KAPITEL 23

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(Nicht überarbeitet!)

RUBY

»Du hast damals die Schule abgebrochen? Das heißt ... du hast keine Hochschulreife?«

Ungläubig sah ich ihn an.
Er grinste.

»Erstaunlich nicht? Kein hochangesehener Abschluss und doch ein hochangesehener Mann.«

Das war wahrhaftig erstaunlich.

»Professoren, Lehrer, Erzieher ... diese ganzen Pädagogen lassen uns Kinder ein Leben lang in dem Glauben, dass wir es nur mit Einsen auf der Schulbank gut ins Leben schaffen werden. Dabei vergessen sie und wir alle, dass wir längst in diesem Leben sind und dass es unser Leben ist. Schulnoten sind unser Ticket für die Universität, aber sie sind nicht das, was uns ausmacht. Wir sind keine Noten, keine Leistungen. Wir sind Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.
Ob ein jemand gute Noten schreibt oder schlechte macht nicht aus, wie viel Wert er in sich trägt und wie wertvoll er für diese Gesellschaft ist.
Ich fand damals, dass genau dieser Eindruck nie entstand. Lehrer hatten ihre Lieblinge, weil diese ihren Unterricht geführt haben und der Rest war halt der Rest. Mich hat das unfassbar wütend gemacht, vor allem, weil die Individualität eines jeden vollkommen missachtet wurde. Da gab es diese fünf, sechs Plappermäuler, die ständig die Hand hoben, aber alle, die keine großen Reden schwingen wollten, es sich nicht trauten oder unsicher waren, die wurden behandelt, als seien sie dämlich, obwohl sie in schriftlichen Leistungen immerzu glänzten.
Das ganze System hat mir nie sonderlich gefallen, aber damals als Schüler wurde ich als kleiner Junge abgestempelt und niemand hat sich um meine Meinung gekümmert.
Als ich so alt war wie du, hat es mir an einem Tag endgültig gereicht. Wir hatten für den Geschichtsunterricht mit meiner damaligen Klassenlehrerin Referate erstellen sollen und waren mittendrin, diese vorzustellen. Zuletzt hatte ein ziemlich stilles Mädchen einen bomben Vortrag über die britische Monarchie gehalten, der inhaltlich einfach nur geglänzt hatte. Nachdem sie fertig war, bekamen wir einen derartig penetranten und widerlichen Vortrag von unserer Lehrerin gehalten, der mich wortwörtlich fassungslos mit dem Kopf hat schütteln lassen.
Sie hat uns – und besonders dieses Mädchen – zur Schnecke gemacht. Von wegen, wir würden viel zu leise sprechen, die gesamte Zeit vorne an der Tafel herumhampeln, das Stottern wäre vollkommen unangebracht, das fehlende Selbstvertrauen ebenfalls und, und, und. Sie hat den gesamten Kurs runtergemacht für die angeblich nicht erbrachte physische Leistung. Aber dass dieses Mädchen nicht einen Fehler gemacht und das Thema mehr als anschaulich und brillant vorgestellt hat, war ihr vollkommen gleichgültig gewesen.
Ihr Gespotte war ein direkter Angriff auf den individuellen Charakter eines Menschen und an diesem Tag habe ich dafür eingestanden.
Ich fand das Verhalten vollkommen ungerecht und die Note von einer schlechten drei total unpassend.
Dafür, dass man nicht sonderlich selbstbewusst und laut ist, kann ein Mensch doch nichts und gerade wegen solcher Lehrer und solcher Worte verliert ein Mensch doch erstrecht sein Vertrauen in andere und sich selbst.«

Dem stimmte ich kompromisslos zu. Wenn ein Mensch an etwas kaputt ging, dann an anderen Menschen.
Es waren immer die eigenen Wesen, die sich untereinander fertig machten. Und das war grausam und schrecklich.

»Als sie den nächsten aufforderte, sein Thema vorzustellen, habe ich mich freiwillig gemeldet, meine Präsentation aber kurzfristig noch einmal umgestellt.
Ich habe den Drang gehabt, dieser Schrulle zu zeigen, was in einem Menschen steckt und mit wie viel Respekt sie mir und allen andere entgegenzukommen hatte, wollte sie kein blaues Auge davontragen. Ich habe selten einem Menschen gedroht, niemals einem Lehrer, aber an diesem Tag kam es mir vollkommen richtig vor. Ich habe es sagen müssen.
Ich bin also nach vorne und habe ihr ihre Anschuldigungen um die Ohren gefegt. Sie hat schlechte Kritik an uns Schülern geäußert. Ich habe für Gleichberechtigung gesorgt und Kritik an ihr geäußert. Mein Vortrag hieß: "Zivilcourage und Respekt – Wie man ein schlechter Mensch, in Klammern, Lehrer, wird."«

Tyson grinste bei der Erinnerung. Ich nickte andächtig. Das war ... sehr direkt.

»Ich kann dir sagen, diese Frau ist an die Decke gestiegen. Ihr Gesicht ist puterrot angelaufen und sie hat mich sofort aus ihrem Unterricht geworfen, mir gesagt, ich würde es mit einer solchen Frechheit niemals weit im Leben bringen und solle mich in Zukunft besser hinter den Ohren waschen.«

»Und was hast du darauf gesagt?«

»Ich habe gegrinst, meine Tasche gepackt und ihr gesagt, dass ich lediglich meine Meinung geäußert habe und das, laut dem Gesetzbuch, mein gutes Recht ist. Außerdem war ich von der Sicherheit überzeugt, dass ich es in weniger als zwei Jahren zu mehr bringen würde, als sie in ihrem ganzen Leben erreicht hatte.
"Man sieht sich immer zweimal im Leben, Frau Rosewell", habe ich gesagt und ihr zugezwinkert, bevor ich den Raum für immer verlassen habe. Und es war die beste Entscheidung meines Lebens.«

Offensichtlich.

»Und habt ihr euch ein zweites Mal gesehen?«

Tyson grinste.

»Aber natürlich. Ich gehe bis heute zu jedem Elternsprechtag meiner Brüder und bringe ihr die neueste Ausgabe der Times, mit mir auf dem Titelbild, mit, damit sie sieht wie sauber es hinter meinen Ohren ist«, lächelte Tyson schwärmend und zeigte mir beim Lachen seine Zähne. Er schien sich köstlich zu amüsieren, weil er dieser armen Frau gezeigt hatte, in welche Richtung der Hase wirklich lief.
Dass Tyson von heute auf morgen in die High Society Britanniens aufgenommen worden war und als einer der begehrtesten Junggesellen und reichsten Unternehmer Londons galt, musste schon gehörig am Ego dieser Frau kratzen.

»Und das nimmt sie einfach so hin?«

»Was soll sie sonst tun? Mich verklagen? Mich verpetzen? Diese Frau hat keine Macht über mich, die hat sie nie gehabt, und das weiß sie heute ganz genau. Heute, wo sie gelernt hat, nicht mehr auf mich herabzusehen und mit Furcht in Berührung gekommen ist. Ich will mich nicht wie ein Macho aufführen, aber dafür dass sie uns Schüler damals klein gemacht hat, mache ich sie heute klein, damit sie sieht, wie es ist und was Worte mit der Psyche machen. Mein Unternehmen spendet jährlich eine Menge Geld an die Schule, ich bin einer der Hauptsponsoren und sie weiß ganz genau, dass die Dinge im Notfall immer für mich laufen und gegen Rosewell.
Ich müsste nur meinen kleinen Finger rühren und sie wäre bis an ihr Lebensende arbeitslos. Das nenne ich Karma.«

Das war Karma.

»Wow«, stieß ich meine Überraschung aus und musste ehrlich gestehen, dass diese Geschichte sehr prägnant war. Sie zeigte einen Großteil von Tysons Charakter bei dem ich im Laufe der Wochen festgestellt hatte, dass er von unheimlich starker Liebe und Reinheit geprägt war.

Er war ein Mann, der mit seinem Herzen lebte, seltener mit seinem Kopf und das gefiel mir ungemein. Zudem war er ein störrischer und willensstarker Mann. Er war kreativ, hatte Ideen und wusste sich seinen eigenen Weg durch diese Welt zu bahnen.

Ich bewunderte ihn. Ich wollte nicht zu schwärmerisch klingen, aber ich bewunderte ihn. Für alles, was er erreicht hatte und dafür, dass er trotz allem ziemlich bodenständig geblieben war. Natürlich bezog er ein teueres Haus und fuhr einen schicken Wagen, aber auch dort steckte viel mehr hinter, als man zunächst glaubte.

Der schwarze Porsche 911 war Tysons aller erstes Auto gewesen. Sein Großvater, der neben all den Menschen, die ich längst kannte, ebenfalls einen wichtigen Platz in Tysons Herz einnahm, hatte ihm diesen Wagen zu seinem neunzehnten Geburtstag geschenkt und Tyson hatte mir versichert, dass er dieses Auto für nichts auf dieser Welt hergeben würde, weil er für alles stand, was er und sein Opa erwirtschaftet hatten.

Landon und Tristan hatten ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert.

Die Villa, so hatte ich erfahren, war ein Gebäude, das Tyson vor dem Abriss gerettet hatte. Der Vorbesitzer hatte es zerstören und ein neueres und moderneres Haus bauen wollen, aber daraus war nie geworden. Für viel mehr Geld, als es damals wert gewesen war, hatte Tyson es mithilfe seiner Eltern gekauft und eingerichtet.

Als er mir vor einigen Tagen über die Anfänge dieses Hauses erzählt hatte, war ich zutiefst beeindruckt gewesen.
Die Wand- und Deckenmalereien waren alle unter Tysons Aufsicht entstanden. Sein eigenes Wohnhaus war eines seiner ersten eigenen Bauprojekte gewesen und in meinen Augen ein Meisterwerk geworden.

»Es war wie ein Spielplatz auf dem ich mich austoben durfte, wie ich wollte. Ein unbeschriebenes Blatt. Und es sollte ein Zuhause werden.«

Und das war es geworden. Dieses Haus war ein Zuhause.
Wunderschön.

»Sind dir die Engel an den Decken aufgefallen?«, hatte er mich gefragt und von Raum zu Raum geführt. Sie waren mir aufgefallen. Am ersten Abend in diesem Haus schon.
In jedem Raum war mindestens ein Engel in weißem Gewand aufgezeichnet und hielt einen Gegenstand oder Buchstaben in der Hand.

»Die Buchstaben sind die Anfänge von Namen. Jeder von uns hat seinen eigenen Schutzengel bekommen. Das "T" im Wohnzimmer steht für Tristan, das "L" in der Küche für Landon. Im Obergeschoss sind das "L" für Louis und "J" für Jonah. Ich habe damals nichts dem Zufall überlassen, wollte aber auch nichts wirklich konstruieren oder planen. Wir waren ein wilder, bunter und individueller Haufen von Blut und keiner von uns wollte in einem Haus der Sterilität leben. Ich hasse Leere. Und deswegen ist dieses Haus voll bis zur Decke. Jeder Raum hat seinen Sinn und an jeder Wand hängt mindestens eine Leinwand, ein Bild oder Gemälde. Ich wollte, dass sich jeder hier verewigte, damit wir niemals vergessen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen werden, wenn wir beisammen sind.«

Bei diesen Worten hatte er auf eines der Familienbilder im Flur gestarrt, war in Erinnerungen versunken.
Und in dem Moment hatte ich ihn noch ein kleines bisschen mehr geliebt, als ich es längst getan hatte.

Wie viel ihm seine Adoptivgeschwister bedeuteten, sah man Tyson schon beim ersten Blick an.
Seine Liebe war unermesslich riesig und ich hatte mich schon so manches Mal heimlich gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn Tyson mich lieben würde.

Er war nicht wie die Jungen und Männer, die ich kannte oder kennengelernt hatte.
Er war nicht wie die anderen. Einer, der angab, nur Markenklamotten trug, Mädchen unverschämt auf der Straße hinterher pfiff, für seine Karriere starb und Geld vor alles schob, das dieses Leben wirklich lebenswert machte.

Nein, im Gegenteil. Tyson kämpfte mit Herzblut für das, was ihm wichtig war, er gab Opfer für die, die er liebte und alles ergab bei ihm einen Sinn. Er war leidenschaftlich und gutmütig, aber durchaus auch laut, wenn ihm etwas nicht passte oder er für jemand anderes Recht einstand.

Er war das genaue Gegenteil von mir und deshalb wunderte es mich täglich mehr, wie es dazu kam, dass er mir das Gefühl vermittelte, ihm etwas zu bedeuten.
Immerhin galt ich in den Medien als der kälteste und widerlichste Mensch aller Zeiten und dazu als ziemlich verzogen, hochnäsig und unfreundlich.
Man warf mir vor, meine Familie, das, was Tyson am teuersten war, umgebracht zu haben und es gab keine Beweise dafür, dass es nicht auch wirklich genau so war.
Trotzdem behandelte mich Tyson wie einen Menschen, der seinen Schutz, seine Zuneigung und Freundlichkeit verdient hatte.

Wie war das möglich?
Aus welchem Grund?
Oder verfolgte das einen Plan? War das alles nur inszeniert?
Es fühlte sich zu echt an, als das es unecht sein konnte.
Aber vielleicht war ich zum ersten Mal seit über einem halben Jahr auch zu sehr geblendet, naiv, um das zu sehen, was genau vor mir lag.

Vielleicht ist da aber auch gar nichts.

Wer wusste das schon?

»Was haben deine Eltern dazu gesagt? Ich meine, dass ein Siebzehnjähriger die Schule abbricht ... das muss doch ein Schock für sie gewesen sein«, mutmaßte ich und brachte Tyson abermals zum Lachen.

»Allerdings.« Er warf sich eine Weintraube in den Mund.
»Sie waren fassungslos, als ich ihnen gesagt habe, dass ich nie wieder einen Fuß in diese Schule setzen würde – zumindest nicht als Schüler.
Tagelang haben sie mich darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung Einfluss auf mein ganzes Leben haben würde und ich mir das gut überlegen sollte. Aber das hatte ich längst. Ich wusste, was ich wollte und ich weiß es bis heute.«

Seine Augen bohrten sich in meinen Körper und mein Herz setzte einen Schlag aus, weil ich mich angesprochen fühlte.

»Einige Tage hatten wir ziemlichen Stress miteinander. Für meine zwei ziemlich hochgebildeten Eltern war es unbegreiflich, wieso ich nicht vorhatte, aufs College zu gehen. Ich hatte das Gerede der Erwachsenen zu dem Zeitpunkt langsam wirklich satt. Für einige Tage bin ich ausgerissen und zu meinen Großeltern gezogen.
Sie wohnen mitten in der Stadt in einem kleinen Reihenhaus und die Zeit bei ihnen hat mir wirklich Seelenfrieden spüren lassen.
Weißt du, es ist unglaublich wie verschieden die Perspektiven derer Menschen auf das Leben sind, die aus anderen Zeiten und anderen Lebensverhältnissen stammen. Meine Großmutter ist auf einem Bauernhof aufgewachsen und hat meinen Großvater als sie siebzehn war geheiratet. Und mein Grandpa, er hat auch keinen hohen Bildungsabschluss erreicht. Damals war Schule ein Luxusgut und das hat sich seine Familie einfach nicht leisten können. Er musste auf dem Feld helfen.
Als er so alt wie ich gewesen ist, hat er eine Ausbildung zum Tischler und Schreiner gemacht. Für ihn war es also nicht sonderlich wichtig, ob ich nun lernte oder mir die Hände schmutzig machte.
Er ist ein einfacher, bodenständiger Mann und ich verdanke ihm alles in meinem Leben. Er hat mich damals aufgefangen, vor meinen Eltern verteidigt und mir einen Job in seinem Büro gegeben. Du musst wissen, das, was heute einen Wolkenkratzer besetzt, war damals ein kleiner, unscheinbarer Laden mit drei Büroräumen und mangelndem Platz. Für Architektur und Design hat sich mein Großvater erst Jahre nach seiner Ausbildung interessiert. Aber das Geschäft eignete sich hervorragend, um sich selbständig zu machen und er konnte mit seinem Verdienst auch wirklich gut leben.
Dass er mich, als vollkommen Unerfahrenen bei sich hat arbeiten lassen, war ein großer Akt des Vertrauens. Aber wenn ich es recht bedenke, hatte er dieses Vertrauen schon immer in gewisse Menschen. Mein Grandpa hat die fabelhafte Eigenschaft einen Menschen auf Anhieb zu durchleuchten und ihn zu lesen, wie einen offenen Kartensatz. Er ist ziemlich gutmütig und herzlich und eigentlich mag er jeden Menschen, der es wert ist, geliebt zu werden, auch, wenn er das nicht immer zur Schau stellt.
Als kleines Kind habe ich ihn oft besucht und ihm beim Zeichnen, Skizzierten und Werkeln zugesehen. Seine Arbeit hatte schon immer eine gewisse Faszination für mich, aber als er mir damals seinen Bleistift überreicht und mir die freie Hand gegeben hat, war das, wie ein Versprechen ohne tausend Worte. Ich habe damals eine Leidenschaft entdeckt, die ich zuvor nie in ihren Prägungsgrat betrachtet hatte. Es brauchte nur wenige Wochen und ich schuf meine eigenen Baupläne, wusste was wann, wie und wo zutun war und innerhalb von Monaten brachte mir mein Großvater alles bei, was ich heute wissen muss. Er hat mich vieles, wenn nicht alles gelehrt. Aber ich habe recht schnell bemerkt, dass das was war, noch nicht perfekt war, nicht perfekt für mich. Die Zeit rannte nicht rückwärts, sondern immer vorwärts und man musste mit der Zeit gehen, um nicht aus dem Business gekickt zu werden. Ich habe einige neue Ideen eingebracht, mich mehr und mehr auf Details fokussiert, weil sie letzten Endes die Welt bewegen. Nächtelang habe ich Magazine und Zeitschriften studiert, die Trends im Internet verfolgt und daraus etwas Brauchbares für meine Branche gefiltert. Mein Grandpa war der Chef, aber als ich ihm vorschlug, auf einen neuen Zug zu steigen, alte Partnerschaften mit Firmen zu kündigen und um Deals mit moderneren und renommierteren zu kämpfen, hat er mir nach und nach das Ruder überlassen – mit Stolz und Vertrauen.
Ich mache bis heute keine Sache, ohne ihn um Rat zu bitten, ohne sein Einverständnis, obwohl er mir mittlerweile gänzlich alles überschrieben hat, was einmal sein war. "Man wird nicht jünger, Tyson, und ich weiß, du bist längst so weit, dass du dein eigenes Ding durchziehst. Du brauchst meine Erlaubnis nicht länger, aber ich werde immer für einen Ratschlag hinter dir stehen." – diese Worte haben sich in meinen Verstand gebrannt. Es waren die Sätze, die mich von innen heraus in all das haben vertrauen lassen, was ich vorhatte und mir gedanklich vorstellte.
Mein Großvater hat immer an mich geglaubt und das hat mir die Kraft gegeben, meine Träume zu jagen und sie zu verwirklichen.
Und da sehen wir, was den Menschen wirklich antreibt und ihn wachsen lässt, zu dem Menschen macht, der er wirklich ist. Es sind keine Noten, keine Tests und Hausaufgaben. Es ist das, woran wir glauben und die, die an uns glauben und immer an uns glauben werden.
Wer eine Vision hat, sollte nicht daran denken, ob er gut genug ist, sondern wissen, dass er immer und jeder Zeit genug ist und er alles erreichen kann, was er möchte, wenn er es wirklich will. Eine leistungsorientierte, voll studierte Frau wie Rosewell wird das niemals sehen. Sie wurde immer schon von innerlichem Hass angerieben und das hat sie erkälten, am Boden festfrieren lassen. Bis heute.«

Für einige Minuten herrschte Stille. Ich musste verarbeiten, was Tyson mir alles erzählt hatte und er hatte sich die Schüssel Weintrauben neben sich auf dem Esstisch geschnappt und begann sie Stück für Stück, Traube für Traube, zu leeren.

Ich musterte ihn, während er aß. Versuchte einzuschätzen und zu sehen, was an diesem Mann mich so sprachlos machte. Je mehr er von sich preisgab, desto mehr sah ich seine Seele an der Oberfläche glänzen und den guten Menschen in ihm strahlen.
Tyson war ein faszinierender Mann und ich war fest davon überzeugt, dass er alles Gute verdient hatte, das ihm im Laufe seines Lebens je begegnet war und noch begegnen würde.
Ich hoffte, dass er niemals sein Selbstbewusstsein verlor, sein Lächeln und die Zuversicht, dass Träume es verdient hatten, verfolgt zu werden.
Egal wie groß oder klein sie auch sein mochten.

Unbemerkt fühlte ich mich selbst von seiner Rede berührt und bewegt, als hätte er die Worte bewusst an mich gerichtet.

Obwohl er es nicht nötig hatte, gab Tyson leiseren und unauffälligeren Dingen einen Wert, schrieb dem Unsichtbaren Bedeutung zu und das erfüllte mich tief innerlich und wärmte meinen Körper. Tatsächlich fühlte ich mich neben Tyson wertvoll und geschätzt. Ich fühlte mich gehört und gesehen und er gab mir etwas zurück, das ich vor langer Zeit verloren hatte.
Einen Teil meiner Selbst.

Vielleicht war er für mich das, was für ihn immer sein Großvater sein würde.
Vielleicht war er dieser eine Mensch, der an einen anderen Menschen glaubte, der von dessen Ideen überzeugt war und ihm blindes Vertrauen schenkte.
Vielleicht war das der Grund, weswegen ich hier war und er sich noch nicht ein einziges Mal feindselig über mich geäußert hatte.
Vielleicht hatte er mich gesehen, und mehr gesehen, als alle anderen in mir sahen.
Und vielleicht brauchte er keine Worte, um zu wissen, dass ich es wert war, gut behandelt zu werden.
Vielleicht sah er, dass auch ich Träume hatte. Den großen Traum nach all der Zeit endlich einmal wieder ich selbst sein zu dürfen und ...
vielleicht war Tyson hier, um mir zu helfen, diesen Traum zu erfüllen.
Vielleicht sah er mich längst. Den Menschen, von dem heute nur noch ein Schatten übrig war.
Vielleicht wollte er diesen Menschen, nicht die Hülle.
Vielleicht wollte er tatsächlich mich.

Vielleicht liebte ich ihn längst – genau deswegen.

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»Dein Großvater scheint ein äußerst bewundernswerter Mann zu sein«, stellte ich trocken fest.

»Das ist er. Ich wäre nicht der, der ich heute bin, ohne ihn.«

»Dann muss ich ihm wohl danken. Er hat einen fabelhaft küssenden Enkel großgezogen.«

Verspaßt lächelte ich Tyson zu und bekam ein verspieltes Zwinkern zurück.
»Tatsächlich, sind meine äußerst perfekten
Küss-Fähigkeiten – die Frauen gelegentlich in Ohnmacht fallen lassen – ein angeborenes Talent. Aber danke, für das Kompliment.«

»Perfekt? Nun, ich habe noch nicht sonderlich viele Erfahrungen im Küssen gemacht. Ich denke, ich werde noch ein wenig sammeln müssen, um sagen zu können, dass dein Kuss perfekt war.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, entwich Tyson ein animalisch klingender Laut, der einem Knurren glich.

Wie vom Blitz getroffen, erhob er sich vom Esstisch, auf dem er bis vor ein paar Sekunden wie selbstverständlich gesessen hatte, und kam mit der Schüssel voll Weintrauben auf mich zugelaufen, die im Schneidersitz auf der Kücheninsel saß und bis eben Sicherheitsabstand gehalten hatte, um nicht im Herzrasen umzukommen.

Was nach und nach mit mir geschah, war nicht mehr normal.

Tyson blieb unmittelbar vor mir stehen. Stumm stellte er die Obstschale mit den Trauben, die, wie ich festgestellt hatte, zu seinen liebsten Früchtesorten zählten, neben mich auf die Anrichte und griff mit den freigewordenen Händen um meine Taille, um mich näher an sich zu ziehen.

Was auch immer der gestrige Tag getan hatte, er hatte ein Heute erschaffen, in dem wir beide uns näher waren als jemals zuvor und es fast so schien, als wären wir ... zusammen.

So richtig zusammen.

Betrachtete man es recht, verhielten wir uns schon seit einiger Zeit genau so.
Wie zwei alte Esel waren wir uns immer wieder näher gekommen, hatten gezankt und gelacht und waren eifersüchtig gewesen.
Aber dass wir aussahen wie ein richtiges Pärchen?
Das erschien mir erst seit heute so. Ich wusste nicht, wie ich das finden sollte.
Ich hatte den Kuss begonnen, aber war er wirklich von entscheidender Bedeutung gewesen? Änderte er irgendetwas? Wollte ich das?

»Willst du mich ärgern, Prinzessin?«, fragte Tyson leise raunend, seine Stimme ein bitterer Ton aus Ernsthaftigkeit, Zorn und gefährlich anziehender Spiellust, Provokation.

Wollte ich ihn ärgern?
Mit Sicherheit. Es gab nichts amüsierenderes als einen Tyson, der aus seiner Haut fuhr.

»Und wenn es so wäre?«

»Dann sollte ich dir sagen, dass du nicht scheiterst. Du triffst rote Punkte in mir. Aber eines lass dir gewiss sein. Diese Lippen werden nur Erfahrungen mit meinen machen. Ich werde dich in Zukunft so oft und so verschieden küssen, dass du alles erfährst, was du sammeln wolltest, um zu wissen, dass meine Küsse mit Sicherheit perfekt sind. Es gibt niemanden, der so ist wie ich und ich werde dafür sorgen, dass das auch so bleibt.«

Er zog mich für einen kurzen und harten Kuss an sich, ehe er sich schnell wieder von mir löste und mich losließ, als wäre nie etwas gewesen.
Als hätte er nicht gerade ziemlich besitzergreifend und herrisch, aber auf sehr erotisch und anziehende Art und Weise, sein nicht vorhandenes Revier markiert.

Er wollte mir also weismachen, dass ich in Zukunft nur noch ihn küssen würde?
Das klang ziemlich vielversprechend, war aber doch sehr wage ausformuliert. Wer konnte schließlich garantieren, was die Zukunft bereit hielt und mein Plan, England und diesem Leben den Rücken zu kehren, stand nach wie vor.
Nichts hatte sich verändert.
In einer Sache hatte Tyson allerdings recht. Dass da draußen jemand war, der so war wie er – das war unmöglich.
Er war ein seltenes Einzelstück, etwas Besonderes. Aber laut musste ich das für sein großes Ego nicht sagen.

»Du bist vor allen Dingen sehr herrisch. Woher kommt das?«

Er zuckte belanglos mit den Schultern.

»Du weckst diese Seite in mir. Die besitzergreifende und eifersüchtige Seite. Ich teile nicht gerne, weißt du?«

Himmel! Wann waren wir so schonungslos und überdeutlich geworden und sprachen einfach aus, was uns durch den Kopf ging?
Hatten wir je so direkt miteinander gesprochen und unser gegenseitiges Interesse mitgeteilt? Ich konnte mich nicht entsinnen.
Wo kam das plötzlich her?
Warum jetzt?

»Aha ...«, antwortete ich bloß und biss mir auf die Unterlippe, während ich seinem Blick auswich und nach einem anderen Gesprächsthema suchte.

»Wann haben wir vor, Flicker und Maisie zu besuchen?«, fragte ich dann und lenkte zurück auf die Realität, die alles andere als romantisch und süß war.

Tyson wandte mir den Rücken zu und begann in einigen der Küchenschränken nach Tassen und Teebeuteln zu suchen. Er zuckte mit den Schultern.

»Als wir Xander besucht haben, schienst du mir danach ziemlich aufgewühlt. Bist du sicher, dass du dich bereit fühlst, die anderen auch zu sehen? Ich hatte den Eindruck, es hat dich sehr mitgenommen.«

Er musste aber auch immer die richtigen Worte sagen.
Und jetzt machte er sich auch noch Sorgen um mein Wohlbefinden?
Dieser Mann ...

»Ich glaube, es ist egal, ob ich sie morgen oder in drei Monaten aufsuchen würde. Es würde mich immer mitnehmen, sie anzusehen. Vielleicht ist es dann besser, es wie ein schnelles Pflaster einfach abzuziehen.«

Kaum hatte er den Wasserkocher angestellt, drehte sich Tyson zu mir um und lehnte sich mit dem Rücken an die Anrichte.
Sein Gesicht war ziemlich ernst.

»Woher kommt diese Panik? Ich dachte, diese Menschen lägen dir Nahe am Herzen. Wieso kannst du ihnen nicht mehr ins Gesicht sehen?«, fragte er direkt heraus und musterte mich, als würde er einfach nicht schlau werden aus mir.

Das wurde er mit Sicherheit auch nicht. Schließlich hatte ich auch nach über einem Monat und einer Menge Gespräche kein Wort über den Tag verloren, der mich ein Leben lang verfolgen würde.

Wieso sprach ich nicht endlich aus, was damals alles passiert war?
Wieso traute ich mich nicht jemanden an? Gestand Tyson meine Unschuld, um endlich aus der Sache herauszukommen?

Das waren die Fragen, die sich die ganze Welt stellte.
Warum ich nicht endlich zugab, dass ich es gewesen war oder ... eben nicht.

Eigentlich war es ganz einfach.
Ich konnte nicht.
Darüber zu sprechen, über den verfluchten Mord an den Menschen, die ich mehr als mich selbst geliebt hatte, machte Dinge real und momentan fiel es mir leichter, die Dinge zu verdrängen, als mich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen.
Es machte mich kaputt, auch nur an Jonas zu denken. Über ihn zu sprechen würde mir mehr als doppelt so viel von meiner Kraft entrauben.

Zudem sah ich keinen Sinn darin, mich zu verteidigen.
Wofür? Für wen?
Wen kümmerte es, ob ich im
Gefängnis saß oder frei war?
Was brachte mir Freiheit?
Was sollte ich mit dieser Freiheit anfangen?

Ich hatte niemanden mehr.
Ich hatte nichts mehr.
Und das, was ich wollte, das kam nie wieder.
Das, was alles für mich gewesen war, war nicht mehr.

Für mich ergab auf dieser Welt nichts mehr einen Sinn, ich hatte keine Gründe.
Und wer keine Gründe hatte, keine Gründe zu bleiben ...

... der konnte gehen.

»Weil sie mich an all das erinnern, was ich nicht haben kann«, antwortete ich Tyson und hatte damit alles gesagt, was hätte gesagt werden müssen.

Er wusste, dass ich von einer Familie sprach.
Sie war das Einzige, das ich haben wollte und das Einzige, das ich nicht haben konnte.

Indirekt hatte ich damit auch bestätigt, dass ich nichts mit diesem Mord zu tun hatte, aber dass er mich für eine Täterin hielt, hatte ich nie geglaubt.

»Wie nahe standest du Flicker?«, fragte er weiter. Er wollte mehr über mich erfahren. Ich konnte es verstehen. Mir war es ähnlich ergangen. Aber es gab nicht sonderlich viel über mich zu wissen.

»Sehr nahe. Er war einer meiner engsten Freunde, obwohl er nur der Gärtner meiner Familie war. Er war immer ... wie ein Onkel oder zweiter Vater für mich. Er gab die besten Ratschläge im Leben. Ich kenne ihn schon, seit ich klein bin. Als junges Mädchen habe ich wann immer ich konnte mit ihm im Garten gesessen und er erzählte mir Geschichten, während er sich um die Rosen meiner Mutter kümmerte.
Ich war schon immer ein Mensch, der gerne anderen zuhörte. Ich finde das deutlich interessanter, als mich selbst reden zu hören. Ich war ein sehr lebendiges Kind, aber am liebsten hatte ich meine Ruhe. Und mit Flicker konnte man am allerbesten ruhig und gleichzeitig nicht allein sein.«

Ich wich seinem Blick aus.
Zu erzählen, fiel mir schwer, aber es tat gut und ich wollte das erste Mal seit Ewigkeiten wirklich sprechen, mich ein Stückchen öffnen und verletzlich machen, weil ich wusste, dass Tyson mich nicht im nächsten Moment deswegen ausnutzen würde.

»Früher wollte ich bei ihm sein, wann immer er Dienst hatte. Ich fühlte mich wie mich selbst, wenn ich in Flickers Nähe war. Er mochte die echte Rubinia und nicht das Mädchen, das sich in den Medien präsentierte oder an der Tafel mit reichen Geschäftsmännern saß. Ich habe mich nie groß verbiegen lassen, aber in der Szene braucht man ein gewisses Pokerface und nur bei wenigen Leuten konnte ich diese Maske ablegen und frei atmen. Er hat mich nie verändern wollen und bei einem Leben wie meinem waren solche Personen rar und Gold wert.
Ich vermisse die Gespräche mit ihm. Seine Umarmungen.
Aber er ist auch der Inbegriff des Schmerzes. Denn allein sein Gesicht erinnert mich an das Zuhause, das ich verloren habe.
Xander zu treffen, war bittersüß. Er war mir immer wie ein zweiter Bruder.
Aber vor allem verbinde ich meinen leiblichen Bruder mit ihm. Jede Erinnerung. Und das tut schrecklich weh, aber nicht so weh, wie bei Flicker. Denn er erinnert mich nicht nur an eine Person, sondern an alles, was ich verloren habe ...«, gestand ich leise und sah dabei zu, wie eine kleine Träne sich aus meinem Augenwinkel schälte.

»Ich ... ich wollte die Menschen, die mir geblieben sind, nie verletzten. Aber genau das habe ich getan. Denn ich habe sie alle aus meinem Leben gesperrt und nie wieder hineingelassen. Und ich weiß genau, wie enttäuscht Xander mich angesehen hat. Für ihn ist es, als habe er nicht nur seinen besten Freund verloren, sondern auch mich, obwohl ich direkt vor ihm gestanden habe.
Aber ich kann nichts dagegen machen. Ich weiß, dass wir alle trauern, aber keiner trauert so wie ich, denn ... niemand war dabei ...
Niemand ... hat gesehen ... was ich gesehen habe. Das ganze Blut, diese leblosen, toten Augen ... und ...«

Meine Lippen begannen zu beben, ich spürte ein schmerzliches Zittern durch meinen Körper gehen und die Tränen verschleierten mir meine Sicht.

Bilder fluteten meinen Kopf und ich merkte, wie nahe ich dem Abgrund stand.
Mit nur zwei Schritten war Tyson neben mir und hob mich von der Anrichte direkt in seine Arme. Fest umarmte er mich, drückte meinen Kopf an sein T-Shirt und ließ mich weinen.

Haltlos.
Bitterlich.
Kläglich weinen.

»SchSch ... alles gut, Kleines. Du musst es mir nicht erzählen. Quäl dich nicht«, flüsterte er einfühlsam und hielt mich einfach nur fest.

Und das tat verdammt gut.
Es tat verdammt gut, einfach nur gehalten zu werden, Rückhalt und Schutz zu spüren und jemanden zu haben, der da war, aber zu nichts drängte.

Genau das hatte ich gesucht.
Und nie gefunden.
Jetzt hatte ich es gefunden.

Zuflucht.

Tyson war meine Zuflucht.

Und er würde meine Zuflucht bleiben.

Seine Existenz sprach für sich.

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