16. Der Fluch der Mutter

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Wieder krachte sie durchs Unterholz. Wieder stolperte sie, als Dornen sich in ihr Kleid bohrten. Wieder verknoteten sich Strähnen aus ihrem Haar in tief hängenden Ästen.

Wenn sie aus diesem Wald wieder herauskam, kürzte sie ihr Kleid mindestens auf Kniehöhe – falls die Dornen es nicht vorher schon stutzten. Und sie würde essen. Und schlafen. Hätte sie etwas im Magen, strauchelte sie jetzt sicher nicht so verloren zurück.

Essen.

Was hatten die Rebellen alles vergiftet? Einen Sack Getreide, zwei, drei – die gesamte Ernte? Was blieb ihnen, sobald sie alles Schädliche aussortiert hatten?

Wer außer Marika hatte die schwarz-violetten Körner noch bemerkt und gewusst, wozu sie dienen konnten?

Zwischen den Bäumen blitzte das Licht des freien Himmels auf und Sera blieb stehen. Rufe schallten über die Flussmündung. Ungeordnet und entschlossen. Einer davon lauter und klarer – kommandierend.

»Schuss! Wechsel! Laden!«, donnerte Nolann, dass es Sera in Mark und Bein vibrierte. Wie die Stimme ihres Vaters damals überm Schlachtfeld.

Der Widerstand griff an.

Konnten die Mervailler Sale verteidigen? Waren die Tore wieder stabil genug? Hatten die Rebellen Schiffe?

Hatten sie Unterstützung innerhalb der Stadtmauern?

Sera schüttelte den Kopf und umklammerte Johannas Bernstein. Dieses Mal war sie eine fähigere Seherin. Dieses Mal konnte sich verstecken und bei Tage vielleicht auch zwei, drei weitere Personen.

Dieses Mal scheiterte sie nicht!

Das sie umgebende Tageslicht absorbierend sprintete Seraphina aus dem Wald über die brachliegenden Felder.

Tatsächlich hielten die Mervailler stand. Eine Gruppe Armbrustschützen schoss, während die zweite nachlud. Vor ihnen – direkt an den Zinnen – verteidigten Fußsoldaten die Schützen.

Das Knistern der Strohhalme erstickte, ehe es überhaupt erklang; füllte ihre Energiereserven nur weiter. Ihr Schatten, ihre Fußspuren – ihr ganzer Körper – schwand zu Erde, Stroh und Fluss. Die Druiden waren die Einzigen, die jetzt noch einen Lebensquell auf sich zukommen spüren könnten. Für jeden sonst existierte sie nicht mehr.

Ein halbes Dutzend stieß mit einem Rammbock gegen das Haupttor. Andere versuchten, die Mauer mit Leitern zu erklimmen oder auf die Schützen zu zielen. Aber ohne Schilde fielen die Moragi in Wellen, wann immer Kommandant Nolann zum Schuss ausrief. Den einzigen Vorteil, den sie nutzen konnten, war ihre Masse.

Zwanzig Soldaten gegen vielleicht einhundert Rebellen.

Sie lief zwischen den Weidezäunen entlang.

Unzureichend ausgebaute Verteidigungsanlagen. Soldaten in schlechter Verfassung. Niemals genügend Bolzen. Und einen miserablen Stand in der örtlichen Bevölkerung.

Warum griffen die Moragi überhaupt das besser geschützte Tor an?

Seraphina suchte die weißen und gelben Sträucher neben dem Stall ab, noch bevor sie die letzte Weide passiert hatte. Das Loch war flach. Sie würde nicht einmal auf Knien hindurchkriechen können.

Oder stellte das Haupttor nur eine Ablenkung dar, um das Nebentor leichter zu brechen? Sollten die Moragi in der Stadt die Tore von innen öffnen?

Vor den brusthohen Büschen stoppte sie und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Ein paar Atemzüge nur, ehe sie zwischen den süß-bitter riechenden Sträuchern kniete. Lautlos schob sie die stechenden Zweige beiseite und tastete sich mit den Händen voran zur Mauer. 

Wenn sie flach auf dem Boden lag, könnte sie gerade so hindurchpassen.

Sera spuckte ein zähes Blatt aus und zog sich in die Öffnung. Steine und abgebrochene Dornen stachen in ihren Rücken und ihre Beine. Moos und zerquetschte rote Beeren klebten ihr im Gesicht. Ihre Umhängetasche mit dem Gegenmittel schleifte im Dreck.

Am anderen Ende stemmte sie sich ins Freie und rappelte sich wieder auf; klopfte das dreckige, zerfetzte Kleid in einen zumindest passablen Zustand ab. Sie nahm die Tasche am Riemen in die gewohnte Position vor der Hüfte und atmete durch.

Das Klingen von Metall auf Stein vom Marktplatz ertönte bis hierhin, dass es ihr wieder in den Schläfen hämmerte.

Ein mit Kisten vollgestellter Hinterhof. Unter einem überdachten Anbau lehnte ein Hammer gegen die Hauswand, den sie nicht einmal anheben könnte. Auf einer Kiste daneben stand eine faustgroße Steinfigur. Ein schlanker Wolf lauerte auf dem Holz und sah sie mit gefletschten Zähnen an. Seine Züge – sein Fell – fein wie eine Bleistiftzeichnung. Die rechte Kopfhälfte und die Zähne mussten noch bearbeitet werden, dann war das Meisterstück vollendet.

Wer immer solch Feingefühl besaß: Abgesehen von diesem Projekt stand die Werkstatt still. Hoffentlich nur wegen des Nachschubmangels an Steinen.

Sera wandte sich von der Figur und verließ den Hof. Die Savage donnerte in der Nachmittagssonne wie jeden anderen Tag auch – ob Sale heute fiel oder nicht.

Ob sie Tote wieder zuließ oder nicht.

Sie knetete den Lederriemen. Sie musste weiter. Solange sie die Konzentration für ihre Gabe noch aufbringen konnte.

»Jetzt sind wir so nah dran und keiner kann sich richtig auf den Beinen halten«, schnaufte ein Moragi.

»Ich hoffe sehr, dass es dieser Schlampe am Ende doch noch leidgetan hat«, brummte Stojan.

Sera bog auf die Hauptstraße. Am Marktplatz liefen und saßen Männer und Frauen. Trugen Kisten, sortierten Waffen, bauten Schwerter und Brustplatten zusammen. Stojans Schwester – mit straffem, dunkelbraunem Zopf – stand auf dem Podest neben dem gefällten Galgen und dirigierte die Moragi, dass sie wie ein Orchester spielten.

»Denkst du, Ctirad kommt zurück?« Einer von Stojans Freunden saß mit kalkweißem Gesicht im Schneidersitz und schob Pfeile aus einer Kiste in leere Köcher.

Sera sank das Herz herab. Pfeile mit den charakteristisch roten Federn aus Mervaille.

»Nein. Der hat sich selbst geholfen und dann aus dem Staub gemacht.« Keuchend hämmerte Stojan den Griff eines Schwertes übers Heft. Mervaillsche Industrieware für die Infanterie.

Aus der Schenke knallte Stein auf Stein und zwei Männer trugen eine weitere Kiste auf den Marktplatz. Gefüllt mit Bucklern.

All die Waffen und Rüstungsteile, nach denen Tjelvar und sie gesucht hatten, waren die ganze Zeit vor ihrer Nase. So viel zu ihrer Friedensvermittlung. Die Moragi hatten nur darauf gewartet, Nolann von hinten abzustechen.

Ihre Kiefer mahlten aufeinander. Solchen Leuten war sie zur Hilfe verpflichtet?

Wenn sie das Mohnblumenpulver den Moragi gab, behielten sie es für sich. Im besten Fall würden sie die Mervailler damit erpressen, im wahrscheinlichsten ihnen verwehren.

Wenn sie es nur den Mervaillern gab, verstieß sie gegen das Neutralitätsgebot und ließ auch die Unschuldigen sterben. Ganz zu schweigen, dass es Nolann jetzt ohnehin nicht half.

Wäre Tjelvar hier, hätten sie es als Bedingung für eine Waffenruhe nutzen können. Allein würde Seraphina schon gegen einen einzelnen Moragi verlieren.

Wo war Alistair? Hätte er nicht für Ruhe sorgen sollen?

Wo waren Lucien, Saoirse und Janek?

Eine Krähe segelte vom Haupttor zu ihnen. Sie umkreiste den Komplex gegenüber des Marktes, bevor sie auf dem Dach des vordersten Gebäudes landete.

Bitte nicht.

So viele Menschen saßen und lagen vor dem Gebäude. Auch, wenn es falsch war, aber bitte – lasst es einen von denen treffen, nicht ihren Bruder!

Sie lief los. Wo immer Saoirse war, musste auch Lucien sein. Die Druidin wusste bestimmt, wie sie das Pulver einsetzen und dosieren musste, um den Menschen auf der Burg zu helfen.

Ihre Stiefel klatschten auf die Erde. Ihre Hände klebten vor Schweiß. Ihr Kopf hämmerte im Rhythmus ihres Pulses.

Lucius!

Er war nicht unter den Menschen vor dem Gebäude.

Die Krähe schrie schrill und laut.

Sie taumelte zwischen den Menschen hindurch und huschte nach einer pflegenden Druidin – nicht Saoirse – ins vorderste Gebäude.

Und erstarrte mit großen Augen.

Ein Empfangszimmer? Sollte das hier nicht ein Hospital sein und kein Gasthaus? Warum stand eine Rezeptionstheke vor einer Tür und zwischen zwei anderen Türen?

Lucien war nicht hier. Auch nicht Saoirse oder Janek.

Sera nahm die nächste Tür – die Linke – täuschte sie geschlossen vor, während sie sich weiterstahl. Über einen Gang gelangte sie zur nächsten Tür und tat dasselbe.

Ein Krankenlager. Kinder, Heranwachsende, Alte in Decken gehüllt und auf Strohsäcken.

Keine strohblonden Haare. Keine krausen Borstenzöpfe. Weiter!

Lange hielt sie in dieser dunklen Umgebung und mit ihren Kopfschmerzen nicht mehr durch.

Im nächsten Raum war es noch schlimmer: Alkohol, Schweiß und der Gestank nach Erbrochenem erfüllten die Luft.

Im dritten war es still, als schliefen alle. Die Alkoholnote brannte bei jedem Atemzug in ihrer Lunge.

Strohblonde Zöpfe.

»Lucius!«

Ihr Bruder riss den Kopf hoch und durchsuchte den Raum. »Fina Er kauerte an der Wand, verhüllte seine Glieder in einer Decke und war blass wie früher – zu blass für heute.

»Ich hab das Gegenmittel. Draußen planen sie einen HinterhaltEin Zittern fuhr durch ihre Glieder. Er lebte!

Lucien taumelte hoch und schlang den blassgrünen Stoff um sich.

»Was machst du? Saoirse hat doch gesagt, wir sollen sitzenbleiben.« Ein Mädchen sah zu ihm auf.

»Tschuldige. Brauch frische Luft.« Ihr Bruder stolperte zwischen den anderen Kranken zur Tür hinter Sera.

Sie trat beiseite und ließ Lucien sie öffnen. Den Moment, den er zu lange am Fuß der drei Treppenstufen stand und die kühle Luft zu genießen schien, schlüpfte Sera ihm ins Freie.

Auf der letzten Treppenstufe knickte sie ein.

Ihre Handballen und ihr rechter Unterarm schlugen auf Erde. Ein Steinchen bohrte sich in ihre Handfläche. »Ich bin draußen, danke.«

Konzentration! Die Täuschung musste halten!

»Hier lang«, flüsterte Lucien und wankte auf das Gebäude im Zentrum des Pentagramms zu.

Wo ebenfalls gerade die Tür aufflog und Saoirse hinaussprintete: Zu einem der umliegenden Gebäude.

Janek sprang ihr mit einem Eimer in den Armen nach. Die Druidin hielt ihm die Tür auf und referierte, was er bei der Behandlung der Patienten beachten musste. Janek nickte und verschwand im Gebäude.

Augenblicke später eilte Saoirse zu Lucien und ihr. »Rein mit euch!« Sie packte Lucien an der Decke in der Taillengegend, Seras zerschlissenes Kleid zwischen den Schulterblättern und zerrte sie ins Rundhäuschen, aus dem sie kam.

Seras Kopf schaukelte schwindelerregend. Warum schleifte eine kindsgroße Druidin sie auch auf ihrer niedrigen Höhe mit?

Ein Knarzen und sie waren im Haus. Bitterer Gestank mischte sich mit fettigem und einer unterschwelligen Note Kräutern. Ein Ofen in der Mitte des Raumes. Die Flammen durch einen Kessel blockiert. Kalt.

Die angezündeten Kerzenständer reichten nicht. Die Fensterläden waren geschlossen.

Der Steinboden war eisig.

Ihre Schläfen donnerten.

»Saoirse? Ich habe Mohnblumenmilchkristalle mitgebracht.« Die Augen schließen. Nur einen Moment Ruhe. Nur einen einzigen.

»Nicht hinlegen, Féileacán. Du kühlst noch aus.« Kleine, warme Finger umschlossen ihr Handgelenk. »Komm ans Feuer und setz dich hin. Réalta, cabhrú léi le do thoil.«

Sera platzierte ihre Hände auf dem Boden und spannte die Arme an. Stemmte den Oberkörper auf. Goldene Strähnen fielen ihr ins Gesicht.

Neben ihr zischte Wasser auf.

Zwei Arme wie Metallstangen griffen ihr unter die Achseln und Lucien zog sie zum Feuer.

Ihre Finger tasteten nach ihrer Tasche und suchten nach dem Beutel, den sie Ctirad vorgehalten hatte. »Hier.«

»Danke.« Saoirse nahm ihr das Gewicht ab und verschwand. Klapperte mit Holz- und Tongeräten.

Seraphina hatte es geschafft. Ihr Bruder lebte. Janek lebte. Wie ein Sandsack fiel sie an Luciens Seite, sobald er neben ihr saß. »Wo ist Alistair?«

»In irgendeinem Schuppen. Von irgendwoher hat Stojan Gabenschlaf Nadeln aufgetrieben und sie ihm reingerammt, als er den Aufstand verhindern wollte.« Lucien knirschte mit den Zähnen und schlang einen Arm um Sera.

Gabenschlaf? Sie blickte an ihren sonnengoldenen Haaren herunter. Das war übel, wenn Stojan noch mehr davon hatte.

»Du solltest auch vorsichtig sein, wenn du da wieder rausgehst, Féilecán. Weißt du, was aus Ctirad geworden ist?«, fragte Saoirse und ihr Klappern verendete.

»Er wurde von einer Gruppe der Rebellen festgehalten. Aber wir haben ihn versorgt. Tjelvar ist noch bei ihm.« Stimmt: Als auch sie noch bei ihm war, ging es ihr nicht so schlecht wie jetzt – obwohl sie seitdem nichts gegessen hatte. »Ist das das Mutterkorn?« Nicht mehr als ein kleiner roter Punkt war vom Kratzer in ihrer Hand geblieben.

»Jap. Mutterkorn verengt die Adern und dämmt die Durchblutung. Manche benutzen es, um Blutungen zu stillen oder bei Geburtsproblemen zu helfen. Aber es ist schwer, die richtige Dosis zu finden. Darum habe ich immer andere Heilmittel, die nicht so gefährlich sind.«

Kein Tropfen Blut quoll aus ihrer Hand.

»Für euch.« Saoirse kam zu ihnen und reichte Lucien und Sera jeweils einen Holzbecher. »In ein paar Minuten geht's euch gleich viel besser und wenn Janek kommt, musst du deine Gabe wieder nutzen können.«

»Hab Dank.« Der kleine Schluck schmeckte bitter – prickelte auf ihrer Zunge und im Rachen.

Die Druidin nahm die leeren Becher entgegen. Ihre bernsteinfarbenen Augen schimmerten im fahlen Kerzenlicht. Wirkten alt. So alt wie Bernstein selbst. »Wie die Mutter jederzeit Leben geben kann, so einfach kann sie es uns wieder nehmen.«

Seras Bauch kribbelte. Die Druiden waren ein Volk von Kindern – und doch älter als Menschen. Älter als so manche Stadt. Vielleicht gar älter als das erste Leben.

Ein Schmunzeln ersetzte Saoirses weisen Blick und sie stieß die Fensterläden auf. »Janek ist auf dem Rückweg, Féileacán.«

Was Konzentration bedeutete. Frische Haselnüsse. Tiefes Schokoladenbraun.

»Wünschte, ich könnt' das auch«, murmelte Lucien und löste sich von Sera. Kälte kroch ihr in die Flanke, wo er nun fehlte.

»Wieder da«, fiepste Janek blass und zittrig. Noch in der Tür stockte er; sprang Sera anschließend in die Arme. »Jeanne, du bist zurück! Alistair bewegt sich nicht mehr und draußen gibt's Krieg! Stojan will alle töten und so viele sind krank und sterben und überall sind Krähen und ...« Der Junge klammerte sich an sie und vergrub sein Gesicht in ihrer Brust. »Sie sollen aufhören! Ich will das nicht!«

Sie hielt ihn fest. Sie auch nicht.

»Bleib tapfer, Janek.« Lucien strich ihm über den Rücken. »Deine Heldin rettet uns alle. Die Medizin hat sie uns schon gebracht und mit Stojan werden wir auch fertig.«

»Pardon?«

»Wirklich?«, fragte der Junge.

Lucien grinste.

Ihr klappte der Kiefer herunter. Niemals ging sie als aktive Seherin zu jemandem, der sie entlarven könnte!

»Jap. Und weil jeder Held einen Helfer braucht, bekommst du eine ganz wichtige Aufgabe«, sagte Saoirse und holte Papier und Stift aus einem der an die runde Wand angepassten Regale. »Jeanne braucht jemanden, der den Mervaillern auf der Burg die Medizin bringt, während sie Stojan aufhält.«

»Seid ihr von Sinnen?« Wie glaubten die beiden, sollte sie das bewerkstelligen?

Auch Janek presste sich enger an sie. »Die Mervailler werden doch auf mich schießen!«

»Ich halte das für eine ebenso schlechte Idee, Saoirse.« Sera legte die Arme schützend um den Jungen und blickte zur Druidin auf. »Sale wird heute schon genug Tote sehen müssen.«

In den alten Bernsteinen leuchtete Mitleid auf und Saoirse legte Stift und Papier auf den Rand des Herds. Sie nickte Lucien zu und hockte sich dann neben Sera und Janek. »Ich weiß. Aber noch können wir auch Leben retten.«

»Und währenddessen kümmern deine Heldin und ich uns um Stojan.« Lucien klopfte Sera auf die Schulter und Janek auf den Rücken. Jetzt war er ihr wieder so nah wie zuvor.

Sie musterte dieses breite Grinsen. Das würde eine dumme Idee werden. »Sag mir bitte, dass du noch ein Stoßgebet an den Herrn der Welt übrig hast.«

Seine Zähne blitzten im Licht – Reißzähne. 

»Ich bleibe bei Saoirse und helfe den Kranken hier!«, rief Janek.

»Ich weiß, wie du dich fühlst, Kleiner.« Lucien hob den Jungen aus ihren Armen und setzte ihn sich selbst auf den Schoß. »Angst ist wie 'n Gegner, der uns im Weg steht. Kann uns aber auch den Weg zeigen. Geh nicht hinter ihr, sondern neben ihr. Nur niemals vor ihr.«

In seinen Augen sah Sera das Glänzen – die Verluste und Gefahren, vor denen ihr Bruder sich schon gefürchtet haben musste. Und die er doch überwunden hatte.

Janek krampfte die Hände in Luciens schmutzig-weißes Hemd. »Aber was soll ich denn auf der Burg, wenn ich kaum Mervaillsch kann?«

Saoirse schob Sera Zettel und Stift zu und hob die Brauen.

Seraphina seufzte. Doch schließlich nickte sie und schrieb auf, was die Druidin ihr flüsternd diktierte.

»Selbst ein Held werden wie unsere Füchsin. Dein Wille hebt den Fuß und deine Angst zeigt dir, wohin du ihn nicht setzen darfst.«

Janek klammerte sich noch immer um jeden Halt, den er bekam. Aber er zitterte nicht mehr.

Angst war kein Feind, sondern ein Wegweiser. Das sah sie in Luciens Zügen gemeißelt.

Seraphina nahm ihre Fuchsbrosche ab. »In Xandria gibt es eine Legende über die Füchsin. Es heißt, dass sie durch die Broschen jeden von uns sehen kann. Sie sieht, wenn wir gegen unsere Prinzipien verstoßen und auch, wenn wir ihre Hilfe brauchen.«

Wobei der kleine Moragi der bronzene Füchsin gerade eher Todesblicke zuwarf.

»Ich habe sie schon einmal gesehen«, log sie und grinste. »Mitten in meiner Lizenziatenprüfung: Das majestätischte Geschöpf, das es auf der Welt gibt. Ihre Augen waren so golden wie die Sonne und ihre Brust so flauschig wie die Wolken. Und ihr Schweif erst!«

Mit jedem Wort wurden Janeks eigene Augen größer.

Selbst Lucien und Saoirse hielten die Luft an.

»Wie die Himmelslichter der unvererbten Sehergaben!« Die sie nie gesehen hatte. Sera hielt Janek die Fuchsbrosche hin und zwinkerte. »Und du hast die einmalige Gelegenheit, diese Füchsin bei dir zu wissen, ohne dafür in Xandria studieren zu müssen.«

Sein Mund stand offen. Mit Fingerspitzen tippte er die Brosche an. »Und die gibt es wirklich?«

»Natürlich. Sie wird über dich wachen, wie sie einst über Xandria selbst gewacht hat – und über mich.«

»Na schön, ich versuch's.« Janek pinnte sich die Füchsin an.

Saoirse hüpfte mit einem vollen Beutel um den Ofen und hing ihn dem Jungen um den Hals. »Das freut uns, Janek. Nimm den Hinterausgang zum Druidenviertel und versteck dich, bis du auf dem Boot bist. Jeanne und Lucien lenken Stojan ab und ich kümmere mich hier um alles.«

Zum Widerwillen ihrer müden Muskeln stemmte Sera sich hoch und taumelte mit den anderen auf die Tür zu, die die Druidin aufstieß.

 »Und jetzt reist unterm Segen des Windes, zieht mit den Wellen, folgt der Sonne und greift nach den Sternen! Eure Fäden werden noch gewoben!«

Ihr kleiner Helfer flitzte wie ein Streitross aus dem Gebäude und lief zur Mauer dem Eingangsgebäude gegenüber.

Sie ging mit Saoirse und ihrem Bruder in die andere Richtung. »Haben dir die Fäden auch gesagt, was ich gegen Stojan und Gabenschlaf tun soll?«

»Lucien vertrauen und hoffen, dass Stojan alle Nadeln für Alistair brauchte. Réalta kennt sich mittlerweile mit solchen Leuten aus.« Saoirse machte ihnen den Weg frei, dass sie hinter der Rezeption herauskamen. Stojans Brüllen versprach den Menschen Freiheit für Kamien.

»Grundgütige Sonne.« Sie verzog das Gesicht. Das konnte was werden.

»Sie vom Abschlachten der Mervailler abzubringen, sollte eigentlich reichen.« Lucien runzelte die Stirn beim Lächeln und ging voran.

Noch vor zwei Tagen war ihr Ziel Frieden in Sale.

Sera folgte ihrem Bruder im Windschatten durch die noch immer draußen ausharrenden, leichter vergifteten Menschen. Unschlüssige Blicke. Flehende. Misstrauische. »Weißt du, was mir meine Angst gerade sagt? ›Geh bloß nicht in diese Richtung!‹«

In Sprechchören heizten Stojan und seine Schwester auf dem Podest die Moragi an, bereits ein gezogenes Schwert in der Hand und einen Helm auf dem Haupt.

»In unserm Fall müssen wir unsre Angst wohl begraben«, seufzte Lucien und fiel hinter sie zurück.

»Wundervoll.«

Jeder Versuch, gegen das Getöse anzukommen, wäre vergebens – genauso wie eine bewaffnete Masse zum Frieden zu überreden. Dennoch nahm sie ihre Zeigefinger zwischen die Lippen, atmete tief ein und verstärkte ihren Ton bis zur Grenze eines Unbegabten.

Ihr Pfiff zerfetzte die Abendluft, dass die Menschen zusammenschreckten und sich die Ohren zuhielten.

Stille.

Und alle Augen auf sie gerichtet.

»Geht doch. Jetzt können wir einander auch hören, wenn wir etwas zu sagen haben.« Sie könnte sich genauso gut vor die Krähen werfen. »Zunächst einmal möchte ich die Gerüchte ausräumen, Ctirad hätte euch hintergangen: Ich komme gerade aus dem Hospital, wo ich das Gegenmittel für unsere derzeit dringlichsten Probleme abgegeben habe. Jeder, der sich im Augenblick zu krank fühlt, sollte jetzt dorthin gehen, um behandelt zu werden.«

Einige schwankten tatsächlich, doch keines der papierweißen Gesichter verließ den Marktplatz. Sie waren schon viel zu kampfbereit, jetzt das logisch Sinnvollere zu tun.

Seraphina brummte. Sie musste ihre Kampfmoral brechen, wenn sie etwas bewirken wollte.

Stojan sprang vom Podest und landete auf dem Boden, als wäre er aus massivem Stein erbaut. »Füchsin«, schnarrte er und pirschte näher. Das Schwert in der Hand. »Siehst du hier einen, der nicht stehen kann? Wir können warten, bis wir unsere Freiheit zurückgeholt haben.«

Heißer, scharfer Atem hauchte in ihr Gesicht. Seraphina hob ihr Kinn, um dem gut zwei Köpfe größeren Moragi in die Augen zu sehen. Wenigstens sollte Janek jetzt sicher zum Boot kommen.

»Ihr nehmt viel auf euch, damit ihr wieder frei seid. Ist Kommandant Nolann euer Ziel, Stadtgraf Bastien oder seht ihr bei eurer Befreiung noch weiter nach oben?« Ihre Stimme klang ruhig. Ganz anders als sie sollte, wo sie nur eine Armeslänge vor ihrer Enthauptung stand.

»Wir sehen zu unseren Brüdern und Schwestern, wenn wir von Freiheit reden. Zu einem Kamien ohne Rot und Weiß und zu einem Leben ohne Gefangenschaft!«, brüllte er den letzten Teil seinen Leuten zu. Sie antworteten in einem geschlossenen ›Ja!‹ und rissen ihre Waffen empor. Dann wandte Stojan sich wieder an Seraphina.

In seinem Blick lag kein Hass. Nur steinerne Bestimmtheit. »Eure Aufgabe ist beendet, Mädchen. Geh nach Hause und genieß die Zeit mit deinen Liebsten.«

Zeit gewinnen! Wo steckte Lucien? »Ich denke, hier fängt meine Aufgabe erst an. Weißt du, was euch droht, wenn ihr Kommandant Nolann und Stadtgraf Bastien abschlachtet? Sie werden ersetzt. Und wenn sie ersetzt werden, dann werden die neuen Platzhalter ihr Blut mit eurem reinwaschen. Nolann und Bastien sind ein Segen für dieses Lehen.«

Stojan starrte sie nieder.

Sie starrte zurück.

Seine Meute wurde nervös.

Er drehte den Griff seines Industrieschwertes in der Hand. »Dein Fuchs fehlt. Heißt das, du bist jetzt nicht mehr neutral und ich muss mich nicht mehr zurückhalten?«

»Nieder mit der mervaillschen Spionin!«

»Das heißt« – verdammt! – »dass ich hier vor euch als Mensch – als Jeanne – zu euch spreche und meine Neutralität zu euren Gunsten aufgebe.« Kaufte er ihr das wirklich ab? »Lebend kann euch Kommandant Nolann noch als Geisel dienen. Tot bringt er euch nur in noch größere Gefahr.«

»Sperren wir sie zu Alistair!«

»Oder wir nehmen sie als Schutzschild, wenn wir den Kommandanten abstechen!«

Weit hinter ihnen scharrte Holz auf Erde und Jubelrufe ertönten. 

Das Nebentor!

Stojan lächelte. »Damit brauchen wir dich nicht mehr.« Mit dem Eis ihres Vaters in den Augen hob er seine Waffe, dass die kühle Klinge an ihrem Hals lag. »Verschwinde oder stirb!«

»Waffe runter oder Olga stirbt!«

Die Klinge zuckte von ihrem Hals. Stojan wirbelte zum Podest – zu seiner Schwester, die stocksteif dastand. Lucien hinter ihr, der ihren Kopf in den Nacken zog und sein Messer vor ihrer Kehle hielt.

In ihrem Rücken trommelten Schritte. Siegesschreie.

»Ich weiß, dass es euch darum geht, die Gefangenen aus dem Arbeitslager zu befreien«, rief Lucien mit aller Kraft. Trotzdem ging seine Stimme im Gelärme unter.

Konzentration!

Seraphina dämpfte das Johlen hinter ihr, das ungeduldige Aufbegehren vor ihr und nutzte diese Energie, Lucien den Platz überschallen zu lassen.

»Was glaubt ihr, wird passieren, wenn ihr die Stadt befreit habt? Wollt ihr den Aufseher im Arbeitslager damit einschüchtern? Er wird Rache nehmen! Blutige Rache – an euren Freunden! An eurer Familie! An euren Liebsten! Er wird alle im Steinbruch abschlachten und euch die Köpfe aus der Savage angeln lassen!«

Adern pochten Stojans Schläfen entlang. Sprangen an seinen breiten Unterarmen, seinen schwieligen Fäusten hervor.

»Und während ihr sie aus dem Wasser fischt und noch drüber nachdenkt, wie ihr sie so beerdigen sollt, wird Bastien den Befehl geben, euch von der Burg aus abzuschießen, bis der Fluss rot ist. Von Osten wird der Aufseher mit seinen Soldaten kommen und den Wald abbrennen. Er wird euch jeden einzeln foltern wie Vieh, bis nichts mehr von Kamien übrig ist! Asche wird die Erinnerung an euren törichten Frieden sein! Also – «

Ein Klicken hinter Lucien und Olga entriss sich seinem Griff. Sie schlug ihm das Schwert mit einem Kampfschrei aus der Hand und rammte ihn mit der Schulter vom Podest.

Er stand nicht wieder auf.

Sera setzte noch zu einem Schrei an, aber Stojan war schneller.

Er schleuderte zu ihr herum und ein Knacken erschütterte ihr Gesicht. Sie schlug mit dem Kopf auf die Erde und Bilder verschwammen. Geräusche verschmolzen. Ihr Gesicht war warm. Es roch nach Rost.

Lucius!

»Räumt sie aus dem Weg und kümmert euch um den Spinner. Die Kleine brauchen wir vielleicht noch. Sorgt dafür, dass sie morgen wieder laufen können.«

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