Der Mitternachtsjunge (6)

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"Wo warst du denn so lange?" Polina rückte von Maxim weg.
Einen Augenblick zögerte Masha. Es gab keinen anderen freien Platz, also ließ sie sich in die entstandene Lücke fallen.
"Auf dem Klo."
Ihr Lächeln musste furchtbar künstlich wirken. Oder empfand nur sie es so? Es schien jedenfalls niemand zu bemerken. Max hob den Arm - in einem viel zu weiten Bogen, es sollte wohl jeder sehen - und legte ihn schwer auf ihren Schultern ab. Ihr tat der Nacken weh; umständlich wurstelte sie ihren Pulli im Rücken zurecht und blieb dann ein wenig vorgebeugt sitzen, um aus seinem Griff heraus zu rücken. Sie war so müde - wie gerne hätte sie sich nach hinten gelehnt. Aber nicht in seinen Arm hinein.

Anoushka schob ihr ein Glas hin und man fragte sie, was sie trinken wolle.

Cola Vodka", antwortete Max für sie, aber sie schüttelte energisch den Kopf.
"Nur Cola."

Anoushka lächelte ihr Lächeln und schenkte ihr ein, Polina scherzte mit Egor über irgendetwas, und Maxim begann ihren Rücken zu massieren, da sie demonstrativ vorne an der Kante hocken blieb.

Wie schön war es im Bad gewesen. Am Fenster. Das Lachen und Reden der anderen war kaum durch die verschlossene Tür gedrungen. Sie hatte das heimelig orange farbige Licht gemocht, das die Lampen neben dem Spiegel verstrahlten. Die erfrischende Kälte am Fenster, die Stille da draußen, der Schnee, der vor der dunklen Leinwand aus Nacht und Weite nieder wirbelte, ihre Gedanken waren so klar bei ihr gewesen. Jetzt wurden sie zerfetzt, zerrissen, alles erschien ihr so durcheinander, so viel auf einmal. Sie musste tatsächlich völlig übermüdet sein. Vielleicht half die Cola ...

Sie ertrug seine Hand nicht mehr. Weiter und weiter knetete er an einer Stelle an ihrem unteren Rücken herum. Sie hätte schreien können vor Wut.  Während sie sich vor beugte, nach ihrem Glas griff und einen Schluck trank, nahm sie den freien Arm nach hinten und schob seine Hand genervt beiseite. Er würde hier jetzt kein Theater machen. Nicht vor den anderen.

Die Hand blieb weg. Sie wandte sich über die Schulter zurück, lächelte flüchtig in seine fragenden Augen hinein. In seinem Blick lag Missbilligung, aber sie ignorierte das. Als sie sich mit dem Glas in der Hand neben ihm zurück lehnte, behielt er seine Arme bei sich. Stattdessen fielen seine Knie jetzt weiter auseinander, bis seines das ihre berührte. Ein paar Sekunden später löste sie auch das auf, indem sie sich wieder vorbeugte, in die Schüssel mit den Chips hinein griff und dabei die Beine nach vorne weg und unter den Couchtisch ausstreckte.
Wenn es nach ihr ging, durfte die Musik gerne noch wesentlich lauter sein; so laut, dass sie sein Lachen über Egors Witze nicht hören musste.

"Ja, also ... wenn ihr wollt, können wir jetzt essen! In der Küche gibt es auch Teller, Gabeln und alles, was ihr braucht."

Sie brauchte einen anderen Ort. Einen, an dem sie allein sein konnte. Ganz sicher gab es den nicht in der Küche.

Anoushkas Vorschlag wurde freudig angenommen. Egor und Polina rappelten sich eilig von der Couch hoch, Maxim ebenfalls - bis er merkte, dass Masha sich nicht rührte. Besser, sie sagte jetzt irgendwas.

"Ich .. warte hier, bis ihr fertig seid. Dann habt ihr mehr Platz am Buffet."

Er bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte, und verschwand Richtung Küche. Pavlik stand auf und folgte ihm.

Nur Anoushka saß noch an ihrem Platz. Mit dem Finger stupste sie ihr Knie an.
"Na, du? Alles okay mit dir?"
"Ja. Ich ... bin nur ein bisschen müde heute." Sie sah von ihren Chips auf. "Warum fragst du?"

"Weil du so still bist." Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. "Und weil ich finde, Max rückt dir ein bisschen zu sehr auf die Pelle." Sie zuckte die Schultern. "Ich weiß, ihr seid zusammen, also warum sollte er nicht. Ich frage mich nur, warum er nicht merkt, dass du das gerade gar nicht willst." Sie sah sie aus zusammen gekniffenen Augen an. "Habt ihr Zoff oder so?"
Masha nickte zögernd. "Ist aber schon wieder gut. Es ist nur ... ich bin noch ein bisschen böse auf ihn. Bei mir geht das nicht so schnell. Und das scheint er irgendwie nicht ..."

Egor erschien im Türrahmen. Er balancierte einen Teller mit einem gewaltigen Haufen Salat und mehreren Fleischbällchen vor der Brust, die andere Hand hielt ein Glas mit Beerenquark. Seine Gabel und eine Serviette hatte er sich zwischen die Lippen geklemmt.

"Du Armer", stieß Anoushka aus und schaute gespielt mitleidig. "Du hast ja kaum etwas Essbares für dich gefunden! Gab es nicht genug für dich? Ich hoffe, ich bekomme dich trotzdem einigermaßen satt."
Er war bei ihnen angekommen. Umständlich beugte er sich zu ihr hinab, zog Gabel und Serviette zwischen den Lippen hervor und küsste sie lächelnd. Beinahe wäre ihm dabei ein Fleischbällchen in ihren Schoß gefallen.
"Sieht alles extrem lecker aus. Hast du gut gemacht! Danke."
Ihre Wangen wurden noch ein wenig rosiger, als sie bereits waren. Sie lächelte Masha aufmunternd zu.

Aus der Küche erklangen die Stimmen von Max und Pavlik. Warum brauchten sie so lange? Ihr Magen knurrte wie ein Wolf, sie konnte den Blick nicht von Egors Teller weg nehmen.

Das schrille Türklingeln ließ alle drei aufhorchen.

Oh! Das werden Yuri und Oksana sein."

Kamen etwa noch mehr Gäste? Es war ihr jetzt bereits zu viel. Anoushka sprang auf und lief in den Flur hinaus, um den späten Ankömmlingen zu öffnen, Egor schob sich eine Gabel voll Nudelsalat in den Mund und lächelte mit zusammen gekniffenen Lippen.
"Hmmm ..." Kauend wies er mit der Gabel auf seinen Teller. "Der isch gut", nuschelte er und meinte wohl den Salat. Begeistert rollte er mit den Augen. Im Flur mischten sich unbekannte Stimmen unter die, die vom Buffet zu ihnen hinüber drangen.

"Na, dann will ich auch mal ..." Masha rappelte sich vom Sofa hoch, ihr Fluchtreflex ließ sie nicht länger sitzen. Sie wollte zumindest Polina bei sich haben, ohne sie begann sie sich unwohl zu fühlen, denn einen Yuri und eine Oksana kannte sie nicht.

Im Flur kollidierte sie mit Max und Pavlik. Sie trugen ihr Essen vor sich her und versuchten damit an den beiden jungen Leuten vorbei zu kommen; diese waren dabei, sich Jacken und Schuhe auszuziehen. Polina stand noch mit ihrem Teller in der Küchentür, sie kam gar nicht erst  bis in den Flur hinein und musste warten, bis sich der Stau einigermaßen auflöste.

Im Chaos ergriff Anoushka das Wort und stellte die beiden vor. "Das ist Yuri, ein alter Freund von Egor. Er ist Vanjas Bruder."

 Diesen Yuri hatte sie noch nie bei Anoushka und Egor gesehen. Und wer war Vanja? Sie hatte keine Ahnung. Alle, die sich da gegenseitig mit ihren Tellern im Weg herum standen, verzichteten darauf, ihnen die Hand zu geben und beschränkten sich aufs Nicken und "hallo" sagen. Nur sie selbst hatte die Hand frei und reichte sie dem humorvoll dreinblickenden Jungen mit dem schmalen Körperbau und den zotteligen Haaren. Zu ihrer Überraschung trug er einen langen Ohrrring an der einen Seite; was sein Äußeres betraf, konnten er und seine ebenso zierliche und originell ausstaffierte Begleitung glatt Geschwister sein. Sie wirkten wie ein Zwillingspaar.

"Und das ist Oksana."

Die junge Frau ergriff ebenfalls ihre Hand und musterte sie neugierig. Und Masha staunte. Auffällig waren die Piercings, die sie im Gesicht hatte, zwei über der Lippe und eines in der Augenbraue. Mehr war im schummrigen Licht des Flurs nicht zu erkennen, aber wahrscheinlich gab es da noch weitere. Ihre stufig geschnittenen Haare standen ihr asymmetrisch vom Kopf ab, was eindeutig kein Versehen, sondern so frisiert war; noch markanter als die zwei ungleichen Seiten - ein Ohr frei geschnitten, eines verdeckt durch die lange, gestufte Mähne - war jedoch die rabenschwarze Farbe, die wohl aus der Packung kam; zur schneeblassen Haut ergab sie einen krassen Kontrast.

Als Oksana sich zu Polina wandte, um auch diese zu begrüßen, sah man im Licht, das aus der Küche schien, wie abenteuerlich geschminkt ihre Augen waren. Fasziniert und mit offenem Mund starrte Masha; die junge Frau war extrem interessant. Ein leuchtendes, tiefes Pink, an den Seiten weit über die Augenlider hinaus gezogen und mit einem Streifen in schillerndem Grün nach oben abgegrenzt, betonte rabenschwarze Augen und Brauen. Sie hatte etwas von diesen Mädchen aus der Mongolei. An der kurz geschnittenen Seite ihres Kopfes zog sich die pink farbige Linie über das frei stehende Ohr hinweg und weit in die Haare hinein.
Mit ihrem spitzen Kinn, der schmalen, ein wenig flach geratenen Nase und der knochigen Figur, die sie in dunkle, eng anliegende Kleidung hüllte, war sie absolut keine Schönheit. Aber sie hatte Stil. Und Mut. Sie bewegte sich auf demselben Level wie Anoushkas Weihnachtsbaum.

Masha war so gefangen von dem Anblick, dass sie erschrocken zusammen zuckte, als Anoushka ihr über die Schulter flüsterte: "Sie ist ziemlich cool."
Laut sagte sie: "So, ihr Lieben, wir entschärfen die Situation! Wer essen haben will, geht in die Küche. Wer bereits etwas hat, setzt sich ins Wohnzimmer. Lasst die beiden durch, macht Platz!"

Pavlik, Polina und Maxim verschwanden mit ihren vollen Tellern, das Gedränge im Flur löste sich auf.

"Oh, Essen!" Oksana verdrehte seufzend die Augen. "Hast du gehört, Yuri? Diese Leute haben echtes Essen für uns." Beide lachten und Yuri sagte zu Anoushka: "Deine Salate sind der Hammer. Oksana wollte mich sogar sitzen lassen, wenn ich nicht aufhöre, davon zu schwärmen. Bin schon in der Küche ... " - und weg war er, und seine Freundin folgte ihm auf bunten Socken.

Was für ein skurriles Paar ... dass Anoushka und Egor so verrückte Freunde hatten! Einerseits waren sie furchtbar normal. Offene, nette Leute, mit denen wahrscheinlich jeder gut auskam, soweit man sich nicht an ihrer extravaganten Optik stieß. Aber ihr Aufzug, ihr Äußeres wirkte, als wären sie einem dieser futuristischen Filme entstiegen. Es gab ja diese Geschichten, in denen die Erde durch einen Atomkrieg zerstört war und sich diese fantasievollen Leute zusammen taten ... die ihre Kleidung und ihren Schmuck aus allem Möglichen und Unmöglichen herstellten, was so herum lag und zu finden war. Die hatten ebenfalls Piercings, Gesichtsbemalungen, Tattoos und ausgefallene Frisuren. Unwillkürlich musste sie an den seltsamen Jungen da draußen denken. Alle drei wirkten sie wie vom selben Clan.

Anoushka zwinkerte ihr zu und schob sie Richtung Küche. "Steh hier nicht herum. Geh schon, hol dir was zu essen. Der Thunfischsalat ist lecker."

Mit einem schmalen Lächeln, dem man hoffentlich die Unsicherheit nicht zu sehr ansah, trat Masha zu den beiden Neuankömmlingen ans Buffet.

Ende Teil 6


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