Es war dunkel.
Und feucht.
Ein modriger Geruch lag in der kalten Luft, die hier zusammen mit ihr in den Gemäuern eingeschlossen war.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, was passiert war oder wie sie hier überhaupt hingekommen war, doch ihre Füße schienen den Weg zu kennen, denn sie trugen sie sicher weiter durch die Gänge hindurch, vorbei an etlichen Fackeln und Türen.

In ihren Händen trug sie eine Wasserschale und einige Stoffbinden, die ihr ebenso fremd waren wie die Kleider die sie trug. Im Grunde war es ein langes, dunkles und schlichtes Kleid mit Schürze, das aus einfachem Stoff zusammem genäht war.
Dieser Ort hatte etwas seltsam vertrautes und gleichzeitig wirkte er ihr wieder so fremd wie nie zuvor.

Schließlich erschien ein Lichtschein, der aus eine der Türen kam und Enchans atmete erleichtert auf. Sie hatte kein Interesse daran noch weiter zu laufen und vielleicht war das ihre Chance auf einen Rückweg.

Sie näherte sich der Tür und ihre Füße brachten sie ganz selbstverständlich in den Raum, aus dem das Licht kam.
"Ich glaube die Kratzer haben wieder angefangen zu bluten", ertönte ein Stimme vom anderen Ende des Raumes.

Er war rund mit etlichen Schränken an den Seiten und einer Tür in der Mitte. Eine Holzbank zog sich einmal im Kreis vor den Schränken her. Es sah aus wie eine Art Umkleideraum.

"Ich weiß was du jetzt sagen wirst, aber glaub mir Taija, das wird mich..." Die Frau, zu der die Stimme gehört, drehte sich um und blickte Enchans verwundert an, dann verengten sich ihre stahlgrauen Augen. "Du bist nicht Taija", erwiderte sie und Enchans schüttelte nur leicht den Kopf.

Langsam kam sie auf Enchans zu. "Wer bist du und was machst du hier?", fragte sie und gab ihr dabei die Möglichkeit sie genauer zu betrachten. Ihr Oberkörper war mit Binden bedeckt, ebenso wie ihre Arme, während ihre Beine in einer lockeren Hose steckten. Sie hatte keine Schuhe an und Enchans fragte sich unwillkürlich ob sie nicht frierte.

"Ich hab dich was gefragt!", wiederholte die Frau zischend, ihr Blick scharf wie Klingen.
"Mein Name ist Enchans", antworte die Brünette schnell und versuchte die richtigen Worte zu finden. "Und...und ich...ich weiß nicht, warum ich hier bin oder wo ich überhaupt bin."

Die Augen der Frau wurden ein wenig klarer, als schien sie zu verstehen. "Enchans sagst du", wiederholte sie, während sie ihr die Wasserschale und die Binden abnahm und auf die Holzbank stellte, dann begann sie vorsichtig ihre Binden vom Oberkörper zu entfernen.

"Dann bist du wohl meine Nachfolgerin."

Enchans sah sie fragend an. Was ging hier bloß vor sich?
"Nachfolgerin?", fragte sie und die Frau sah von ihren Binden auf. Dreck bedeckte ihren ganzen Körper, Spuren von Sand und Schlamm und blauen Flecken. Aber die Frau mit den Schulterlangen dunkelbraunen Haaren nickte.

"Du bist die Auserwählte des Skorpions, nicht wahr? Die erste Auserwählte der sechsten Generation." Enchans brauchte einen Moment, um zu realisieren, was die Frau gesagt hatte, doch dann nickte sie. Ihre Erinnerungen kamen allmählich wieder zurück, Stück für Stück. Sie nickte.

"Ich bin die erste Auserwählte des Landes und des Skorpions. Mein Name ist Zemina."
In Enchans Gesicht standen lauter Fragezeichen. Sie wusste nun zwar wer die Frau war, doch etwas damit anfangen konnte sie nicht.

"Wo bin ich hier?", fragte sie leise nach einer Weile, in der Zemina seelenruhig ihre Binden weiter entfernt hatte.

"In den Trainingshallen des Skorpions, in dem Moment, in dem ich gerade dabei bin die Kampfkünste zu verbessern", antwortete die erste Auserwählte ihr. "Warst du noch nie hier unten?"

Enchans schüttelte mit Verwirrung in den Augen den Kopf. "Das heißt ich könnte einfach hier rausgehen und zurück nach Hause?" Ein kleiner Funken Hoffnung entbrannte in ihr, wurde jedoch wieder zu Nichte gemacht.

"Mal abgesehen davon, dass das hier nicht wirklich die Realität ist, die du kennst, sondern meine Gedanken, befinden wir uns im 13. Jahr des Medophstyms und du bist soweit ich mitbekommen habe im 681. Jahr geboren. Nach Hause gehen wird schwierig." Zemina verzog einmal schmerzvoll das Gesicht, als sie die letzte Binde entfernte. Eine offene, vor Blut triefende Wunde kam zum Vorschein, die sich an ihrer Hüfte entlangzog.

"Aber warum bin denn jetzt hier?"
"Bevor ich dir irgendwelche Antworten geben kann, könntest du bitte die Wunde säubern? Es ist ein wenig kompliziert zu erklären, aber die Gefahr mich selber umzubringen, wenn ich sie berühre, ist zu groß. Normalerweise macht Taija das." Die Braunhaarige deutete mit einem Nicken auf den Lappen und die Wasserschüssel und gab Enchans einen leicht flehenden Blick. Ihre "Vorgängerin" musste wirklich große Schmerzen leiden, so wie sie dastand.

Enchans griff ganz selbstverständlich, als hätte sie es schon tausende Male gemacht, nach dem Lappen und begann ganz vorsichtig die Wunde zu säubern. "Sag, wenn es zu sehr weh tut", bat Enchans sie und Zemina konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, so wie sie Enchans dort neben sich knien sah.

"In den ganzen Generation zwischen uns, ist erst ein Auserwählter auf so eine Art zu mir gekommen", erzählte sie und verzog ab und an das Gesicht. "Damals vor knapp 450 Jahren war gerade der große Krieg zwischen Süden und Norden dabei auszubrechen. Eine schreckliche Zeit mit viel zu vielen Toten. Der dritte Auserwählte Grêst kam damals und es erging im genau wie dir. Er wusste nicht was passiert war, wo er war und warum. Was passiert ist, konnte ich ihm leider nicht beantworten, genauso wie dir, aber warum schon."

Sie machte eine Pause, während Enchans vorsichtig ein der Binden nahm, sie über die Wunde legte und aufmerksam zuhörte.
"Aber es wird dir nicht gefallen, genauso wenig wie mir."
Enchans sah auf und ihre Augen trafen direkt auf die von Zemina.

"Enchans, der Krieg kommt und bist hier, weil das Land es so vorsieht, dass du dort mitkämpfst. Meine Nachfolger werden nur dann zu mir geschickt, wenn es wirklich so ernst ist und das scheint es zu sein. Bei Grêst war es der Krieg zwischen Norden und Süden, was es jetzt ist weiß ich nicht." Zemina seufzte und ließ sich auf die Holzbank fallen.

"Es ist doch echt ein unfaires Leben, dass wir führen", sagte sie nach einer kleinen Weile der Stille leise und drehte sich mit einem entschuldigenden Blick zu Enchans. "Bald wirst du auch diese Binden tragen", sagte sie und untersuchte die Siebzehnjährige von oben bis unten.
"Warum?"
"Weil ich dir jetzt unsere Fähigkeit erklären werde."

Zemina, 1. Auserwählte des Landes und des Skorpions, Meisterin der Kampfkünste.
Geboren: 13. November, 11595. Jahr Kedophstym
Erwählung: 11. Jahr Medophstym
Gestorben: 5. Februar, 25. Medophystm, im Alter von 30 Jahren