33 - Winter

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Drei Trommelschläge ertönten und wummerten durch die ganze Halle. Ragnar erhob sich von seinem Thron und hielt die Hände in die Luft.

„Geschätzte Bewohner Vestervigs, Brüder und Schwestern!", rief er. „Es ist an der Zeit, unsere Walküren in die Sippe willkommen zu heissen. Steht auf und begrüsst die Anhängerinnen Freyas!"

Die Menge klatschte und jubelte. Das war der Moment, in welchem sich die Mädchen ihren Weg nach vorne zu Ragnars Thron bahnten. Sie waren alle weitaus jünger als Aveline und stammten aus Vestervig. Alles echte Normanninnen, ausser sie. Aveline näherte sich dem hölzernen Sitz mit klopfendem Herzen. Links und rechts hörte sie die Leute tuscheln, aber das war ihr jetzt einerlei. Ragnar hatte ihr seinen Segen gegeben. Nichts stand ihrer Freiheit mehr im Wege. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die man ihr schenkte. Männer und Frauen drehten sich nach ihr um und blickten ihr ungläubig nach - überwältigt von ihrer Schönheit und überrascht von der Neuartigkeit. Eine Sklavin, die zur Normannin erhoben wurde.

Eine Sensation.

Die jungen Frauen standen in einer Reihe vor dem Jarl. Dieser beäugte jede Einzelne eingehend, ehe er sich an die Zuschauer wandte.

„Die Winterstarre hat alles Leben zur Langsamkeit gezwungen", sprach er. „Die Todesahnung hat uns gestreift. Aber man spürt es in der Luft, es dringt schon neues Leben aus der Tiefe, verborgen reift der Frühling heran. Ein langes Jahr haben wir hinter uns, ein neues Jahr steht an. Ein Jahr, in welchem wir die Welt erobern möchten und neue Bündnisse schliessen wollen. Es ist heute in der langen Nacht an der Zeit, die jungen Frauen unserer Sippe in die ewige Gemeinschaft einzuweihen! Ganz besonders freut es mich, dass wir heute zum ersten Mal in der Geschichte Nordjütlands eine Fremde in unsere Kreise aufnehmen."

Ein Raunen ging durch die Menge und Aveline spürte, wie sich alle Blicke in der Halle auf ihren Rücken bündelten.

„Wer mit Loyalität, Wille und Mut beweist, dass sie unseresgleichen würdig ist, die hat es verdient, in meine Sippe aufgenommen zu werden", fuhr Ragnar fort. „Wer dem widersprechen möchte, soll jetzt die Hand heben oder für immer schweigen."

Er verstummte und liess seinen Blick über die Zuhörer gleiten, gab ihnen Zeit und die Möglichkeit, sich gegen seinen Beschluss zu stellen. Aveline hielt den Atem an und versuchte, möglichst selbstbewusst in die Gesichter zu schauen, welche sie argwöhnisch musterten. Es war keine Handbewegung im Raum zu vernehmen. Ein Schmunzeln zog sich über Ragnars Lippen.

„So sei es also", raunte er und lockte die Mädchen mit einer Hand zu sich. „Nun kommt näher, meine schönen und mutigen Kinder. Empfangt den Ring unseres Bündnisses. Den Ring, der für immer und ewig eure Verbundenheit zur Sippe herstellt. Den Ring, der euch diese Ehre gebührt!"

Das braunhaarige Mädchen, welches vor Aveline stand, trat als erstes auf den Jarl zu und liess Ragnar den Ring um ihren Oberarm legen. Er beugte sich zu ihr runter und hauchte ihr etwas ins Ohr. Dann war bereits Aveline an der Reihe. Ihre Knie wackelten, als sie näher kam. Sie blickte ihm in seine glänzenden Augen, was er bloss mit einem zufriedenen Lächeln erwiderte. Seine Finger wickelten sich um ihren Oberarm, als er ihr den Ring anlegte.

„Trag ihn mit Stolz und schenke ihn nur dem ehrwürdigsten Krieger!", flüsterte er in ihr Ohr. Sein Atem prallte an ihre Ohrmuschel und jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wich rückwärts zurück und reihte sich wieder ein.

Als allen Mädchen die Ringe angelegt worden waren, erklangen abermals drei kräftige Trommelschläge. Es war, als hätte die Meute bloss darauf gewartet, denn jäh brach ein tosender Applaus aus. Die Leute sprangen auf, sangen und klatschten und umarmten sich.

Aveline spürte, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste. Niemand hatte ein Wort gegen Ragnar eingelegt. Sie war kommentarlos von der Gemeinschaft aufgenommen worden. Während um sie herum ein Chaos aus Freude und Jubel herrschte, strahlte sie über ihr ganzes Gesicht. Sie war glücklich.

Sie war frei!

Die ganze Last der letzten Zeit fiel ihr von den Schultern. Sie fühlte sich auf einmal so viel leichter. Für einen Augenblick blieb sie in der wild gewordenen Menge stehen, rührte sich nicht. Sie schloss die Augen und genoss das überwältigende Gefühl der Erleichterung und des absoluten Glücks, das in ihr Herz strömte.

Schwungvolle Musik ertönte und die Normannen begannen sich rhythmisch zu den Klängen zu bewegen. Plötzlich wurde Aveline von zwei Händen aus ihrem Rausch gerissen. Loki torkelte grinsend vor ihr.

„Zeit zu tanzen, oh holde Walküre!", rief er und wirbelte sie um sich. Er hielt sie an der einen Hand fest und legte seinen Arm um ihre Taille. „Ich dachte mir doch, dass du dich gut anfühlst", sagte er freundlich grinsend und zog sie näher an sich heran.

Aveline stockte der Atem. So nah war sie dem Lockenschopf noch nie gekommen.

„Loki, ich muss dich enttäuschen, aber ich kann nicht tanzen."

Dieser prustete laut los. „Ach was!", erwiderte er. „Das ist ganz einfach. Wir Normannen haben keine komplizierten Tänze. Es wird einfach hin und her gewackelt. Ich zeig dir wie es geht. Beweg dich mit mir mit." Er begann, sie beide zum Takt der Musik durch den Raum zu schieben. „Siehst du?"

Aveline musste lachen. Er hatte recht. Es war gar nicht so schwierig, sich zu dieser Musik zu bewegen und im Trunk fühlte es sich gar nicht mal schlecht an. Sie genoss, wie die Luft von den Drehungen ihr den Nacken kühlte und wie sich Lokis lockere Bewegungen anfühlten. Den Schmerz in ihren Füssen hatte sie taub getrunken. Sie spürte nichts, nur diese unbeschreibliche Freude in ihrem Herzen.

Das Stück war zu Ende und Aveline hoffte, dass sie sich auf der Sitzbank ihres Tisches kurz ausruhen könnte, aber da hatte sie nicht mit den anderen Junggesellen gerechnet, die sich um sie bereits geschart hatten, um sie zum Tanz aufzufordern. Loki übergab Avelines Hand dem Nächsten und winkte ihr grinsend zu.

„Viel Spass. Dir werden nach dem hier die Füsse schmerzen!"

Der nächste junge Mann mit dunkelblondem Bart und kahlem Kopf hielt ihr höflich die Hand.

„Ein Tänzchen?", bat dieser.

Aveline blickte hinter Loki her, aber nickte dann zustimmend. Es sprach nichts gegen einen weiteren Tanz. Die Bewegungen des zweiten Tänzers waren allerdings weniger geschmeidig als jene von Loki. Aveline bedankte sich am Ende des Stückes bei dem jungen Mann und wollte zurück an den Platz, da nahm ein dritter Bursche mit hellblonden kurzen Haaren und grünen Augen ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Aveline war etwas ausser Atem. Ihr Gesicht glühte, Schweissperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Es war wirklich heiss in der Halle.

Der dritte Mann blickte sie freundlich an, sie schwangen sich etwas langsamer tanzend durch die Menge. Sein intensiver Blick war ihr etwas unangenehm. Es war, als durchbohre er sie fast mit seinen Augen. Sie lächelte ihn dennoch höflich an.

„Deine Augen sind wie goldener Bernstein", flüsterte er und Aveline spürte, wie er sie bei den Worten noch näher zu sich heranzog. „Wir glauben, dass das die Tränen Freyas sind, die ins Wasser gefallen sind und sich zu goldenen Steinen verwandelt haben. Alles, was von Freya kommt, ist vollkommene Schönheit."

Aveline spürte die Hitze in ihre Wangen steigen. Ein solches Kompliment hatte sie noch nie erhalten.

„D-Danke", stotterte sie und wich seinen grünen Augen aus.

Der Mann zog sie jedoch fester zu sich heran, sodass sich ihre Lenden berührten. Das Stück endete und erst dann gelang es ihr, sich von seinem klammernden Griff zu lösen. Sie bedankte sich freundlich lächelnd und ging hastig zum Tisch zurück.

・・・

Als sie sich auf der Sitzbank ausruhte, wischte sie sich den Schweiss von der Stirn. Salka und Hjalmar gratulierten ihr mit einer dicken Umarmung, die sie ihnen gerne schenkte. Loki und Audgisil waren in einem Trinkwettkampf verwickelt, bei welchem sie so schnell wie möglich drei Becher Bier leerten und sehen wollten, wer dies schneller hinbekam. Es schienen alle noch immer in bester Laune zu sein.

Nur Rurik sass schweigend da, seine Augen unablässig auf ihr.

„Wir müssen reden", sagte er, als niemand zuhörte.

Aveline blickte ihn verwundert an. „Ja, natürlich", antwortete sie. „Hier?"

„Nein, da hinten."

Er stand auf und steuerte auf eine ruhigere Ecke in der Versammlungshalle zu. Aveline folgte ihm durch die Menschenmenge. Der Tisch, welcher dort stand, war leer. Nur eine betrunkene Person lag auf der Bank und schnarchte. Rurik lehnte sich mit der Schulter an die Wand, seinen Rücken der Festhalle zugedreht. Aveline stellte sich vor ihm hin, die Ecke des Raumes in ihrem Rücken. Sie waren hier unter sich.

Sie verschränkte die Arme vor sich. „Was willst du?", fragte sie, als Rurik nicht von selbst zu sprechen begann.

Er kratzte sich mit einer Hand an den Bartstoppeln. Sein Blick war fest auf sie gerichtet. Er selbst trug eine schwarze Tunika mit silbernen Stickereien und dazu eine dunkle Lederhose. Die Haare waren offen, seine goldenen Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Auch er war an diesem Abend elegant gekleidet.

„Hat dich Ragnar irgendwie ... angefasst?", wollte er wissen.

Aveline schüttelte den Kopf. „Nein. Warum?"

Rurik zuckte mit den Schultern. „Ach, nur so. Er ist manchmal ein alter Lustmolch."

Sie nickte langsam und wartete, ob er noch mehr sagen wollte. Er wirkte fahrig, als beschäftige ihn etwas.

„War das alles, worüber du mit mir reden wolltest?"

Sie spürte, dass da noch mehr war. Seine Augen funkelten irgendwie bedrohlich. Er schwieg einen Moment lang und atmete fest durch die Nase ein.

„Ich weiss von deinem Fluchtvorhaben", offenbarte er schliesslich.

Avelines Herz setzte einen Schlag aus. „W-Was?", stiess sie aus. „Was meinst du?"

Er trat einen Schritt näher und trieb sie in die Ecke. Sie wich seinem Blick aus, rieb sich den Oberarm. Niemand schien sie zu sehen oder zu hören. Die Menge hinter ihnen feierte fröhlich weiter. Keiner bemerkte ihre Bedrängnis.

„Du weisst ganz genau, was ich meine!" Seine Stimme klang plötzlich härter, rauer. „Am Tag des Angriffes wolltest du flüchten. Ich habe in der Nacht einen Pelz und meine Jagdausrüstung gefunden. Draussen auf dem Boden am Waldrand. Du warst kurz davor, abzuhauen!"

Seine Schultern und Arme spannten sich an. Aveline machte sich kleiner. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken, vom Glücksgefühl und all dem Bier getrübt. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte.

Er wartete auf ihre Antwort, erstach sie mit der Kälte seines Blickes. Sie biss sich auf die Unterlippe und entschied sich für die Wahrheit. Viel konnte sie nicht mehr verlieren. Frei war sie ja. Und sie kannte Rurik. Er würde es in ihren Augen sehen, dass sie ehrlich war.

„Du hast recht", hauchte sie. „Ich wollte davonrennen." Sein Blick verfinsterte sich, weshalb sie weiter erklärte: „Als ihr am Thing wart, war das meine einzige Möglichkeit. Richard hätte mir nichts antun können und Salka war zu schwanger, um mir nachzujagen. Ich wollte einfach nur noch weg."

Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu blicken, doch spürte sie, dass er sie anfunkelte. Die Anspannung seines Körpers, die sich mit dem Ballen seiner Fäuste nur verschlimmerte, verhiess nichts Gutes.

„Und warum?", knurrte er.

Aveline seufzte tief. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte genug von eurem brutalen Leben."

Er senkte seinen Kopf zu ihr herab, die Zähne gebleckt. „Du dachtest wirklich, dass du eine Flucht schaffen könntest?", grollte er. „Du weisst ganz genau, welche Strafe einem Sklaven droht, der auf der Flucht gefangen genommen wird."

Ihr Kinn zitterte. „Ich hatte Angst vor euch. Ich musste es versuchen."

Daraufhin schüttelte Rurik verständnislos den Kopf. „Salka und Hjalmar haben dich nie schlecht behandelt", entgegnete er. Aveline hob die Lider und begegnete seinem Blick. Sie meinte Enttäuschung in seinen Augen zu lesen. „Du brauchtest dich vor nichts fürchten. Du wurdest ja förmlich als eine unseresgleichen behandelt."

Sie schluckte leer. „Ja, das ist richtig. Salka und Hjalmar waren immer gut zu mir", murmelte sie.

„Dann verstehe ich nicht, warum du sie am Tag von Sveíns Geburt mit diesen Pilzen vergiften wolltest?", knurrte er. Seine Augen blitzten sie böse an.

Aveline blieb das Herz in der Brust stehen. „W-Was?", stotterte sie.

„Du wolltest sie vergiften!", fauchte er.

Sie fühlte sich überrumpelt, missverstanden. Wie in aller Welt war er zu dieser Schlussfolgerung gekommen?

„Nie in meinem Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, euch sowas anzutun!", sagte sie entsetzt. „Wie kannst du es wagen, von mir zu denken, ich sei wie ihr! Ich bin kein Monster!"

Rurik drängte sie tiefer in die Ecke. Aveline spürte das Holz im Rücken. Sie war eingekesselt und konnte nicht mehr an ihm vorbei. Er kam ihr näher, sodass sich ihre Körper beinahe berührten.

„Was wolltest du mit den Pilzen? Die sind tödlich, ich weiss das."

„Ja, das stimmt. Sie sind tödlich."

„Eben! Wen wolltest du damit töten? Salka? Hjalmar? Mich? Sag schon!"

Rurik schlug mit der Faust an die Wand, sodass Aveline aufzuckte und die Augen fest zusammenkniff.

„Mich selbst", wimmerte sie. Ihre Stimme brach und sie musste den Schluchzer, der ihr in die Kehle kroch, herunterschlucken.

Stille.

Unangenehme Stille, trotz des tobenden Festes hinter ihnen.

Aveline öffnete ihre Augen. Vorsichtig. Rurik stand vor ihr, diesen entsetzten Ausdruck im Gesicht. Er senkte die Faust.

„Was?", stiess er aus. „Dich selbst ...? Warum?"

Da wurden sie unterbrochen.

„Entschuldigung. Was geschieht hier?", sprach jemand hinter Rurik.

Dieser drehte sich ruckartig um. Aveline stiess erleichtert die Luft aus. Es war Luca, der da stand. Als sich ihre Blicke trafen, entglitten Luca die Gesichtszüge und der schwere Krug, den er in der Hand gehalten hatte, fiel klirrend auf den Boden. Die Flüssigkeit entleerte sich über die Holzdielen.

„Aveline!", stiess Luca aus. „Du ... du lebst!" Seine Augen waren weit aufgerissen, als hätte er ein Gespenst gesehen.

„Verschwinde, Sklave!", fauchte Rurik.

Luca schien zu zögern. Aveline wusste, dass es nichts gab, was er tun konnte. Nicht in seiner Lage. Rurik machte eine Drohgebärde in Lucas Richtung, was ihn rückwärts ins Stolpern brachte. Aveline wollte die Ablenkung nutzen, um aus ihrer Einkesselung zu schlüpfen, aber Rurik packte sie am Handgelenk und warf sie zurück an die Wand.

„Warte!", befahl er.

Vom Aufprall wurde ihr die Luft aus den Lungen gestossen. Er lehnte seinen Körper gegen ihren, sodass sein Knie in ihren Oberschenkel stach.

„Hau ab!", rief Rurik Luca nach, der schleunigst wieder in der Menschenmenge verschwand.

„Rurik, du tust mir weh", keuchte Aveline. Seine Kraft presste ihr das Leben aus dem Leib.

Er liess sofort von ihr ab und trat einen Schritt zurück.„Entschuldige."

Sie blieb zittrig stehen, während er sie betrachtete.

„Ich wollte dir nicht wehtun."

Seine Stimme klang weniger wütend wie soeben. Sie nickte bloss. Rurik strich sich mit der Hand durch die Haare. Er seufzte.

„Ich verstehe nicht, warum du das tun würdest. Dein eigenes Leben beenden. Warum wolltest du das?"

Aveline starrte auf ihre Füsse. Sie rang nach Worten. Ein Kloss hatte sich in ihrem Hals gebildet. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Was gab es da nicht zu verstehen?

„Ich konnte einfach nicht mehr, Rurik", flüsterte sie und da geschah es. Eine Träne löste sich von ihren Augen, rollte über ihre Wange und tropfte auf den Boden. „Ich wollte nicht mehr leben." Die Worte taten ihr weh - aber sie waren voller Wahrheit. Sie hob den Blick und fand seine Augen.

„Ich habe alles verloren. Mein Zuhause, meine Familie, mein altes Leben. Diese Schweden haben mir das Letzte genommen, was ich noch hatte. Sie haben mir meine Seele geraubt." Mehr Tränen rannen über ihr Gesicht. „Ich hatte einfach die Kraft nicht mehr, jeden Morgen die Augen zu öffnen und mich diesem elenden Leben zu stellen."

Ruriks Brust hob und senkte sich mit seinen Atemzügen. Er blieb stumm, hörte zu, was sie zu sagen hatte und mit jedem schmerzlichen Wort, das aus ihr drang, wurde sein Blick weicher.

Es war, als hätte sich ein angezogener Knoten gelöst. Aveline liess ihren Worten und Gefühlen freien Lauf und erzählte ihm alles, was all die Zeit in ihr gebrodelt hatte. Alles, was sie Richard erzählt hätte, wenn er nicht wegen ihr gestorben wäre.

Sie erklärte Rurik, dass sie ihre Flucht fast geschafft hätte, wenn sie nicht für ihren Dolch zurückgekommen wäre. Sie erzählte ihm, dass sie Salkas Hilferuf gehört hatte und deswegen in die dunkle Stube getreten war, nur um in die Hände dieser grässlichen Schweden zu fallen. Sie sagte ihm, welch schlechtes Gewissen sie jeden Tag plagte, weil sie nicht auf Richard gehört hatte und sie mit anschauen musste, wie er ermordet worden war. Sie sagte ihm, dass Richards weit aufgerissene Augen und sein angsterfüllter Blick sie bis heute noch in den Träumen verfolgte. Sie schilderte ihm, welch abscheulichen Dinge die Schweden ihr im Arbeiterhaus angetan hatten und wie schrecklich hilflos und alleine sie sich gefühlt hatte, die unbeschreibliche Angst, die sie gefühlt hatte. Wie mit jedem Wimpernschlag, den sie an diesem Balken gehangen hatte, ihre Hoffnung auf Rettung langsam geschwunden war.

Während sie ihm all das schilderte, liefen ihr die Tränen unaufhörlich über die Wangen. Je mehr sie offenbarte, desto erleichterter fühlte sie sich. Als ob ihr eine Last von den Schultern genommen wurde. Als hätte sie ihm die Bürde ihres Lebens in die Hände gelegt.

Rurik hörte ihr aufmerksam zu, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich habe mir in den Tagen danach nur gewünscht, dass ich doch einfach an dem Abend gestorben wäre", beichtete sie und sie sah, wie Rurik bei diesen Worten leer schlucken musste. „Ich konnte nicht mit diesem Schmerz und dieser Schuld leben. Ich wollte das einfach nicht. Nie in meinem Leben hätte ich deiner Familie etwas angetan, Rurik. Das musst du mir glauben."

Er nickte langsam vor sich hin. Seine hellen Augen schienen bedrückt im Licht des Feuers. Er räusperte sich.

„Es hat mich so wütend gemacht, als ich gesehen habe, was diese Männer mit dir und Richard getan haben." Ein Seufzer entkam seiner Brust. „Sie zu töten war einfach nicht genug. Es tut mir ehrlich leid, was dir an dem Tag passiert ist. Wenn ich könnte, dann würde ich diesen Tag rückgängig machen."

Ein müdes Lächeln huschte Aveline über die Lippen. Seine Worte waren tröstend gemeint. Das wusste sie.

„Was geschehen ist, ist geschehen", flüsterte sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann hob sie die Lider und erwiderte seinen intensiven Blickkontakt. „Du hast mich in eine wirklich schreckliche Welt gebracht. Das hier ist nicht mein Zuhause."

Seine Augen jagten zwischen ihren hin und her. Sie sah einen Schmerz darin. „Du willst wirklich gehen?"

„Du glaubst doch selbst nicht, dass ich nach all dem noch hier bleiben wollen würde."

Er trat einen Schritt auf sie zu und vernichtete den Abstand, der sich zwischen ihnen gebildet hatte. Seine Körperhitze übertrug sich auf sie. Aveline konnte beinahe seine Aura auf der Haut fühlen. Er senkte den Kopf und sprach leiser.

„Wenn du hier bleibst - als freie Frau - wirst du sehen, dass unsere Welt eine schöne Welt sein kann. Du hast sie nur noch nicht gesehen", raunte er.

Aveline schüttelte jedoch den Kopf. „Ich wollte das hier nie. Wenn ich die Möglichkeit habe, zu gehen, dann tue ich das."

„Ich könnte dir unsere Welt zeigen."

„Rurik. Du ... du kannst mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Ich habe genug gesehen."

Sie wollte gehen, denn mehr hatte sie ihm nicht zu sagen. Seine Versuche, sie davon abzuhalten, in ihre Heimat zurückzukehren, würden nicht fruchten. Sie drückte sich an ihm vorbei, doch er versperrte ihr den Durchgang. Fragend blinzelte sie zu ihm hoch.

„Bitte lass mich durch."

„Du kannst nicht einfach so gehen", sagte er.

„Warum nicht?"

Sie war eine freie Frau. Eine Normannin. Sie durfte jetzt tun und lassen, was sie wollte und sie durfte gehen, wohin es sie gelüstete.

Ruriks Kiefer mahlte. Er trug innerlich einen Kampf aus, der nach aussen trat. Seine Atmung ging schneller als davor, als hätte ihn die Aussicht, Aveline würde Vestervig verlassen, zu sehr aufgewühlt. Er legte seine Hand an ihre Wange. Eine Berührung so sanft und sehnsuchtsvoll.

„Deswegen", sagte er und drückte seine Lippen auf ihre.

Avelines Herz zerbarst in ihrer Brust. Es war ein leidenschaftlicher Kuss. Ein lang ersehnter, heisser und fordernder Kuss, den er ihr schenkte.

Die ganze Welt um sie herum stand auf einmal still und die Luft vibrierte im Takt der Musik.

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