dabei zuzuschauen. Und meine Mutter haben sie geschändet und ihren toten Körper dann den Säuen vorgeworfen." Er biss sich vor Wut auf die Zähne und ballte seine fleischigen Hände zu Fäusten, sodass die Knöchel weiss hervorstachen. 

„Gütiger Gott!", rief eine der Nonnen aus. 

„Was haben wir bloss getan, um das verdient zu haben?", sagte die andere.

Claudes Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. „Nichts haben wir getan!", knurrte er. „Diese gottlosen Ketzer stehlen und vergewaltigen Frauen und rauben den bescheidenen Menschen ihr ganzes Hab und Gut. Sie schlachten ihre Opfer als gäbe es kein Morgen mehr und lachen noch dabei. Die sind verrückt geworden! Das sind Scheusale, die vom Teufel selbst geschickt wurden. Gierige Ungeheuer, die sich am Leid gottesfürchtiger Menschen ergötzen!"

Die Nonnen wimmerten leise. Der junge Wikinger kam mit Joscelin an der Hand zurück und band sie wieder an den Seitenbalken. Sie bedankte sich bei ihm und klopfte ihm auf den Handrücken. Er lächelte etwas geniert und wandte sich der nächsten Nonne zu, die ängstlich zurückwich.

„Alles in Ordnung, Mathilde", beruhigte Joscelin die Schwester. „Er ist ein netter Junge, hab Vertrauen."

Die zittrige Mathilde ergab sich und folgte dem Wikinger zu den Kisten. Aveline blickte ihnen nach.

„Ich habe eine Idee", flüsterte Claude so leise, dass seine Stimme beinahe vom Wind verschluckt wurde. „Sobald der mich losbindet, mach ich ihn fertig. Der kleine Bengel ist mir nicht gewachsen, so dünn wie der ist. Diesem verdammten Pack werde ich es heimzahlen!"

Nun regte sich der Mann mit dem geschwollenen Auge, der die meiste Zeit geschwiegen hatte. „Bist du des Wahnsinns!", fauchte dieser. „Was willst du auf einem Schiff mit einer Horde voll Wikinger denn anrichten können? Die werden dich sofort übermannen."

Aveline stimmte dem einäugigen Mann zu. Das war kein guter Plan. Sie waren in keiner Lage, um irgendwelche riskanten Dummheiten zu wagen.

„Er ist noch ein Kind", fügte Aveline hinzu.

Claude zuckte mit den Schultern. „Ein Versuch ist es wert. Die erwarten wahrscheinlich gar nicht, dass wir uns wehren. Die werden sowas von Augen machen!"

Aveline wollte das nicht. Sie wollte nicht für eine einfältige Idee eines anderen zur Verantwortung gezogen werden. Vor allem nicht für eine Idee von diesem törichten Claude.

Was würden die Wikinger mit ihnen anstellen, wenn sie zu meutern begännen?

„Soweit ich das beurteilen kann, hat dieser Junge uns nur Gutes getan. Also lass ihn in Ruhe", sagte sie.

Claude schüttelte seinen Kopf und reckte sich in seinem Seil. „Warum verteidigst du den so?", herrschte er sie an. „Was weisst du schon. Vielleicht hat der deinen Bruder getötet und du ahnst nichts davon. Würdest du ihn dann noch immer in Schutz nehmen? Wenn er deine Mutter vergewaltigt und hingerichtet hätte? Würdest du? Na, sag schon!"

„Hör auf so von meiner Familie zu sprechen!", zischte Aveline zurück. Seine Worte taten weh. Sie wollte sich nicht vorstellen, was mit ihren Eltern und ihrem Bruder passiert war. Der Gedanke war einfach zu schmerzhaft. 

Sie wandte sich von Claude und den anderen ab, so gut es angebunden ging, und schmollte. 

Der Wikinger kam mit Mathilde zurück, band auch sie wieder an den Holzbalken und begleitete die letzte Nonne zum Klosett. Danach war Claude an der Reihe. Der Junge band ihn los, da sprang ihm der Gefangene schon an den Hals. 

Es passierte alles viel zu schnell. 

Claude, so massiv wie sein Körper war, hatte keine Mühe, den schmalen Wikingerjungen auf den Boden zu werfen. Dieser wehrte sich mit Händen und Füssen gegen den dicken Angreifer, aber seine Schläge richteten nichts an. Claude lachte, während er dem Jungen mit seinen baren Händen die Kehle zudrückte.

Die Männer um den Mast herum hatten den Tumult gehört. Der Franke drückte den Jungen fest auf den Schiffsboden, als er aufblickte und sah, dass die Truppe auf ihn zustürmte.

Es waren nur wenige Wimpernschläge vergangen. Die verzweifelten Tritte des Jungen wurden schwächer, sein Gesicht war dunkelrot, gar schon fast violett und seine Augen rot unterlaufen. Dann packte Claude seinen Gegner an einem Arm und an einem Bein, stand auf und schwang ihn wie ein Sack Mehl über die Reling.

Aveline schrie auf. 

Der Knabe zappelte hilflos in der Luft, ein angsterfüllter Gesichtsausdruck, dann platschte sein Körper ins kalte Wasser der Nordsee und verschwand unter Wasser.

Hektik brach an Bord aus. 

Die Männer umzingelten Claude augenblicklich. Einer schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der Kerl war blind vor Wut. Blut strömte über Claudes Lippen, als seine Nase brach. 

Das Segel wurde sofort gerefft, etwa acht Männer eilten zu den Ruderbänken und begannen, das Schiff mit starken Ruderschlägen zu wenden. Sie wollten den ertrinkenden Jungen retten. Wenn er schwimmen konnte, dann musste er nur lange genug über Wasser bleiben, bis das Schiff gewendet hatte, dachte sich Aveline. Aber die Verzweiflung in den Gesichtern der Wikinger, die sich über den Schiffsrand beugten und suchend ins Wasser blickten, liess sie erahnen, dass der Bursche wohl nicht schwimmen konnte.

„Um Gottes willen!", kreischte Joscelin. „Was hast du getan?"

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