12. Das Fest der Krähe und der Saat

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Ja.

Nein.

Bitte.

Danke.

»Benötigt Ihr Tinte und Federkiel, Füchsin?«, fragte Bastien und verschob seine Patience-Karten auf dem Esstisch.

»Vielen Dank, aber mit Kohlestift kann ich später besser schreiben und so sieht es wenigstens einheitlich aus.« Sera sah nicht von ihrem sich füllenden Notizbuch auf – schrieb weiter Wörter in die linke Spalte einer jeden Seite. Es duftete noch immer nach den geliebten Orangen und dem Pfeffer vom Überseemarkt in Speranx.

Entschuldigung.

Hilfe.

»Ihr seid ehrgeizig, wie man es von einer Füchsin erwartet. Damit werdet Ihr Eurem Professor eine große Bereicherung sein.« Der nächste Satz Karten huschte über die Tischplatte.

»Tjelvar ist der moragschen Sprache bereits mächtig. Das hier ist für mich.«

Wer.

Wo.

»Verstehe. Ihr seid also in einem Gebiet eingesetzt, dessen Sprache ihr nicht sprechen könnt.«

Wie.

»Stimmt.«

Bastien trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

Wann.

Eine einzelne Karte streifte das Holz. »Wer garantiert uns, dass die Druiden heute Abend nur die Opfertiere töten?«

Nicht seufzen. Heute hatte sie Besseres zu tun, als sich mit jemandem zu messen. »Wir vertrauen darauf, dass die Druiden ihr Wort halten – andernfalls sind sie schließlich Feuerholz. Allerdings seid Ihr sicher ein willkommener Gast beim Fest, wenn Ihr Euch selbst überzeugen wollt.«

Bastien hielt beim Verteilen des nächsten Satzes inne. »Bedauerlicherweise ist meine Anwesenheit hier zwingend erforderlich. Ich hoffe dennoch sehr, dass Euer Vorhaben erfolgreich ist – und dass Kommandant Nolann noch weiß, wem er eidlich die Treue geschworen hat.«

Sie nickte. »Long brille la lune d'argent.« Gleich hatte sie alle Vokabeln aufgeschrieben und konnte verschwinden.

Warum.

~✧~

»Tak. Nie. Proszę. –«

»Pardon?«, unterbrach sie ihren Bruder mit gerunzelter Stirn. »Kannst du mir das buchstabieren?«

»Äh ... Ich hab's sprechen gelernt, aber nicht schreiben. Vielleicht kann ich's nochmal deutlicher sagen?«

»Das wäre gut, ja.«

Die Savage lauschte ihren Worten, die Vögel zwitscherten in den lauwarmen Mittag hinein und die Sonne blinzelte auf Seras Notizen. Sie und Lucien saßen hinter seinem Haus auf der Bank und nutzten die Ruhe vor dem Fest.

Bis kurz vor Sonnenuntergang beschrieb Seraphina mehrere dutzend Seiten mit Vokabeln und Grammatikregeln. Mehr schlecht als recht, da sie nur notieren konnte, was sie hörte.

Aber es reichte.

Moragi zu sprechen, war ihr Ziel. Nicht, wissenschaftliche Arbeiten zu konzipieren.

Als der Schatten von Luciens Haus zum Drittel über die Savage reichte und ihre Muskeln nach Bewegung ächzten, steckte Sera ihr Buch weg und folgte Lucien zum Nebentor hinaus.

Lange, in den Boden gerammte Tortschen bildeten einen erleuchteten, äußeren Ring um den Festplatz. Tische, Hocker und Bänke säumten den Bereich zwischen ihnen und dem Feuer. Auf der linken Seite des Zugangs zum Platz bauten die Moragi eine Kochstelle zusammen, auf der rechten waren das störrische Kalb und die vier Ferkel an einen Pfosten gebunden. Der Eingangsbereich zum Platz war das Einzige, was frei blieb.

Stojan und eine brünette Frau mit ebenso definierten Oberarmen – vermutlich seine Schwester – trugen zwei Kessel zum Stand und Stojan rief mit einer Schleifsteinstimme Anweisungen zum Aufbau. Sie mischte sich mit der hohen von Alistair, der zwischen den teils besetzten Bänken tänzelte und ebenfalls letzte Vorbereitungen traf.

Währenddessen standen Sera und Lucien im Eingangsbereich und sie musterte das Geschwisterpaar bei jeder ihrer Bewegungen und Interaktionen mit den anderen. Stojan und seine Schwester warteten ...

Erst das Anrollen eines Wagens mit Brennholz ließ Sera und ihren Bruder sowie die Druiden mit den Opfertieren zur Seite weichen. Nolann sprang vom Kutschbock ab und erkundigte sich bei Saoirse nach dem weiteren Vorgehen für ihn und die wenigen Männer, die ihn begleiteten.

»Geschäftig ist es hier geworden.« Sera rieb sich über die Arme und versuchte, das Frösteln und ihre aufgestellten Härchen zu ignorieren. Jetzt – mit all den Menschen und dem Mobiliar ums Feuer – wirkte der Platz riesig. Wortfetzen der noch fremden Sprache wirbelten umher und sie lauschte jedem Bisschen, das sie bereits verstand.

Lucien schmunzelte. »Wart ab, bis es richtig losgeht.« Seine himmelblauen Augen reflektierten das tanzende Feuer.

Irgendwo in der Menge erklang eine Trommel und Augenblicke später gesellten sich drei weitere dazu, bis sie alle im selben Rhythmus schlugen und nacheinander wieder verstummten.

Sera schloss die Augen und horchte in den Abend: Die letzten Schläge der Trommeln, das Knistern im Feuer, die vielen Menschen, die redeten, lachten, machten und taten. Ein Krächzen.

Sie starrte zum Himmel.

Krähen zogen ihre Kreise über dem Platz.

Stojan und seine Schwester ...

Alistair und die Panthera ...

Das Prickeln über ihren Armen bis in den Nacken ...

Lucien strich ihr über die Schultern. »Gewöhnungsbedürftig, ich weiß, aber zu jedem Leben gehört der Tod. Die Krähen tun uns nichts, solange wir ihnen nichts tun. Alles wird werden, versprochen«, wisperte er schließlich nur noch.

Der Festplatz verschwamm zum Hauptplatz in Cor Sole. Rosenquarzene Pflastersteine. Bunte Hausfassaden. Blumenkübel unter den Fenstern.

Das Podest mit dem Krähenblock in der Mitte.

Sera kniff die Augen zusammen. Ihre Finger krampften in einer Umarmung in ihre Oberarme.

Tiere starben hier, keine Menschen. Nutztiere! Es war alles in Ordnung. Lucius war da!

Doch ihr Puls hämmerte ihr wie Paukenschläge in der Brust. In den Ohren. Schnürte ihr den Hals ab.

»Schh ... Ich hab dich, Fina. Ich bin bei dir.« Zwei Arme legten sich um ihren Bauch und zogen sie nach hinten gegen eine warme, doch gerippte Brust. Lucien atmete tief und gleichmäßig und vertrieb den Gestank von Eisen mit dem Duft von Heimat. 

Und endlich sah sie das Feuer. Hörte das Grunzen und Muhen. Spürte Wärme in sich.

Lucius' Wärme.

Ein lautes Hüsteln und sie fuhren auseinander. Im Bereich zwischen der Kochstelle und den Opfertieren stand Alistair neben Saoirse und den anderen vier Druiden, die sich zu den Tieren gesetzt hatten und nun beiläufig mit ihnen spielten.

Um sie verstummten die Gespräche. Sera blickte wie alle anderen zum schmächtigen Druiden, der neben Saoirses kräftiger brauner Haut noch blasser wirkte. Was Alistair nicht an einem dann und wann zuckenden Lächeln und einer nervösen, aber großväterlich ruhigen Haltung hinderte.

Selbst er hatte sich für diesen Abend aufgeputzt und ein herbstoranges Wams mit weißem Hemd darunter gewählt, dass seine karamellfarbenen Augen noch mehr zerschmolzen. Seine sonst wirren Mahagonihaare waren zu einem ordentlichen, kurzen Zopf zusammengebunden.

Alistair wirkte wie ein langjähriger Professor in Xandria. Er bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die Jugend und Weisheit zugleich bewirtete. Besaß eine Ausstrahlung, als ob er die Antwort auf alle Fragen kannte und jede Gefahr zu kontrollieren vermochte.

Kein Wunder, dass er die Gemeinschaft zusammenhielt.

Seine erste Ansprache verkündete der Druide auf Moragi und sprach dabei so melodisch, dass es auch die fast ausgestorbene Sprache von Speranx hätte sein können. Die harten Konsonanten am Schluss der Worte hörte Sera kaum heraus. Vokabeln, die sie erst Stunden zuvor von Lucien gelernt hatte, wirkten aus seinem Munde wie ein Gedicht.

Nach einer Pause wandte er sich Nolann und seinen Helfern zu. Er schnappte ein paar leise Atemzüge, ehe er die Hände faltete und sich mit geschlossenen Augen verbeugte. Sein Mervaillsch klang sogar noch weicher als das der Muttersprachler.

»Long brille la lune d'argent – lang leuchte der Silbermond. Mein Name ist Alistair. Vor dem Krieg hatte ich bereits die Position inne, das Fest der Krähe und der Saat zu organisieren und zu leiten.

Wir haben in den letzten Monaten alle eine schwere Zeit hinter uns gebracht und die Krähen mögen jene selig haben, die heute nicht mehr unter uns weilen.« Er verneigte sich abermals – dieses Mal leichter. »Dennoch freue ich mich, dass wir heute gemeinsam den Grundstein für eine friedliche Zukunft legen können und hoffe, dass wir das Haus für diese Zukunft eines Tages auch gemeinsam in Harmonie bewohnen dürfen. Ich weiß sehr wohl, dass es für Euch keine leichte Entscheidung war, dieses Fest ein weiteres Mal veranstalten zu lassen, aber ich versichere Euch, dass wir Euer Geschenk in Ehren halten und weise nutzen werden. Habt Dank, dass ihr uns diesen Moment ermöglicht.«

Ein Nicken war die einzige Antwort des Kommandanten. »Trotzdem bleibt es eine Notlösung, bis das Lehen sich auf anderen Wegen versorgen kann.«

»Das wissen wir. Für uns ist es aber auch eine Geste des Vertrauens und der gegenseitigen Annäherung. Wir würden uns freuen, wenn Zusammenarbeit unsere Zukunft prägt und nicht Gewalt und Eitelkeit. Aber lasst uns beginnen. Die Tiere sind bereit.« Obgleich Nolanns ernüchternder Reaktion verwies Alistair  unbeeindruckt mit einer Hand auf die bereitstehenden Moragi: Zwei Kinder, zwei Frauen und ein Mann, die die Tiere losbanden und jeweils eines in den Arm nahmen.

Alistair wich nach hinten und überließ einem anderen Druiden in andächtig weißem Hemd den Platz. Ein Mädchen trat vor den blassen Vertreter des Kleinen Volkes und sah ihn einen Moment mit mulmiger Miene an, bevor sie sich auf den Boden kniete und das grunzende Ferkel absetzte.

Ihre Worte verstand Sera kaum, doch es erinnerte sie an das druidische Sprichwort ›Leben nehmen, um Leben zu geben‹.

Auch der Druide hockte sich hin und streichelte das Tier. Auf ein Nicken ging das Mädchen einen Schritt zurück. Vorsichtig schnupperte das Ferkel an der hellen Hand, die der Druide ihm reichte. Seine Worte in der Sprache seines Volkes lullten das Tier ein.

Wie in Trance vom gleichmäßigen Rhythmus seines rezitiert klingenden Flüsterns fokussierte es sich nur noch auf die Hand, stieg in den Schoß des Druiden und ließ sich dort weiter streicheln. Er hielt den Kopf des Tieres fest und es schmiegte sich an ihn. Seine Flanke hob und fiel, als schliefe es.

Dann hob sie sich nicht mehr. Der Druide streichelte es noch einen Augenblick – nun an Farbe zugelegt – bevor er zum Mädchen aufblickte und ihm zunickte. Sie legte einen Atemzug lang ihre rechte Hand über ihr Herz, ehe sie das tote Tier entgegennahm, sanft zum Stand neben ihnen trug und dort auf der Arbeitsfläche ablegte.

Über ihnen ertönte der Ruf der Krähen, die vor dem blaugrauen Himmel wie schwarze Schatten in der Luft kreisten.

Der Druide ging zurück zu den anderen und die nächste trat vor. Der Junge sagte dieselben Worte wie das Mädchen und legte sich die Hand aufs Herz. Auch das zweite Ferkel schlief ein und wurde zum Fleischer getragen. Das Krächzen wirkte wie ein Protest gegen das Ritual.

Die Moragi setzten die letzten zwei Ferkel und das Kalb vor die Druiden. Jeder von ihnen tötete eines. Saoirse erhielt ein Ferkel. Einzig in ihrem Mund glich die druidische Sprache einem lebendigen und sehr alten Wiegenlied, wie es nur die Mutter höchstselbst singen konnte. Alistair war der Einzige, der kein Tier entgegennahm.

Und über allem der Schrei der Krähen.

Leben nehmen, um Leben zu geben.

Seraphina sah zu. Sah wie versteinert den Tod jeden Tieres. Ihr Vater hatte sie auch bei Johanna gezwungen, zuzusehen. Hinzusehen.

Dieses Mal war es einfach, den Todesurteilen beizuwohnen.

Nach dem Kalb flatterten die Krähen in alle Himmelsrichtungen davon und hinterließen die Stille der Endgültigkeit des Todes.

Alistair stand auf und verkündete etwas auf Moragi, sprach anschließend Mervaillsch. »Die Gaben an die Krähen wurden im letzten Licht des alten Tages erbracht. Die Gaben an die Saat werden im ersten Licht des neuen Tages weitergegeben. So lange werden wir das Fest der Krähe und der Saat feiern und der Opfer für unser eigenes Leben wie dem Wert des Lebens selbst gedenken. Kein Leben sollte leichtfertig genommen werden.«

Seras Brauen zuckten zueinander. Sagte der Druide, der die Opfertiere eigenhändig auserlesen, dessen Blutgeschwister ihnen gerade das Leben ausgehaucht hatten.

Die Moragi legten in eisigem Schweigen gegenüber dem Kleinen Volk ihre Hände über die Herzen, schlossen die Augen und die Druiden taten es ihnen gleich. Lucien stieß sie mit dem Ellenbogen an, es ebenfalls zu tun.

Nolann und seine wenigen Soldaten verfolgten die Szenerie mit verschränkten Armen.

Minutenlange Stille.

Das Knistern des Feuers überlagerte jedes Geräusch.

Kälte zog über Seras Nasenspitze, Ohren und ihre rechte Hand – wurden taub wie ihr Innerstes.

Rauch, Fisch und Rosmarin lagen in der Luft.

Erst, als auch das letzte Licht des Tages der Nacht gewichen war, beendeten die Druiden und Moragi ihr regloses Schweigen und verteilten sich über den Platz.

Zwei Mann begannen, die Opfertiere zu häuten und eine Fünfergruppe unter Saoirses und Ctirads Anweisung setzte Wasser in den Kesseln auf, schälten und schnitten Gemüse, knackten Nüsse oder öffneten Esskastanien und schnitten Fisch.

Seraphina schaute zum Himmel, wie es nur die Soldaten noch taten. Leuchtend prangte der Silbermond – eingerahmt in abertausende Sterne – am Nachthimmel, als wollte er ihnen allen versichern, dass ihre Entscheidung die richtige war.

Eine Hand packte ihre Schulter von hinten und sie fuhr zusammen.

»Da bist du ja«, sagte Marika. Ihre Freundin trug ein strahlend weißes Kleid mit langen Ärmeln, einer weiten Hose, weißen Schuhen und einen zurückgeworfenen Schleier. Das pure Weiß kontrastierte ihren dunklen Teint, doch selbst diese weite Kleidung täuschte nicht mehr über Marikas hervorstechende Knochen hinweg.

Sera krampfte die Finger in ihr eigenes, blaues Kleid und versuchte zu lächeln – den körperlichen Zustand ihrer Freundin zu übersehen. »Das Fest muss euch wirklich viel bedeuten, wenn ihr alle eure feinsten Kleider tragt.«

Marika lachte und blickte an sich herab. »Das ist mein altes Kleid, das ich bei meiner Bindung mit meinem Lebensgefährten getragen habe. Es ist zu schade, um es danach nie wieder zu tragen. Heute ist dein erstes Fest der Krähe und der Saat, oder? Komm, ich zeig' dir alles.«

Die Moragi zog Sera an Arm von Lucien fort, wandte sich aber noch einmal mit keckem Grinsen zurück, ehe sie untertauchten. »Für heute Nacht stehle ich dir deine Teuerste, Charmeur.«

Ihr Bruder nickte nur. »Genießt eure Zeit.«

Marika führte sie durch die Menschenmenge an einen Tisch abseits des Trubels und drückte sie auf einen Hocker. »Bin bald wieder da. Ich helfe nur schnell beim Kochen mit und bringe uns dann was zu Essen und zu Trinken.«

Noch bevor Sera etwas erwidern konnte, war die Moragi federnden Schritts verschwunden. Ihr langes, schwarzes Haar schaukelte unter ihrem weißen Schleier hervor.

Um den Tisch – eine runde Holzplatte auf Beinen – standen mehr als zwei Hocker, doch Seraphina saß allein, während überall sonst das Leben entbrannte. So faltete sie die Hände im Schoß zusammen, richtete ihr Rückgrat auf und blickte sich mit einem Seufzen um. Obwohl Marika so viel Hass entgegenschlug, kämpfte sie mit einer bewundernswerten Stärke weiter.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes saß Nolann mit den Mervaillern und musterte jeden Feiernden einzeln. Keiner von ihnen redete oder schien sich im Entferntesten zu amüsieren.

Ganz anders an dem Tisch, an dem Lucien mit zwei der Druiden plauderte. Ein dritter brachte soeben ein Tablett mit vier winzigen Schälchen und verteilte sie an jeden, ehe er sich setzte.

Saoirse indes rührte pfeifend in einem der Kessel und betreute gleichzeitig den zweiten und eine Pfanne.

Hinter der Kochstelle standen Alistair und Tjelvar mit ihren eigenen Schälchen in den Händen und unterhielten sich. Auch sie wirkten angespannt.

Wo war eigentlich Janek?

»Juhu!« Marika kam endlich mit zwei Bechern, einem dampfenden Teller und zwei Schälchen auf einem Tablett zurück. »Anstand und Demut sind den Mervaillern wirklich fern wie der Mond Agartha!«

»Was ist denn passiert?« Sera rutschte auf ihrem Hocker umher. Seit wann war ihre Freundin so heiter?

»Hier, bitte.« Die Moragi reichte ihr eine der beiden winzigen Schalen und nahm sich selbst die zweite. Den Rest auf dem Tablett rührte sie nicht an. »Das ist die Suppe mit dem Fleisch der geopferten Jungtiere. Jeder bekommt einen Teil, damit wir die Bürde des Todes gemeinsam tragen. Sie wird immer vor allem anderen gegessen, um die Opfer entsprechend anzuerkennen und ihnen zu danken. Wer sie nicht isst, weigert sich, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und sieht die Ferkel und das Kalb nicht als gleichwertige Lebewesen an.«

Seras Hände schwitzten.

Das mickrige Schälchen fasste zwei Löffel Suppe. Kleine Fleischstücke schwammen in einer rotbraunen Brühe. Sie konnte sie zählen: Sieben perlengroße Stücke Schwein oder Kalb. Blutjunge Wesen, die vor den Augen aller getötet wurden – ihrer Zukunft beraubt, um Getreide wachsen zu lassen.

War es so verwerflich, dass sich die Soldaten weigerten, die Suppe zu essen?

Langsam nahm sie den Löffel. Sie hatte nie an einer Jagd teilgenommen – nie eigenhändig ein Leben beendet, um es anschließend zu essen. Aber sie wusste, wie es war, gejagt zu werden – abgeschlachtet zu werden.

Viel Platz bot das Schälchen nicht, mit zugeschnürter Kehle gedankenverloren darin zu rühren. Wenn sie nicht wüsste, woher das Fleisch kam, hätte sie es bereits gegessen.

Ihr gegenüber aß Marika den ersten Löffel und sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

Beim Licht der aufgehenden Sonne!

Seraphina löffelte drei Stücke aus dem Schälchen und schob sie in den Mund. Das Fleisch war zart, die restliche Suppe cremig und nussig. Alle drei waren Schweinefleisch. Alle drei hatten nur wenige Stunden zuvor noch gelebt. Alle drei waren auch für sie gestorben.

Und jetzt aß sie ihr Fleisch. Sie war schuldig. Marika hatte recht.

Die legte sich die Hand aufs Herz. »Wer Leben gibt, muss Leben nehmen. Solange jemand gewinnt, wird ein anderer verlieren.«

Seras Mund war trocken wie Lumistas Böden nach den zwei beinahe regenlosen Sommern.

Tjelvar und sie konnten ihre Aufgabe hier nur erfüllen, wenn jemand anderes scheiterte. Ihr Vater hatte nur gewonnen, weil Johanna verlor.

Mit eisigen Fingern löffelte sie ihre Suppe auf. Ein Stück Kalb.

»Ab jetzt stehen dir Speis und Trank unserer Köche zur Verfügung.« Marika schob das Tablett vom Rand des Tisches zwischen sie. Für sich nahm sie einen der beiden Becher und servierte Sera den zweiten und den Holzteller mit den Spezialitäten der Region: Felderbsen, Pinselgras, geröstete Nüsse, Esskastanien und Gemüse. »Iss ruhig. Ich habe noch keinen Hunger.«

Bei ihren eingefallenen Wangen und knochigen Fingern? Sera fröstelten die Arme erneut. Dennoch nahm sie sich Becher und Teller.

Fleischfrei.

»Und jetzt erzähl mal: Wie hast du es geschafft, Lucien schöne Augen zu machen?«, zwitscherte Marika.

Sera verschluckte sich am Apfelsaft. »Pardon? Überhaupt nicht! Er ist ...« Sie stockte. Sie mit ihrem Bruder? Daran wollte sie nicht einmal denken!

»Er ist?« Marika grinste.

»Er, äh ... ist mein Arbeitskollege. Schließlich ist es Tjelvars und meine Aufgabe, euch zu helfen und Lucien unterstützt uns dabei. Aber weißt du, wo Janek ist? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.«

Marikas Grinsen erstarb und ihre Schultern sanken. »Er hat sich nicht gut gefühlt und ist zu Hause geblieben. Wegen Janek habe ich sowieso noch eine Bitte. Darf ich ihn in deine und Alistairs Obhut übergeben, bis er auf eigenen Beinen stehen kann? Ihr beide könnt besser für ihn sorgen als ich.«

»Was ist zwischen euch vorgefallen? Man sollte meinen, zur Mutter eines Freundes hat man ein gutes Verhältnis.« Sera hörte auf, von der Hauptspeise zu löffeln. Irgendetwas stimmte nicht.

Die schwarzen Augen der Moragi fixierten einen weit entfernten Punkt in der Dunkelheit. »Vielleicht gerade, weil er sich so gut mit Lewian verstanden hat. Janek ist auch nur ein Kind – auch wenn er sich tapfer gibt. Freunde und Familie zu verlieren, ist immer hart.«

Seraphina schloss die Augen – suchte in den tiefsten Winkeln ihres Bewusstseins nach dem schärfsten Bild ihrer Mutter, das sie noch besaß. Es war nur noch das Gesicht auf ihren Portraits. »Für dich ist es auch hart. Willst du ab jetzt wirklich allein leben?«

»Ich bin nicht allein.« Marika trocknete ihre aufkommenden Tränen und strich sich über den Bauch. »Außerdem bin ich Alistair noch was schuldig. Heute ist mein letzter Tag in Kamien, bevor ich gehe. Tu mir also bitte den Gefallen und kümmere dich gut um Janek, ja?« In ihrem Lächeln lag so viel Erschöpfung.

Widerwillig nickte Seraphina und schluckte einen schweren Kloß herunter. »Ich weiß noch nicht, wie, aber ich finde eine Möglichkeit.«

»Danke. Wenn Alistairs Pläne aufgehen, kann der feige Druide das Hospital demnächst wieder aufbauen. Janek und Lewian wollten immer Ärzte werden. Hoffentlich schafft es zumindest einer noch, seinen Traum zu leben.« Sie nippte an ihrem Apfelsaft und sprach der mondbeschienenen Dunkelheit entgegen.

Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Die Ferne hatte es Marika angetan – ihr eine ungewohnte Ruhe verliehen.

Sera hingegen verlor wieder eine Freundin. Sie konnte tatsächlich nichts besser, als Menschen zu verlieren.

»Wohin möchte Alistair dich schicken, wenn das Fest vorbei ist?« Sie bohrte die Fingernägel in die Unterseite ihres Hockers.

Marika schloss die Augen. »Das weiß ich noch nicht. Nur, dass ich dann endlich nicht mehr um mein bloßes Existenzrecht kämpfen muss.« Ihre kohleschwarzen Augen öffneten sich wieder. »Ich hoffe, es wird ein Ort sein, an dem ich wieder glücklich sein kann.«

Warum hatte Seraphina bei diesen Worten das Bedürfnis, aufzustehen und wegzulaufen? Warum zitterte sie? Warum hatte sie so ein schlechtes Gefühl?

Sie öffnete den Mund, etwas zu sagen – zu fragen – aber was? Wo immer Marika hinging: Wenn sie nicht bei Kräften war, war ihr Vorhaben aussichtslos. »Denkst du, wir werden uns wiedersehen?«

Angst.

Für den Bruchteil einer Sekunde lag Angst in Marikas Augen. Sie verschwand so schnell, wie sie kam. Stattdessen lächelte sie müde. »Wege kreuzen sich immer zweimal.«

Am anderen Ende des Platzes erklangen die ersten Trommelschläge und vermischten sich mit glockenhellen Flötentönen, als sänge der Wind durch die Wälder zu ihnen.

~✧~

Die restliche Nacht verging am wärmenden Feuer im Zentrum der Wiese mit einem die verbliebene Zeit auskostenden Gespräch.

Die ersten roten Wolken über dem Horizont kündigten den nächsten Tag an und Müdigkeit zehrte an Seras Muskeln. Im ersten Licht des neuen Tages würden die Druiden das Leben der Jungtiere an die Pflanzen im Boden weitergeben und danach schlief sie ein paar Stunden.

Als das Morgenrot bereits die Hälfte des Himmels bemalte, kam eine kleine Gruppe durchs Seitentor der Stadt. Sie strengte ihre Augen an, um die weiß-roten Waffenröcke der Soldaten und Bastien in roter Schecke mit weißgrauer Wolfsfellverbrämung zu erkennen.

»Kommt ein bisschen spät zum Fest«, zischte Marika.

Der Stadtgraf und Tjelvar tauschten Morgengrüße aus und auch ihr Professor schien verblüfft. Bastien nahm es mit seiner üblichen Gerissenheit und verwies erst auf das Blutrot am Himmel, dann auf die Druiden am Feuer.

Letztlich setzte er sich neben Nolann und wohnte den endenden Feierlichkeiten bei.

Kurz bevor das Rot den gesamten Himmel bedeckte, löschten die Moragi die Tortschen und das Feuer. Wie schon im letzten Licht des vergangenen Tages versammelten sie sich vor dem Weg. Die Mervailler jedoch blieben sitzen und leise brachte der Kommandant den Stadtgraf auf den neuesten Stand.

Da bohrte sich etwas Scharfes in Seras Schulter. Einen Moment lang sah sie in schwarze Augen. Unergründliche, nachtschwarze Augen.

Die Krähe starrte zurück. Legte den Kopf schief.

Bei allen –!

Sera hob die Hand. Weg mit dem Todesboten!

»Nein!« Marika packte ihr Handgelenk. »Nicht jeder stirbt, der in der Nähe von Krähen ist.«

Sera hielt ihre Hand zurück. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust und bis in den Hals, als platzte es ihr jeden Moment heraus.

Die Krähe starrte geradeaus. Beobachtete die Traube vor ihnen.

»Na, bitte. Wenn du ihnen nichts tust, tun sie dir auch nichts. Lass uns zu den Druiden gehen. Die letzte Zeremonie beginnt gleich.« Sacht zog Marika sie mit sich. Ihre Finger waren so kalt, dass sie schon abgestorben sein mussten.

Sera stakste über den Sand, um Tische und Bänke herum; hielt den Oberkörper kerzengerade. Wen hatte sie so verärgert, dass er ihr eine Krähe schenkte?

Vor der Menschenmenge hielt Marika noch einmal inne und umarmte Sera mit Rücksicht auf die Krähe. Sie nahm ihre beiden schlanken Hände in ihre eigenen knochigen. »Du sollst wissen, dass du mir in den letzten Tagen mehr Hoffnung und Freude gegeben hast als jeder andere hier. Ich habe vollstes Vertrauen in dich und darin, dass du Kamien den Frieden zurückbringen wirst. Denk nur immer daran, dass das Leben ein Geben und ein Nehmen ist. Alles hat einen Preis.« Sie blickte Sera so lange mit ihren dunklen Augen an, dass sie ebenso nachtschwarz wie die der Krähe sein konnten.

Danach schlenderte Marika an den anderen Moragi vorbei und schuf Platz für Seraphina und die Krähe, um ihr in die erste Reihe zu Lucien zu folgen.

Der Blick ihres Bruders zuckte sofort zur Krähe und er sprang einen Schritt zurück. Mit einem Schlucken trat er wieder näher.

»Weißt du, wie ich dieses Ding loswerde?«, fragte sie ihn telepathisch, damit die Krähe sie nicht hörte. Wer wusste, was sie sonst tat?

Luciens presste die Lippen aufeinander und nahm ihre Hand. »Warte einfach. Die fliegt von allein wieder weg.«

Sie krampfte ihre Finger in seinen Handrücken, um das Zittern zu unterdrücken und starrte nach vorn. Diese Krähe brachte Tod!

Vor ihnen stand Alistair im Kreis. Nach seinem Nicken schritt Marika auf ihn zu und kniete vor ihm auf dem Boden. Ihr weißes Gewand nahm das Rot des Himmels auf.

Alistairs Nasenflügel bebten, doch Marika nickte nur und flüsterte ein ›Danke‹ auf Moragi. Sie griff über die Schultern nach ihrem Schleier und bedeckte ihr Gesicht. Entspannt hockte ihre Freundin auf der mit Sand durchmischten Erde und legte die Hände in den Schoß.

Der Druide hob die Arme über Marikas jetzt weiß bedeckten Kopf und hielt eine weitere Ansprache auf Moragi. Seine Stimme war wie seine Finger: Man brauchte eine gute Wahrnehmung, um das Zittern zu bemerken.

»Was von der Mutter geschenkt, wurde sorgsam bedacht und wird nun reinen Gewissens weitergegeben. Mögen deine Brüder und Schwestern deine Entscheidung in Ehren halten und deine Güte mit Dankbarkeit empfangen.«

Luciens warme Hand griff fester um die ihre und sie wandte sich zu ihm. Seine Haare schimmerten im Licht wie die Sonne selbst. Die Krähe auf ihrer Schulter krächzte und drückte sich von Seras Schulter ab – zog Kreise über dem Druiden und der Moragi.

Johanna kniete vor dem niedrigen Krähenblock. Ihre haselnussbraunen Haare waren auf Kinnlänge gestutzt. Jetzt lag ihr blasser Hals frei und die verbliebenen Büschel flatterten wie ein zerrissenes Banner in der Frühlingsbrise.

Früher trug sie ihren schwarzen Gambeson und dicke, dunkle Kleidung als Erinnerung an die Verhungerten und Erschlagenen. Heute war es ein leichtes, weißes Kleid. Die Haut auf ihren nackten Armen zeigte die dünne, blaue Naht ihres auf ewig letzten Kampfes. Ihre wunden Handgelenke die schwerer Fesseln, die ihr gerade erst abgenommen waren.

Johanna saß still und aufrecht auf dem Podest und starrte erhobenen Hauptes zu ihr.

Neben sie.

Zu ihrem Vater.

Ihr Blick war fest. Ihr Gesicht ausdruckslos.

Als das Licht der Morgensonne den großen, mit Menschen gefüllten Hauptplatz in Cor Sole erhellte und auf die zum Tode Verurteilte schien, hob ihr Vater seine Hand. Hinter Johanna erhob sich ein vollkommen in Schwarz gekleideter Mann mit Schnabelmaske von seinem Hocker und griff nach dem schwarz lackierten Schaft des Krähenbeils neben ihm. Ein ebenso schwarzes Axtblatt mit einer eingravierten Krähe schwebte empor.

Der Krähenmeister stellte sich neben Johanna und packte sein Beil mit beiden Händen. Wie dem Schicksal ergeben, schloss Johanna ihre Augen und legte ihren Hals auf den Krähenblock.

Die aufsteigende Sonne segnete die Vollstreckung des Urteils ab und Marikas weiß gekleideter Körper fiel in Alistairs Arme. Ihre seidig schwarzen Haare eine dunkle Wolke vor dem weißen Hintergrund. Ihre unbedeckte Hand so bleich wie Pergamentpapier.

Alistairs Blässe hingegen war gewichen. Dunkles Braun wie Saoirses machte ihn wieder zu dem, was er war: Ein Druide – fast so mächtig wie jene aus dem Duthchal-Wald.

Ein Richter über Leben und Tod.

Irgendwo erschallte der Ruf einer Krähe.

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro