𝟏𝟎.𝟏 | 𝐆𝐞𝐡𝐞𝐢𝐦𝐧𝐢𝐬 𝐮𝐦 𝐆𝐞𝐡𝐞𝐢𝐦𝐧𝐢𝐬

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» So verordnete Vsevolod II durch seine Heeresreform: „Mit Wende des Jahres tritt das Gesetz König Vukan I von Stertka, unseres Urvaters und treuem Diener Ivan des Großen, wieder in Kraft, das Frauen den Zugang zur Armee untersagt. Weibliche Angehörige kämpfender Einheiten, ob im Range eines Fußsoldaten oder eines Generals, werden in vollen Ehren ihres Amtes enthoben." Seine Zeiten mögen dies vielleicht erfordert haben. Unsere Zeiten fordern eine Wiederherstellung dessen, was war, eine Rückkehr der Paljenitsa, der Frau, in die Armee «

- aus »Vesinas Kampf. Die Frau als Bestandteil der velischen Armee«
Fürstin Adila Bálint
521 n. G. Velijas


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IM ROTEN Licht der letzten Sonnenstrahlen sah der Stenwald gar nicht bedrohlich aus. Vielmehr wie jeder andere, wie Zarja befand, obwohl sie nur einen einzigen, ein kleines Wäldchen südlich ihres alten Zuhauses, kannte.

Außer an Weite und Größe der Bäume ließ sich kein markanter Unterschied erkennen, der deutlich gemacht hätte, dass es sich hierbei um einen Ort handelte, vor dem man alle Kinder warnte und den selbst Erwachsene nur betraten, wenn sie es mussten.

Nun mit der Ausnahme derer, deren Häuser die Kinder gerade eben passiert hatten.

Lesoviki hatte Jelisaveta sie genannt: Waldbewohner – oder wie die Waldgeister, die den Legenden nach Menschen in ihrem Reich in die Irre führten. Sie behauptete, ihr Volk stünde seit Jahrhunderten mit dunklen Mächten im Pakt, die es ihnen erlaubten, unbehelligt so nahe am Stenwald zu leben; im Bund mit den Kreaturen, die in seinen Schatten lauerten.

Zarja fand, dass diese kleine Siedlung eine recht merkwürdige Bastion des Bösen war und dass ihre Bewohner ganz gewöhnlich schienen. Die rothaarigen Mädchen, die sie immer wieder in der Nähe des Lagerhauses spielen sah, wirkten jedenfalls nicht wie grausame Hexen und die fremde Sprache, in der sie scherzten, sicherlich nicht wie Zauberformeln. Aber was wusste sie schon?

Im Übrigen mochte Zarja sie auch nicht; denn die anderen Kinder meinten, sie wäre eine von ihnen. Lesovikha, Ved'ma, Monster. Sie hasste es, weil ihr diese Häuser und die Sprache fremd waren. 

Und sie hasste es, weil sie vielleicht trotzdem recht hatten, denn ihre Mutter stammte aus der Gegend Shirokovs und sie hatte Zarja ihr rotes Haar und ihre blauen Augen vererbt.

„K-Können wir ni-nicht wieder gehen?", fragte Dima bibbernd und Zarja erkannte, wenn nicht an seiner Stimme, so doch an seinem rasenden Herzschlag, dass dafür die Angst und nicht die Kälte verantwortlich war. Ein Trommeln wie von Pferdehufen, die auf der gefrorenen Erde auftrafen.

„Gehen? Aber wir haben doch noch überhaupt nichts gesehen!", protestierte sie. Schließlich wollte sie wissen, ob all die Legenden der Wahrheit entsprachen.

„Komm schon!" Sie befahl es mit einem Ernst, der in einem komischen Kontrast zu ihrer hohen Kinderstimme stand. Wie um zu beweisen, dass nichts passieren konnte, ging sie ein paar Schritte vorwärts, überschritt die nicht ganz klare, aber doch spürbare Grenze zwischen verschneiter Wiese und Wald.

Dima blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie aus großen blauen Augen an, die vielleicht nicht nur Furcht vor dem Wald zeigten, sondern auch vor ihr.

„Aber Marija Alexejevna und Jelisaveta haben gesagt, das ist verboten! Wir dürfen da nicht rein."

Zarja spürte ihr Herz verhärten. Dima und sie waren zwar so etwas wie Freunde, doch sie hatte die Veränderung seit dem Vorfall mit Grisha bemerkt. Früher hatte er sich gefürchtet, von den anderen ebenso schlecht behandelt zu werden wie sie, wenn er zu viel Zeit mit ihr verbrachte.

 Nun fürchtete er sich vor ihr, vor dem, was in ihr steckte. Ihm blieb jedoch schlicht keine andere Wahl, als mit ihr als Spielgefährtin vorlieb zu nehmen. Denn mittlerweile waren sie zwei alleine.

Grisha war kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, mit dem seine Unfreiheit endgültig besiegelt worden wäre, weggelaufen. Natasha war ihm wie überallhin gefolgt, nur um in der zweiten Nacht, weil die Bangigkeit doch gesiegt hatte, als wäre nichts geschehen heimlich in die Wärme ihres Bettes zurückzukehren. Zu Hause zu hungern und zu frieren war doch besser als in der Fremde.

Marija Alexejevna sprach sie nie darauf an, aber bald nahm jemand Natasha mit sich.
Kolja...war nicht mehr da.

Alle waren weg: einige wenige Krankheiten oder Unfällen erlegen, die meisten weiterverkauft. Bloß Dima und Zarja durften, oder mussten, dank ihres Alters und ihrer mangelnden Fähigkeiten im Lagerhaus bleiben.

Weder besaßen die kleinen, schmächtigen Kinder körperliche Kräfte, noch geistige. Immerhin konnte Zarja weder richtig lesen noch schreiben, nur das Bisschen, das Kolja und Jelisaveta ihr gezeigt hatten, und von Zahlen verstand sie nur so viel als dass sie bis 100 zählen konnte.

In der Not der Einsamkeit hielt man sich eben fest, woran man konnte, trotz altem Verrat, trotz Furcht, trotz einer kleinen Barriere, die nie wieder ganz überwunden werden konnte.

„Was? Bist du etwa ein Feigling?"
„Nein... bin ich nicht! Aber..."

„Worauf wartest du dann?" Zarja schritt voran und hörte, wie Dima folgte. Um sie schloss sich der Wald bald mit all seiner Finsternis, den blutroten Sonnenuntergang verschluckend, nichts als ein unendliches Meer schwarzer Bäume.

Bereits nach den ersten Schritten fühlte Zarja es auch: Dass sich hier ein dunkles Maul, um sie geschlossen hatte, dessen Zähne sie jederzeit durchbohren könnten. Ein Schauer jagte über ihren Rücken und Kälte fraß sich in ihre Knochen, aber sie hielt nicht inne.

Ihre Angst schluckte sie einfach hinunter.

Es wurde finster und Dima begann wieder zu jammern.
„Wir sollten zurück. Wir sollten jetzt wirklich zurück."

Obwohl er damit ihre eigenen Gedanken aussprach, rollte Zarja mit den Augen. „Na meinetwegen."

Und sie machte hoch erhobenen Hauptes auf dem Absatz kehrt und stapfte den Weg zurück, den sie gekommen waren, wie um zu verdeutlichen, dass sie sich mit Sicherheit nicht durch Furcht zu dieser Entscheidung bewegen ließ, sondern bloß, weil sie Dima einen Gefallen tun wollte.

Doch der Weg vor ihnen schien sich endlos zu dehnen; dieselben Bäume schoben sich immerzu in ihre Sicht – sie waren gefangen.

Heute fühlte sich Zarja genauso wie damals: Als würde sie dem gigantischen Schlund eines Monsters gegenüber stehen, der sie gleichsam in Schrecken versetzte und zu sich lockte.

Alleine mit dem Unterschied, dass er heute aus Stein, Marmor und Stuck bestand und nicht aus Bäumen, Dickicht und Finsternis. Die gefährlichen Kreaturen, die das imposante Gebäude beherbergte, waren auch keine Waldgeister und wilden Tiere, sondern menschlich und sie trugen edle Uniformen.

Dennoch erschienen sie Zarja im Augenblick bedrohlicher als jede Rusalka, die sie an einen Flussgrund zerren, oder ein Lesovik, der sie bis zu ihrem erschöpften Tod im Kreis durch den Wald führen würden.

Jene Wesen aus Legenden, waren ihr dank Jelisavetas Erzählungen vertraut, und so wusste sie, wie man sie vermied, besänftigte oder war zumindest nicht überrascht über das Verderben, das man fand. Dasselbe konnte die Krevnitsa nicht von Offizieren, Adeligen und Reichen behaupten, die in höheren Kreisen verkehrten, die Geschicke in Velija mitbestimmten ... und sie lieber tot als lebendig gesehen hätten.

Wie vor sieben Jahren traf Zarja jedoch dieselbe Entscheidung und trat in die tückische Welt ein, die sich vor ihr eröffnete.

Selbst, wenn es diesmal keine Jelisaveta gab, die sie aus ihren Fängen wieder retten konnte, so wie damals als sie Zarja und Dima nicht weit vom Waldrand entfernt aufgegriffen hatte wie sie von einer dunklen Macht gesteuert panisch im Kreis liefen.

In diesem Moment bot der Anblick der zerborstenen Fensterscheiben, die notdürftig geflickt worden waren und bereits repariert wurden, einen Hauch von Erleichterung, denn er erinnerte sie daran, dass auch dieses Reich nicht unfehlbar, unzerstörbar, unerreichbar war.

So fühlte sie sich nicht mehr ganz so klein und hilflos im Angesicht der Militärakademie.

Dass sie nicht der einzige Kadett war, der sich im Foyer eingefunden hatte, tat sein übriges: Vielleicht konnte sie in der Menge verschwinden.

Ihre Müdigkeit – Folge der letzten schlaflosen Nächte, die sie darauf verwandt hatte, sich hierfür vorzubereiten – leerte Zarjas Verstand und schärfte ihre Sinne. Jedes Wort und jeder Schritt klangen unnatürlich klar in ihren Ohren nach.

Sie war über dem Abbild ihres neuen Namens gebrütet, hatte Buchstaben für Buchstaben nachgezeichnet, sie über ihre Zunge rollen lassen, so lange wie ein Bild erkundet, bis ihr die Kanten und Rundungen nicht mehr ganz fremd erschienen.

Sie hatte sich heimlich Nevenas Bücher genommen. Einfaches, Vertrautes. Illustrierte Koch- und Märchenbücher, mit deren Bildern sie versuchte die großen Überschriften zu verstehen, auch an sie sich heranzutasten.

Vielleicht hätte sie Nevena um Hilfe bitten sollen, doch Zarja hatte ihr bereits eine Klinge in die Hand legen müssen, die sie verletzen konnte. Es durfte keine zweite, keine dritte folgen. Jaromir würde der erste und einzige bleiben, dem es gelungen war, ihr jede einzelne zu entreißen und von ihrer Macht Gebrauch zu machen.

„Netter Schuppen, was?", flüsterte ihr jemand zu und stupste Zarja kollegial in die Seite, während vorne der bekannte Portier die Einteilung der Zimmer verkündete.

Bereits die Schärfe ihrer Antwort auf der Zunge, mahnte sie sich zu Vorsicht. Kalin Nikolajev, der Sohn eines Bojaren, würde kühl und ruhig auf so etwas reagieren – und Zarja Mrazova, die Tote, die noch irgendwo begraben unter seiner Hülle steckte, wollte nicht auffallen. Sie sollte in ihrem Grab schweigen, wie es sich gebührte.

Mit einer nüchternen Miene wandte sich also zu dem Fremden um, der sich erlaubte Kalin wie einen engen Freund zu behandeln, doch sie entglitt ihr in der Sekunde, in dem ihre Blicke aufeinander trafen.

Derjenige, der sich breit grinsend zu ihr gebeugt hatte, war niemand anderes als Orel aus dem Boxkeller des Güldenen Bärs.

Zarjas Herzschlag setzte einen derart qualvoll langen Moment aus, dass sie fürchtet, er würde gar nicht wieder einsetzen. Vielleicht hoffte sie aber auch insgeheim, dass genau das passierte.

Denn sterben wäre ihr im Augenblick wesentlich gnädiger erschienen, als alles, was sie erreicht hatte, in Desjas Händen wieder zu Staub zerfallen zu sehen – begleitet von seinem unverschämten Grinsen.

Die Rozhanitsy mussten Zarja wirklich hassen, wenn sie sie so weit hatten kommen lassen, nur um jetzt, einen Schritt vom Ziel entfernt, diesen Jungen vor ihre Füße zu setzen, der sie kannte und ihre Lüge mit einem Wort enttarnen konnte.

Desja runzelte die Stirn und legte den Kopf ein wenig schief. „Alles in Ordnung? Du siehst aus als hättest du grade eine leibhaftige Shtriga vor dir."
Nicht ich, aber du.

„So beeindruckend ist es hier dann auch wieder nicht u–", er unterbrach sich selbst. „Sag mal, kennen wir uns irgendwoher?"

Mit aller Mühe zwang sich Zarja, ihre Fassung wiederzuerlangen und musterte Desja mit gerunzelter Stirn.

Für den Anlass hatte er sich ein bisschen mehr in Schale geworfen als in der Nacht, in der sie sich begegnet waren. Sein Hemd und seine Jacke waren sauber und nicht geflickt, schienen aber bereits fadenscheinig zu werden, seine Schuhe poliert und sein zerzaustes Haar in eine ordentliche Form gebändigt.

Im Grunde sah er nur wenig schlechter aus als sie selbst: Ein junger Kerl aus niederer Klasse, wie die vielen Bewohner kleiner Wohnungen im Industrieviertel, der sich für den Tanzsaal oder einen Besuch in einem der Tempel etwas herausgeputzt hatte.

Ganz manierlich anzusehen, doch alles verströmte den Geruch mühsam zusammengekratzter Mali für jede Freude, ein jahrelang mit den Geschwistern geteiltes Bett und Kleidung und schlichter Mahlzeiten, die die immerzu erschöpfte Mutter für die ganze Familie zubereitete.

Kurz: Niemand, mit dem ein junger Adeliger, unbedeutend wie verarmt das Geschlecht vielleicht war, verkehren würde.

Also zuckte Zarja die Schultern. „Ich wüsste nicht, woher."

„Hm, ... ich bin mir sicher, wir haben uns schon getroffen. Meine Freunde nennen mich Desja. Desja Orlik."

Er streckte Zarja die Hand entgegen, die sie mit erdrückender Kraft ergriff. Falls es ihm unangenehm war, ließ er es sich nicht anmerken.
„Kalin Nikolajev."

„Warst du vielleicht mal im Saphir oder im Bogatyr? Oder vielleicht im Güldenen Bär?"

Zarja zerquetschte seine Hand beinahe unter ihrer, bevor sie losließ und abermals mit den Schultern zuckte. „Ich hab' dort die letzten Tage gewohnt. Vielleicht sind wir uns mal begegnet."

„Zimmer 203, Kalin Gordejevich Nikolajev und Desjatko Zimich Orlik", unterbrach der Portier das Gespräch.
Na großartig.

Neben ihr flüsterte einer der jungen Kadetten, eindeutig aus besserem Elternhaus, seinem Gefährten zu: „Hast du das gehört? Desjatko. Wusste gar nicht, dass es seit Ivan dem Großen noch Leute gibt, die wirklich so heißen."

„Seiner Kleidung nach würde mich das nicht überraschen. Der Mantel wurde sicherlich schon auf Kresniks Hochzeit getragen."

„Muss so ein Bauerntölpel aus der hintersten Provinz sein. Dort nummeriert man seine fünfzig Gören noch durch", fügte ein dritter hinzu.

„Wie der wohl die Aufnahmeprüfung bestanden hat?"

Alleine das Wort jagte Zarja schon einen kühlen Schauer über den Rücken und erinnerte sie daran, dass sie nicht hier hätte sein sollen. Denn es gab nur zwei Wege in die Shchetkin Akademie: Durch gute Zeugnisse oder das Bestehen der Prüfung.

Ihr Weg war ein dritter, finsterer und ganz und gar nicht sicherer gewesen: Der des Betrugs.

Wieder stupste Desja sie in die Seite als wären sie alte Freunde, wobei sein Lächeln gewaltig an Strahlkraft eingebüßt hatte: „Sieht so aus, als würden wir zusammen wohnen, Kalincho."

Schon in dem Moment, in dem sie das Zimmer betraten, wechselte Desja das Thema: „Hattest du das Boxen satt oder warum bist du hier gelandet?"

Der Schein, dass alles noch gut werden könnte, zerbrach mit einem widerlichen Klirren wie das Teeglas, das ihr einmal in Jelisavetas Küche aus den Fingern gerutscht war.

Damals hatte Zarja wild versucht, die Scherben aufzusammeln und im Garten zu verstecken, bevor sie wiederkäme und es bemerken würde. Letztlich fand die Köchin sie mit verweintem Gesicht und blutigen Händen, in die sich die kleinen Splitter gegraben hatten.

In ihr regten sich nun dieselben Instinkte: Flucht oder Kampf. Doch ersteres war wie vor Jahren schon kein Ausweg, stattdessen also rasten hunderte Möglichkeiten durch ihren Kopf, wie sie zweites tun könnte.

Was, wenn sie Desjas Herz einfach stehenbleiben ließe? Man würde es vielleicht für die Folge einer Krankheit halten und mit etwas Glück nicht näher nachfragen. Schließlich war er kein Sohn eines Adeligen, wer also würde sich bemühen Nachforschungen anzustellen?

Doch so schnell wie die Idee in ihrem Geist Wurzeln schlagen wollte, riss Zarja sie bereits wieder aus dem allzu fruchtbaren Boden.

Wären ihr die Rozhanitsy nicht gnädig – und wann waren sie das schon? – würde sie sich womöglich nicht bloß als Frau enttarnen, sondern gleich als Ved'ma.

„Boxen?", wiederholte sie stattdessen mit hochgezogener Augenbraue. „Ich glaube, du verwechselst mich."

Desja verzog die Lippen und stieß mit einem undefinierbaren Laut der Frustration den Atem aus.
„Können wir diese albernen Spielchen nicht lassen? Ich hab' kein besonders gutes Gedächtnis, aber wenn ich mich an etwas erinnere, dann Gesichter."

Nonchalant warf er seine Tasche auf eine der Pritschen und ließ sich schließlich selbst darauf fallen, wobei sie ein protestierendes Quietschen von sich gab.

„Nur hab ich zu deinem den Namen Machka in Erinnerung ... und dass du ein Mädchen bist. Also wie wurde aus dem kleinen boxenden Kätzchen in wenigen Tagen der Sohn eines Bojars?"

„Genauso gut könnte ich dich fragen, wie aus einem kleinen Küken ein respektabler Kadett wurde. Kein Erfolg in den Kellern?", erwiderte sie kühl.

„Ich habe aber zuerst gefragt."

Zarja ließ ihr Schweigen antworten, bis Desja sich die Hände hinter dem Kopf verschränkt zurücklehnte und seufzte.
„Ich verpfeif dich schon nicht, keine Angst."

Bevor sie sich selbst daran hätte hindern können, war Zarja über ihm, ihre Hand an seiner Kehle, in der sein Leben pulsierte.

„Das würde ich dir auch nicht empfehlen", zischte sie Desja ins Ohr. „Lass mich raten, hier weiß auch keiner, in welchen Kreisen du dich so rumgetrieben hast, richtig? Sonst hätten sie dich sicherlich nicht in ihre feine Akademie gelassen."

Der Satz, den sein Herz machte, verriet, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Zwar mochte die Shchetkin, die sich ein wenig schmuckloser an die Kaiserliche Akademie anlehnte, eine Aufstiegschance für gewöhnliche Bürger sein, doch ihre Toleranz hatte Grenzen. Wer in zwielichtigen Milieus verkehrte, sah ihre Tore vor sich zufallen, bevor er „Kresnik schütze den Zaren" hätte sagen können.

„Ich bin immer noch Bojar und du ein Niemand. Ein einfacher Bengel, der sich in Kneipen für ein paar lausige Mali die Zähne einschlagen lässt. Wem werden sie also glauben, wenn dein Wort gegen meines steht?"

Zarjas Lippen berührten beinahe Desjas Haut, unter der das Blut rauschte; der Herzschlag unter ihren Fingern flatterte wie ein ängstlicher Vogel. Der scharfe Duft seines Rasierwassers kitzelte ihre Nase. Für einen Moment verstärkte sie den Druck ihrer Hand.

„Wenn du auch nur daran denkst, mich zu verraten, wird der Verweis von der Akademie dein kleinstes Problem sein. Verstanden?"

Benommen und verdattert nickte Desja so gut es ihm gelang, und Zarja gab ihn frei. Seine Kehle betastend und sich räuspernd richtete er sich auf.
„Dein Geheimnis ist mein Geheimnis. Für mich bist du Kalin und niemand sonst."

Für den Bruchteil einer Sekunde meinte die Krevnitsa Angst in seinen braunen Augen wahrzunehmen, doch er vertrieb den Schatten sofort mit einem breiten Grinsen, selbst wenn sein aufgeregter Puls es Lügen strafte.

„Na, das ist doch die beste Voraussetzung für eine großartige Freundschaft, nicht? Aber das nächste Mal, wenn du mich um was bittest, musst du mich nicht erwürgen. Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass du gleich in mein Bett springen willst, aber mit Gewalt hab ich's außerhalb vom Boxring nicht so."

„Und ich hab es weder innerhalb noch außerhalb mit Idioten."
Zarja wandte sich ihrerseits der anderen Hälfte des Zimmers zu und begann ihren wenigen Besitz aus ihrer Tasche zu holen.

Die Bücher landeten auf einem der kleinen Schreibtische, alles andere im Schrank. Viel mehr befand sich in dem kargen Raum auch nicht. Doch sie konnte sich nicht darüber beschweren. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte Zarja wesentlich schlechter gewohnt.

„Eines nimmst du aber zurück", setzte Desja nach, der keine Anstalten machte, sich aus seiner bequemen Position zu erheben. „Ich hab mir nie für Geld die Zähne einschlagen lassen. Die sind nämlich wunderschön."

Sie machte sich gar keine Mühe, ihr Augenrollen zu unterdrücken; das Schmunzeln hingegen, das an ihren Mundwinkeln zupfen wollte, schon. Egal wie harmlos und tölpelhaft das Küken auch wirken mochte, sie musste auf der Hut bleiben.

Unterschätze nie, was ein Mann aus Verzweiflung oder Gier machen würde, hatte Jaromir immer gesagt, als wäre es Zarja jemals möglich gewesen, das zu vergessen. Der Gierigste von allen war schließlich er selbst gewesen.

Statt auf seine Worte einzugehen, breitete sie ihre neue Kleidung auf dem Bett aus, linste über die Schultern zu ihm und fragte wie beiläufig: „Wie hast du es eigentlich angestellt?"

Desja schob sich eine schlecht gedrehte Papirossa zwischen die Lippen, zündete sie jedoch nicht an, sondern kaute bloß darauf herum.
„Was?"

„Dass sie dich hier aufnehmen."

Die Zigarette hüpfte mit dem Zucken seines Mundwinkels. „Wenn du mir verrätst, wie du es hier reingeschafft hast ..."

Ihr entkam ein Schnauben. „Sicherlich nicht."
„Na na na, du musst dich schon an die Regeln halten. Geheimnis gegen Geheimnis. So funktioniert das Geschäft. Also?"

Obwohl die Krevnitsa ihre Entscheidung längst getroffen hatte, ließ sie ihre Kiefer wie in innerem Kampf mahlen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Meinetwegen. Kalin ist mein Bruder. Er wollte nie in die Armee, aber musste; ich wollte, aber durfte nicht. Also haben wir die Chance genutzt, dass unsere Eltern weit weg wohnen und vorerst nicht erfahren, dass nicht ihr Sohn, sondern ihre Tochter hier Kadett ist."

Desjatko stieß ein schallendes Lachen aus, bei dem ihm beinahe die Papirossa aus dem Mund gefallen wäre.
„Ein Bojarentöchterchen, dass sich im Keller des Güldenen Bär prügelt? Das klingt wie ein schlechter Witz."

„Psst!" Zarja rief sich ihr erstes Gespräch ins Gedächtnis und hoffte, dass der aufwallende Zorn ihre Wangen genug röten würde, dass Desja es für Scham halten könnte. „Willst du, dass die ganze Akademie davon weiß? Das mit dem Boxen war bloß ..."

„Ein kleiner Nervenkitzel? Ein bisschen verruchte Unterweltluft schnuppern?", beendete er ihren Satz und seine Augen blitzten.

„Ja. Und jetzt dein Geheimnis." Geheimnis gegen Lüge.

Mit einem Schlag fiel die Belustigung von ihrem Zimmergenossen ab und er ließ sich wieder zurück auf die ächzende Pritsche sinken; sein Herz schien schwerer.

„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen", murmelte er, an seiner Zigarette kauend, „Meine Eltern hatten keine Aufgabe für mich am Hof, also wollten sie, dass ich Soldat werde. Ich hatte aber nicht sonderlich Lust als Rekrut am untersten Ende der Nahrungskette zu enden, also hab ich für die Aufnahmeprüfung an der Akademie gebüffelt – und gehofft, dass die nicht Wind davon kriegen, wie ich mich hier über Wasser halte."

„Das ist alles? Du hast gelernt?" Zarja zog kritisch eine Augenbraue hoch, innerlich erleichtert, dass sie für diese Offenbarung nicht eines ihrer tatsächlichen Geheimnisse eingetauscht hatte.

Allerdings verriet ihr das intensive, nervöse Kauen an dem eingerollten Tabak, dass es da wohl doch mehr gab.

„Nun ja ... ich hab nicht bestanden."

„Also hast du betrogen?"

Blitzschnell richtete sich Desja kerzengerade auf.
„Nur beim theoretischen Teil", beeilte er sich zu sagen, als wäre ihm plötzlich sehr um die Betonung seiner Ehrlichkeit bestrebt. „Den praktischen habe ich bestanden. Als einer der Besten. Deshalb habe ich vielleicht meinen Prüfungsbogen ... mit dem eines anderen Bewerbers getauscht."

Die Röte, die seine Ohrenspitzen verfärbte war echt.
„Aber wie, bei Kresnik, soll denn ein normaler Mensch mit all den Söhnchen aus besserem Haus mithalten, die dieses ganze Zeug schon in der Krippe vorgebetet kriegen, hm?", setzte er zur Verteidigung nach.

Betrüger und Betrüger, wie passend.

Jetzt fehlte bloß noch ein letzter Schritt und sie wäre ganz Kadett dieser Akademie: Die Uniform. Zarja streifte ihren Mantel ab und begann ihr Hemd aufzuknöpfen – und hielt kurzerhand mitten in der Bewegung inne, während sie über ihre Schulter schielte.

Desja lag immer noch in derselben legeren Position auf seiner Pritsche und sah sie an.
„Siehst du nicht, dass ich mich umziehen will?"
„Und?" Er legte den Kopf fragend schief wie ein Welpe.
„Dreh dich um!"

„Wieso denn? Schüchtern, Kalincho?", fragte Desja neckisch, den Kosenamen genüsslich betonend.

Das schelmische, geradezu aufdringliche Glitzern in seinen Augen, ließ Zarja nun doch wünschen, ihm im Ring begegnen zu dürfen.
„Wenn du nicht als zartes Bojarentöchterchen auffliegen willst, musst du dich auch so verhalten, als wärst du ein Mann."

„Und mich vor dir ausziehen? Darauf kannst du lange warten." Statt seine Antwort oder Kooperation abzuwarten, schleuderte sie ihm ihr Hemd einfach ins Gesicht, bevor sie die Stoffbinden um ihren Oberkörper überprüfte, die jeden Ansatz verräterischer Rundungen verstecken sollten.

Hinter sich hörte sie Desjas Bewegungen, als er sich umdrehte. „Ist ja schon. Ich guck nicht, ja?"
Besser wäre es für dich.

So schnell wie möglich streifte Zarja ihre Hose ab und schlüpfte in die neue, dunkelgrüne Uniform, die schöner war als jede Kleidung, die sie jemals besessen hatte. Eingenähte schwarze Knoten verzierten Brust und Ärmel und die silbernen Knöpfe glänzten frisch poliert.

Dass sie nicht dafür gemacht worden war, sich an die Haut einer Frau, einer ehemaligen Leibeigenen, einer Ved'ma zu schmiegen, ließ Zarja in dem berauschenden Gefühl ertrinken, die ihr die Uniform verlieh.

Sie war ein sicheres Zeichen dafür, dass Zarja das Unmögliche bereits einmal gelungen war. Ein paar mehr solcher Undenkbarkeiten und vor ihr lag vielleicht eine richtige Zukunft, in der sie wahrhaftig unabhängig war. Ohne jegliche Form von Ketten.

Doch diese Hoffnung zerbrach noch am selben Tag, zerschlagen von einem Schatten, der wie die des Stenwalds seine Klauen aus einer Vergangenheit nach ihr streckte, von der sie längst nicht frei war.

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A N M E R K U N G E N

Wer oder was mag wohl dieser Schatten sein?

Und Desja ist zurück!
Noch nicht ganz so frech wie ich ihn rüberbringen wollte, aber ich hoffe, mir ist es zumindest halbwegs gelungen. Was denkt ihr?

Und noch wichtiger: ist dieses Chaos der Beginn einer wunderbaren Freundschaft oder erwürgt Zarja unser Küken vorher doch noch? :'D

Übrigens ist es hier dank meiner Teilnahme am ONC etwas still geworden. Wenn ihr Fans von Fantasy seid (was ich hier mal stark annehme), guckt doch gerne mal bei meinem Beitrag "How the shadows feast" auf meinem englischen Account @_marmoris_ vorbei. Würde mich sehr freuen!

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