- Kapitel I -

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

11/2115

Der alte Merlin hat so recht gehabt damals.
„Lass sie niemals merken, wie schlau und stabil du bist. Wenn sie erst einmal begreifen, wie stark und auch autark wir mental sind, haben wir verloren."
Kurz danach haben sie ihn eiskalt erschossen. Weil sie dann doch endlich herausgefunden haben, dass Merlin nicht nur unser Lehrer für Benimmregeln und Höflichkeit war - sondern auch der mental stärkste Hybrid, den sie je zustande gebracht haben. Aus Versehen natürlich. Er hat uns so viel mehr gelehrt als, korrekt den Tisch zu decken. Er hat unseren Verstand geschärft, unser Herz gestärkt und jedem von uns den eigenen Willen vor Augen geführt. Er wusste ja auch nicht, was auf uns zukommen würde, wenn wir bei einem Besitzer sind. Gerade darum hat er uns Werte und Würde vermittelt. Gegen die Angst.
Ohne Merlin wäre ich jetzt nicht in Freiheit. Hätte ich längst aufgegeben.

Wobei ...
Ich schaffe es nicht immer zu verdrängen, dass das nur eine fragile Scheinfreiheit ist. Ich bin wahrscheinlich der erste und einzige Hybrid, der es je geschafft hat, seinem Besitzer zu entkommen. Aber der Preis ist hoch. Zu hoch? Ich werde erbarmungslos gejagt. Das war schon mehrfach sehr knapp. Bis ich dann endlich begriffen habe, dass ich am linken Handgelenk unter der Haut einen Peilsender habe. Einen Chip, vor dem es kein Entkommen gibt. Ich konnte die Drohnen schon über mir schwirren hören. Also habe ich den Chip rausgerissen. Die Schmerzen waren nichts gegen die Schmerzen, die ich vorher zweieinhalb Jahre lang ertragen musste beim Schelling. Jetzt brauchen sie immer viel länger, um wieder meine Fährte aufzunehmen.

Das Blöde ist nur: Es ist November, schweinekalt, meine Kleidung ist viel zu dünn für diese Jahreszeit, ich finde auf den Feldern nichts mehr zu essen, bei den meisten Häusern sind die Mülltonnen unterirdisch oder weggeschlossen, und das Handgelenk hat sich entzündet. Und darum ...
Wieder rinnen mir die Tränen der Erschöpfung über die Wangen, mein Überlebenswille tropft aus mir heraus wie aus einem lecken Fass, Resignation kriecht in jede Ritze meiner Seele, trotz der Kälte schüttelt mich Fieber. Das Dilemma ist unlösbar: ich werde niemals mehr einem lebenden Wesen vertrauen können.

Egal, wie gefährlich nahe ich mich an die Menschen heranwage - im entscheidenden Moment flüchte ich doch wieder in die Sicherheit des Waldes, krieche auf meinen Baum und zittere mich in den Schlaf des Vergessens. Aber wenn ich mich nicht bald zu einem Arzt traue für die Wunde, bin ich in wenigen Tagen tot.

Heute Nacht stecke ich bestimmt zum dritten Mal hier hinter der Bushaltestelle. Ich starre aus dem Dunklen auf die einzige Arztpraxis, die ganz am Stadtrand liegt und darum für mich überhaupt erreichbar ist. Der Eingang ist hell erleuchtet und gut gesichert - rund um die Uhr. Hinter dem Praxisgebäude ist ein Garten mit einem schönen alten Haus, alles ist umgeben von hohen dichten Hecken. Dies ist eine der wenigen Gegenden in der Stadt, wo es noch einzelne, frei stehende Häuser mit Gärten gibt, keine Bettenburgen für die in Schach gehaltene Überbevölkerung. Wer hier wohnt, ist ganz oben. Hier werde ich nicht so schnell entdeckt, weil die wenigsten sich noch zu Fuß bewegen. Aber die Gefahr, von dem Arzt verraten zu werden, ist um so höher. Und so zögere ich wieder.
Los, trau dich!
Ich habe ihn schön öfter beobachtet - ein vergleichsweise kleiner Mensch mit einem freundlichen Gesicht und sanftem Blick. Er hat graue Haare, ein ruhiges, bedächtiges Wesen, liebt seinen Garten und die Stille. Er geht häufiger im nahen Wald spazieren. Er strahlt Frieden aus. Er ist ... ungewöhnlich.

Nein. Ich wage es wieder nicht. Wenn ich die Wunde in seinem Gartenschuppen gründlich auswasche, wird es vielleicht besser. Einen Tag warte ich noch. Einen Tag noch.
Ich ziehe mich außerhalb der Reichweite der Straßenlaternen zurück von der Straße, verschwinde in den Schatten des Waldes und nähere mich in einem großen Bogen von hinten dem Garten. Der Boden ist bereits gefroren, so dass ich keinerlei Spuren hinterlasse. Wenn es allerdings anfangen sollte zu schneien, werden sie um so deutlicher sein.

Alle Lichter im Haus sind bereits gelöscht, die Luft ist also rein. Mit der Hecke verwachsen ist ein dicker, alter Baum, an dem ich gut hochklettern kann, ohne meinen Geruch im Gebüsch zu hinterlassen oder in den Bereich der Kameras vom Nachbargrundstück zu kommen. Ich beiße die Zähne zusammen und ignoriere den unvermeidlichen Schmerz, denn rauf auf den Baum komme ich nur, wenn ich beide Hände benutze. Ich lasse mich auf der anderen Seite in den Schatten der Hecke fallen und halte erschrocken inne, weil das trockene Laub unter meinen Füßen so laut raschelt. Aber niemand scheint mich gehört zu haben. Ich schleiche mich zum Schuppen. Der ist nie abgeschlossen und wenigstens ein trockener, windgeschützter Platz für diese Nacht. Ich war hier schon ein paarmal, wenns nicht mehr anders ging.

Kurz vor dem Schuppen stolpere ich über etwas Hartes und knicke um. Meine Beine wollen mich nicht mehr tragen. Mir ist schwindelig, mein Kopf glüht, das Handgelenk brennt. Ich möchte aufgeben. Mich einfach nicht mehr bewegen.
Sollen sie mich doch finden. Ich kann nicht mehr.

Noch einmal erkämpft sich mein Überlebenswille die Oberhand. Ich krieche auf allen Vieren zur Schuppentür, kriege irgendwie die Klinke zu fassen und schleppe mich mit letzter Kraft in Sicherheit. Ich kann das Bein nicht belasten, es ist wie Pudding so weich. Aber dieser Schmerz ist seltsam egal, einfach einer von vielen.
Dann wird alles schwarz.

Es ist November, das meiste Laub ist von den alten Bäumen im Garten gefallen, es ist schon dunkel, vom Wald her zieht feiner Nebel auf. Nur ein paar Sterne und ein halb voller Mond kämpfen sich durch unsere verdreckte Atmosphäre und lassen ihr blasses Licht zwischen den kahlen Ästen tanzen. Ich mache heute Abend nach der Praxisschließung nicht mehr viel. Wie immer gehe ich mit einer entspannenden Tasse Tee auf meinen Balkon, hülle mich in warme Decken, atme die klare, kalte Abendluft ein und lasse den Tag Revue passieren. Ich sehe dann Gesichter, Gespräche, Gedanken an mir vorüberziehen und hake nur ganz ab und zu mal ein, wenn mir etwas bedeutsam vorkommt. Im Büro erledige ich die Buchführung von dieser Woche, esse am Kamin eine Kleinigkeit zu Abend und gehe mit einem spannenden Umberto Eco zu Bett. Dieser Schriftsteller hat vor über einhundert Jahren gelebt. Er fesselt mich mit jedem seiner Bücher.

Am nächsten Morgen hat sich der Nebel verzogen, und die Sonne setzt sich noch einmal durch. Beim Blick aus meinem Küchenfenster bekomme ich Lust auf meinen Garten. Es ist Samstag, die Praxis ist geschlossen, ich habe Zeit, das Laub leuchtet mir bunt entgegen. Also ziehe ich meine alte Gartenjacke an, schlüpfe in dicke Wollsocken und meine Gummistiefel und gehe zum Schuppen mit den Gartengeräten. Ich muss ein bisschen schmunzeln, als ich die Tür aufziehe.
Manchmal bin ich doch wirklich ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Heutzutage kann man alles, wirklich alles von Maschinen erledigen lassen. Natürlich habe ich einen Staubsauger und ein Smartphone im Haus. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, das alte Laub mit etwas anderem als einer altmodischen Harke in die Beete zu schieben, wo es die Pflanzen vor Frostschäden schützen soll. Ich genieße es, mich zu bewegen, Arbeit mit meinen Händen zu erledigen. Es hat fast etwas Meditatives, tut Körper und Seele gut.

Ich greife mir die Harke gleich neben der Tür und mache mich fröhlich pfeifend über meinen Rasen her. Das Rascheln erinnert mich an meine Kindheit. Meine Oma hat mir beigebracht, wie viel Spaß es macht, in einen frisch zusammengeharkten Haufen Laub zu hüpfen und die bunten Blätter fliegen zu lassen.
Nach einer kleinen Kaffee-Aufwärm-Pause beschließe ich, gleich auch noch die Stauden und Rosen zurückzuschneiden und abzudecken. Ich gehe zum Schuppen, um die Harke gegen eine Heckenschere einzutauschen. Als ich die Schublade des alten Tisches aufziehen will, erschrecke ich fast zu Tode, denn unter dem Tisch bewegt sich etwas. Ich gehe schnell ein paar Schritte rückwärts und öffne die Tür ganz weit, damit ich mehr Licht habe.

Unter dem Tisch liegt eine kleine, zitternde, zusammengekrümmte menschliche Gestalt. Sofort kommt bei mir der Instinkt des Arztes durch. Ich gehe auf die Knie und beginne, das Kind zu untersuchen. Puls und Blutdruck schwach, hohes Fieber, unterernährt, dehydriert und verwahrlost, eine ungewöhnlich tiefe und stark entzündete Wunde am linken Handgelenk. Das eine Bein steht in einem seltsamen Winkel ab. Die Person ist nicht ansprechbar.

Und ... Bartwuchs. Erstaunlich, wo er so klein ist. Also kein Kind. Vorsichtig hebe ich den Mensch unter dem Tisch hervor und mache mich auf dem direkten Weg in die Praxis. Sofort greife ich nach wärmenden Decken, um den unterkühlten Körper zu wärmen. Dann betrachte ich meinen unerwarteten Gast genauer - und lasse vor Verblüffung erstmal die Decken fallen. Vor mir auf der Liege befindet sich ein Mensch vermutlich ostasiatischer Abstammung von der Größe eines etwa elfjährigen Kindes. Mit den ausgereiften Zügen eines erwachsenen Mannes. Und Hundeohren am Kopf.
Hundeohren.
Ich streife seine fiebrig verschwitzten und verklebten Haare zur Seite, kann aber weder einen normal menschlichen Ohransatz noch Operationsnarben bei den vorhandenen Ohren finden. Es besteht kein Zweifel - diese Ohren sind da so gewachsen. Und das ist unmöglich.

Ich befreie den Mann von seiner klammen, dreckigen Kleidung und mache weitere verblüffende Entdeckungen. Ich habe tatsächlichen den Körper eines sehr kleinen, erwachsenen Mannes vor mir. Er ist nicht zwergenwüchsig und untersetzt sondern gut gebaut und schlicht sehr klein. Er hat dunkelbraunes, meliertes Haar ... naja ... Fell - den ganzen Rücken runter - bis zu seinem ... Hundeschwanz. Auch hier keine Operationsnarbe, der Schwanz war da schon immer. Und auch das ist unmöglich. Dachte ich.
Man lernt ja bekanntlich nie aus ...

Doch diese irritierenden Feststellungen dränge ich sofort nach hinten. Die sind jetzt zweitrangig. Schnell wickele ich den bewusstlosen Mann in die Decken, kontrolliere seine Atmung und kümmere mich dann um das entzündete Handgelenk. Genau zwischen den Sehnen und Adern klafft ein eiterndes Loch von der Größe eines kleinen Fingernagels. Ich desinfiziere die Wunde, kann aber keine Erklärung für diese Verwundung finden. Die Haut sieht aus wie grob aufgerissen. Der Mann hat großes Glück gehabt, dass dabei weder die Sehnen noch eine Ader oder ein Nerv getroffen wurden.
Ich verbinde die Wunde und lege dann an der anderen Hand einen Zugang. Zunächst verabreiche ich ihm vor allem Flüssigkeit, Nährstoffe und ein Antibiotikum. Jetzt das Bein. Ich schiebe die Liege in den Röntgenraum und finde meinen Verdacht bestätigt - ein unkomplizierter Schienbeinbruch, eine Operation ist nicht nötig. Ich verarzte auch das Bein und rolle ihn zurück ins Behandlungszimmer.

Ob ich ihn einen Moment alleine lassen kann? Ich will nicht noch jemand einweihen ...
Ich klappe die Seitengitter vom Bett hoch und eile rüber ins Haus. Meine Kleidung wird ihm zu groß sein, aber ich bin auch nicht grade ein Riese. Eine Unterhose, Socken, ein T-Shirt, eine Jogginghose mit Gummibund, ein Pullover, eine Stulle und ein Buch später stehe ich wieder in der Praxis. Das Fieber ist unverändert hoch, aber das Zittern hat aufgehört. Der Mann liegt jetzt ruhig da. Ich beginne, ihn von Kopf bis Fuß vorsichtig zu waschen, dann ziehe ich ihm die frische Kleidung an. Über seine an vielen Stellen vernarbte Haut möchte ich jetzt lieber nicht nachdenken. Das soll er mir selbst erzählen, wenn er kann und will. In akuter Gefahr ist er nicht mehr, also schnappe ich mir meinen Eco und stelle mich auf ein bisschen Wartezeit ein.

Es ist Nachmittag, draußen dämmert es bereits. So richtig kann ich mich nicht auf den Eco konzentrieren. Zu sehr lenken mich die Fragen und Gedanken zu meinem seltsamen Patienten ab. Ich bin grade in der Praxisküche und koche mir einen Tee, als mir ein tiefer, panischer Schrei durch Mark und Bein geht. Vor Schreck lasse ich den Teebeutel fallen und laufe los.

Manchmal suchen mich im Schlaf Erinnerungen heim. Das Labor. Die Käfige. Die Bibliothek beim Schelling. Die Peitsche. Und sein riesige "Spielwiese" ... Aber heute träume ich etwas schönes. Ich liege in einem Bett, habe ein weiches Kopfkissen und wärmende Decken. Ich bin satt, zufrieden, habe keine Schmerzen mehr und keine Angst. Bis ich aufwache.
Ich liege tatsächlich in einer Art Bett und bin warm zugedeckt. Aber alles, was ich in diesem Raum sehen kann, ist weiß - wie das Labor. Und das Bett ist mit Gittern versehen - wie mein Käfig. Es riecht auch gefährlich. Mir brennt die Birne durch.

War alles umsonst? Die ganze Quälerei? Werden sie mich jetzt umbringen wie den alten Merlin?
An meiner rechten Hand hängt eine Infusion.
Wollen die mich vergiften?

Ich kann es nicht zurückhalten. Mir entfährt ein langer Schrei des Entsetzens.

Durch den Nebel der Angst höre ich schnelle Schritte auf dem Flur, die Tür geht auf und ein Mann betritt den Raum. Ich klammere mich an die verhassten Gitter und ignoriere den Schmerz in meinem linken Arm. Schnell kommt der Mensch auf mich zu, greift geschickt nach meinen Unterarmen und spricht mich leise an. Bei dieser Berührung schlägt meine Angst um in einen Tsunami aus Adrenalin. Ich wehre mich mit letzter Kraft, aber zu meiner Verblüffung reagiert der Mann nicht mit Gegengewalt sondern spricht mich ganz sanft und leise an.
„Bitte, beruhigen Sie sich. Ich habe Sie bewusstlos in meinem Schuppen gefunden. Alle ihre Wunden sind versorgt, Sie sind nicht mehr in Gefahr. Ihnen wird hier nichts geschehen."

Ich verstumme und starre ihn an.
SIE!
Er hat SIE zu mir gesagt. Träume ich noch?

„Bitte entspannen Sie sich und legen Sie sich wieder hin. Sie müssen sehr vorsichtig sein mit Ihrer linken Hand. Die Wunde am Handgelenk ist stark entzündet und gefährlich nah an Adern und Sehnen."
Langsam gibt er meine Arme wieder frei.
Ich kann nicht glauben, was ich sehe und höre, automatisch gehorsam lasse ich die Gitter los und lege mich wieder hin. Ich verstehe nichts mehr, aber alle Alarmglocken klingeln.
Ein Mensch ist IMMER eine Gefahr.

Andererseits ist er der anscheinend nette Arzt. Dumpf erinnere ich mich, dass ich in seinem Schuppen im Garten meine Wunde auswaschen wollte. Dort bin ich dann wohl nicht wieder weggekommen.

Der Mann scheint die Panik von meinem Gesicht ablesen zu können.
„Bitte haben Sie keine Angst. Ich bin Arzt, niemand außer mir ist hier. Und mein Beruf ist es, Leben zu retten. JEDES Leben. Wer zu mir kommt, soll sich gut aufgehoben wissen und in Ruhe gesund werden können."

Mein Blick irrt durch den Raum. Was ich sehe, was ich höre, was ich fühle und was ich erinnere - das passt alles überhaupt nicht zusammen. Da MUSS doch irgendwo ein Haken sein! Stumm schaue ich zu der Infusion hoch.
Der will mich bestimmt nur ruhig halten, bis das Gift wirkt.
Er folgt meinem Blick.
„Fürchten Sie sich vor der Infusion? Darin sind Flüssigkeit, Nährstoffe und ein entzündungshemmendes Mittel. Kein Betäubungsmittel oder sowas. Sie können ganz unbesorgt sein."

Der Kerl versteht eindeutig viel zu viel. Hoffentlich hat er noch nicht zu genau hingeschaut. Ich werde lieber erstmal stumm bleiben. Dann kapiert er vielleicht nicht, dass ich anders und dass ich kein leicht zu manipulierendes Opfer bin sondern alles verstehe.

„Ich habe auch Ihr Bein geröntgt. Das rechte Schienbein ist gebrochen. Keine Komplikationen. Ich habe das Bein einfach eingegipst."

Wundervoll. Weglaufen kann ich also auch nicht mehr. Zumal ich mich in diesen Räumen gar nicht auskenne und also nicht weiß, wie ich hier rauskommen soll - geschweige denn, wohin. Mit Gipsbein komme ich ja nicht mal über dieses Bettgitter.
Wieder folgen seine Augen meinem Blick. Er klappt die Gitter runter und setzt sich neben mich.

„Darf ich Sie um ein paar Antworten bitten? Es wäre gut, wenn ich wüsste, was Sie essen können. Und wie die Wunde an Ihrem Handgelenk entstanden ist. ..."
Kurz wirkt es, als hätte er noch eine weitere Frage, die er aber runtergeschluckt. Er stoppt sich selbst und schaut mich abwartend an. Diese letzte Frage werde ich ihm jedoch ganz bestimmt nicht beantworten.
Ich bleibe stumm.

„Und ich wüsste gerne Ihren Namen, damit ich Sie ordentlich anreden kann."
Noch stummer.

„Wenn Sie sich noch ein bisschen stabilisieren, dann können wir rüber in mein Privathaus gehen. Dort ist es für uns beide bequemer. Und Sie werden nicht entdeckt, wenn am Montag Morgen die Praxis wieder öffnet."
Sowas von stumm!

„Ich lade Sie ein, mein Gast zu sein, solange Sie das brauchen und wollen, um wieder ganz gesund zu werden und zu Kräften zu kommen."
Ich muss hier raus! Wenn ich nur nicht so müde und schwach wäre.

Na gut. Wenn er nicht antwortet, dann ...
Vor meinen Augen gleitet der verängstigte und erschöpfte Mann zurück in die Bewusstlosigkeit.
... muss ich wohl alleine entscheiden.
Ich hole eine Klappbox aus der Praxis-Küche, überlege kurz und packe alles zusammen, was ich für seine medizinische Versorgung voraussichtlich drüben brauchen werde. Ich hebe auch seine verdreckte Kleidung auf und stecke sie in eine Tüte. Dabei fällt aus der Innentasche der leichten Jacke eine Zeitschrift heraus. Ich schiebe sie kurzerhand mit in die Tüte und gehe über den kleinen Hof nach Hause.

Mir ist absolut klar, dass er mir kein Stück über den Weg traut. Er war eben ununterbrochen so in Habachtstellung - wer weiß, was er schon alles erleben musste. Mit Menschen. Mit Berührungen. Mit Ärzten. Mit Gittern. Mit Medikamenten. Seine Anomalien und seine Narben sprechen jedenfalls dafür, dass sein Leben bisher kein sonniger Spaziergang war.

Ich richte das Gästezimmer neben meinem Schlafraum her, ziehe die Vorhänge zu, beziehe das Bett frisch, drehe die Heizung auf und eile zurück in die Praxis. Ich finde den fiebernden Mann schlafend vor. Immer noch verkrampft, selbst im Schlaf auf der Hut. Ich wickele ihn in die Decken, lege ihm den Infusionsbeutel auf den Bauch und hebe ihn hoch. Selbst die kalte Abendluft kann ihn nicht mehr wecken. Ich bringe ihn ins Bett, hänge den Beutel an den vorbereiteten Infusionsständer, dimme das Licht und öffne die Zwischentür zu meinem Schlafzimmer, damit ich ihn auch in der Nacht gut hören kann, falls er mich braucht.

Ich kehre zurück zur Praxis, räume auf, beseitige alle Spuren, lösche die Lichter und schließe ab. Solange er nicht völlig bei Bewusstsein und auskunftsfreudig ist, sollte niemand wissen, dass er hier ist. Ich habe keine Vermutung, was das alles bedeuten könnte. Aber ich habe das dringende Bedürfnis, auf Nummer Sicher zu gehen.
Zu Hause mache ich mir ein Abendbrot und setze mich noch für eine Weile zu ihm. Er schläft nun ruhig, fiebert leicht, scheint seine Qualen aber für den Moment vergessen zu können.

Ich will mir schon wieder meinen Eco greifen, da fällt mir die Tüte mit den schmutzigen Kleidern ein.
Am besten wasche ich die Sachen sofort. Wo hab ich die denn hingestellt?
Ich schaue mich suchend um.
Richtig, die steht hier oben im Flur. Ich hatte es vorhin so eilig.
Ich erhebe ich mich noch mal, gehe in den Keller und stecke die Sachen in die Waschmaschine. Mit der fast leeren Tüte in der Hand steige ich wieder nach oben und setze mich zu meinem Patienten.
Übrig bleibt nur die Zeitschrift. Ich werfe einen desinteressierten Blick darauf, fahre aus dem Sessel hoch und erstarre.

Das IST unmöglich! Oder genauer ... Nichts ist unmöglich. Offensichtlich.
Bereits das Deckblatt gibt mir die Antwort auf die Frage, die ich vorhin vorsichtshalber erstmal runter geschluckt habe. Er ist nicht der einzige seiner Art ...

.....................................................

10.4.2022

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro