𝟖.𝟏 | 𝐄𝐢𝐧 𝐏𝐚𝐤𝐭 𝐚𝐮𝐬 𝐁𝐥𝐮𝐭 𝐮𝐧𝐝 𝐊𝐮𝐩𝐟𝐞𝐫

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» Sind wir nicht alle Ausgestoßen vom Menschengeschlecht? So lasst unsere Schicksale verbunden sein, von heute bis ans Ende der Zeit! «

- aus »Die Verdammten« Marquis de la Rouche
1190 n. Ael


Dimas Wimmern ging nun, da der Schock sich löste, in heilloses Schluchzen über. Zarja leitete den Hengst vorsichtig durch ein paar Gassen, die der Tumult nicht erreicht hatte, und ließ ihn irgendwann anhalten. Schwankend glitt sie von dem kräftigen Rücken und landete auf wackligen Beinen. Den leisen Schrei, der ihre Kehle hochkroch, schluckte sie mit zusammengebissenen Zähnen hinunter.

Mit dem Abklang des Adrenalins spürte sie neben dem Stechen auch zunehmend ihre Erschöpfung. Kalter Schweiß triefte ihren schmerzenden Rücken hinab, jeder ihrer Muskeln war in einer unauflösbaren Anspannung gefangen, und in ihrem Kopf drehte sich alles.
Zumindest bedurfte es hier etwas weniger Kraft, das Pferd still zu halten. Aber sie musste zurück.
Diesmal umfasste sie Dima vorsichtiger und hob ihn, begleitet von einem angestrengten Schnaufen, vom Pferd.

„Du bist viel schwerer als du aussiehst", murrte sie.
Dima sah mit geröteten Augen zu ihr hoch und antwortete nicht. Als er, während sie sich notdürftig ihre Wunde mit ihrem Halstuch verband, immer noch keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun, fügte Zarja hinzu: „Lauf nach Hause, Kleiner, und mach einen großen Bogen um die Dubravskaja."

„Wo sind meine Eltern?", schniefte er.
„Weiß ich nicht." Es war die Wahrheit, aber offenbar nicht die richtige Antwort, denn ihnen folgten frische Tränen.

„Was, wenn die Ved'ma sie...", der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter.
Ein wenig hilflos legte Zarja ihm eine Hand auf die Schulter. „Na, na... ich bin mir sicher, es geht ihnen gut."

Hatte sie ihm nicht vor wenigen Tagen noch beigebracht, seinen Eltern nicht alles zu glauben? Nun war sie es, die ihn schamlos anlog. Aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Was war das Richtige in so einem Fall?

Marija Alexeijevna hatte weinende Kinder in den finsteren Keller gesperrt; eine Methode, die bei fast allem zum Einsatz kam. Vor Jaromir hatte sie sich nie diese Blöße gegeben, aber vermutlich hätte er die Stirn gerunzelt und ihr kühl ein Glas Schnaps zugeschoben, um ihre Nerven zu beruhigen. Was ihre Eltern getan hatten, wusste sie nicht mehr so genau.

Nichts davon half ihr hier weiter. Aber schließlich war das auch nicht ihre Aufgabe. Sie war nicht hier, um ihn zu trösten.

Wofür bist du denn da?, fragte sie sich. Warum hatte sie ihn überhaupt gerettet? Aus einer bloßen Laune heraus oder weil sie versuchte etwas gutzumachen, das nicht mehr gutzumachen war, es nie sein würde?

Sie beantwortete sich diese Frage nicht, denn sie wollte oder konnte vor sich selbst keine Rechenschaft ablegen.

„Sicher?"
„Ja. Und den größten Gefallen tust du ihnen, indem du jetzt nach Hause läufst und dort auf sie wartest."

Dima schniefte. „Bist du Soldat?", stellte er ihr dieselbe Frage, wie bei ihrer ersten Begegnung. Er hatte sie also wirklich nicht erkannt? Für ihre neue Identität bedeutete das einen kleinen Sieg, aber nur einen winzigen. Immerhin hatte Dima sie nur einmal gesehen und die meiste Zeit davon im Dunklen.

„Noch nicht." Und wenn es nach diesem Portier mit seinen Formularen geht, werde ich das auch nie. Andererseits wusste sie nicht einmal, wie viel von der Akademie noch stehen würde, wenn der tobende Kampf davor beendet war.

„Aber nur Soldaten können so ein schönes Pferd wie das von König Marko haben", protestierte Dima mit einem Blick auf den Schecken.

„Du meinst, so wie dein hölzerner Offizier?", fragte Zarja mit hochgezogener Augenbraue und hoffte, dass sie das nicht irgendwann bereuen würde. 

An wen sollte er sie auch schon verraten? Jaromir? Wohl kaum. Seine Eltern? Vielleicht. Aber würden sie ihm glauben? Im Übrigen wusste er nichts über ihre neue Identität und das gedachte Zarja auch nicht zu ändern.

Mit neuem Interesse im vom Weinen fleckigen Gesicht musterte er sie eingehend, während sie sich aufs Pferd schwang, bis sich seine Augen weiteten. „Bist du etwa –"

Zarja legte lächelnd die Finger auf die Lippen. „Das bleibt unser kleines Geheimnis, ja?"
Dann beugte sie sich zu den Ohren des Pferdes hinab. „Na, dann, mein ‚Sharkolija', los geht's."


Zarja hatte in ihrem Leben bereits einiges Merkwürdiges gesehen. Ein aus dem Nichts zerfallendes Gebäude, in sich zusammenstürzend wie ein ungeschickt gebautes Kartenhaus, zählte nicht dazu.

Erst wusste sie dem Krachen, Knacken und Donnern, das dem Beben des Bodens folgte, auch nichts zuzuordnen. Genauso gut hätte die Welt unter ihr und den Hufen des Hengsts in Stücke zerbrechen können – der Gedanke erschien ihr nicht weniger naheliegend als die Realität. Als ein gewaltiger Riss durch die frischgetünchte, mit an Holzschnitzereien erinnernden Ornamenten verzierte Wand hinauf zum Dach kletterte, folgten Zarjas Blicke verständnislos seiner Bewegung, bevor das gesamte Haus zerbrach.

Erst im nächsten Moment realisierte irgendetwas in ihr, dass das hier Magie war. Die Erdbeschwörerin?

Was folgte, war ein Bild der Zerstörung wie sie es nicht kannte. Ein Chaos aus Staub, Stein, Glas und Ziegeln, in dem irgendwo immer wieder das aufblitzte, was einige Atemzüge zuvor noch ein Zuhause gewesen war. Ein Diwan, ein splitternder Kronleuchter, Schränke, Bücher, eine Motanka-Puppe. Zurück blieb nicht einmal eine Ruine.

Für die Bewohner konnte man bloß hoffen, dass sie sich nicht darin aufgehalten hatten, denn das würden sie unmöglich überlebt haben.

Zarjas Aufmerksamkeit ruhte beim Zusammensturz aber auf etwas gänzlich anderem– in der schmalen Gasse, die sich zwischen dem Gebäude und dem nächsten hindurchzog, erkannte sie eine Person. Ein junger Mann. Obwohl sie ihn erst ein einziges Mal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort wieder. So sehr hatte sich sein Gesicht in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Schließlich hatte er ihr vermutlich das Leben gerettet.

In der nächsten Sekunde war er verschwunden. An seiner Stelle bloß Schutt.
Ihr Herz machte einen Satz.

Wie erstarrt saß sie auf ihrem Pferd und blickte erschrocken auf das, was einmal ein edles Stadthaus gewesen war, ohne noch ganz zu verstehen, was geschehen war.

‚Sharkolija' unter ihr schnaubte und rüttelte Zarja damit aus ihrer Trance. Sofort trieb sie ihn näher zu dem Haus, sprang dann von seinem Rücken und kletterte über die letzten Bruchstücke dieser Altingrader Baukunst und Geschichte und Existenz einer Familie, die unter ihren Stiefeln immer wieder gefährlich nachgaben. 

Rutschend, stolpernd und kriechend bahnte sie sich ihren Weg hindurch, auf der Suche nach einem schwachen Herzschlag. Nur mühsam hielt sie dabei das Tier, das auf sie wartete, noch unter Kontrolle. Zumal sie den Hengst nur beruhigen konnte und nicht dazu zwingen, hier zu bleiben. Dafür hätte sie Macht über seinen gesamten Körper ergreifen müssen und das war schlicht unmöglich.

Von dem eingestürzten Haus ging nichts als gespenstische Stille aus. DasGeräusch des Todes.
Dann sah sie ihn. 

Der Körper halb begraben unter Schutt lag er regungslos am Rande dieser Zerstörung. Sein Kopf ragte zwischen Ziegelsteinen heraus, scheinbar beinahe unverletzt, mit Ausnahme eines kleinen Schnitts an seiner blassen Stirn, der unter seinen staubbedeckten Locken zu erkennen war und von dem aus sich ein dünner Faden Blut seine Schläfe hinab zog. In seinen Händen hielt er verkrampft ein in Mitleidenschaft gezogenes Buch.

Doch Zarja konnte immer noch keinen Herzschlag hören.

Ihr eigenes pochte dafür umso schneller als sie zu ihm lief, ausglitt und vor ihm auf die Knie fiel, was einen neuen Schmerz durch ihr verletztes Bein jagte. Vorsichtig legte sie ihre Hand, von der sie nicht wusste, warum sie zitterte, auf seine Brust.

Ein zarter, hartnäckiger Puls berührte ihre Sinne und Zarja hörte sich erleichtert ausatmen. Dabei wusste sie doch nichts von diesem Fremden. Nicht seinen Namen, sein Alter, seine Geschichte. Bloß, dass er aus Asen'ja zu stammen schien und unverschämt reich war.
Und sie vor dem sicheren Ende bewahrt hatte.

Jetzt hatte er mit dem Mann, dem sie in der Fabrik begegnet war, nicht mehr viel gemein. Ohne die Blasiertheit und kühle Arroganz, in die er seine Gesichtszüge gekleidet hatte, wirkten sie noch feiner; die Linie des schmalen Kinns, der ein wenig aquilinen Nase, der rosigen Lippen und der Schwung seiner Augenbrauen und Wimpern wie von einem zärtlich geführten Pinsel gezeichnet. 

Sie besaßen etwas fast noch Kindliches und Mädchenhaftes.

Vielleicht war er sogar vielmehr noch ein Junge.

Hätte ihr jemand gesagt, er hätte sein Vesina-Fest, den feierlichen Übergang ins Erwachsenenalter, noch nicht hinter sich, wäre es ihr jetzt nicht schwer gefallen, das zu glauben.

Selbst die harten Kontraste, die ihm im Industrieviertel etwas fast Düsteres verliehen hatten, wurden vom Licht des vereinzelt sonnendurchbrochenen Wolkenhimmels erweicht. Sein Haar erinnerte an Schwarztee; in Jaromirs Büro tiefdunkel wie er ihr damals in Jelisavetas finsterer Küche erschienen war, vor der Kutsche ans trübe Tageslicht gezerrt wie ein dunkles Braun, und nun, wie bei Nevena in ihren feinen Gläsern rötlich leuchtend. Über seine Blässe konnte es nicht gänzlich hinwegtäuschen, doch es ließ sie weniger hervorstechen.

Etwas an dem Asenkij, dieses Zarte, Melancholische, erinnerte sie an frühere Zeiten. An die dünnen, bleichen und traurigen Gesichter im Lagerhaus. An den kleinen verschreckten Dima; an beide davon. An Kolja, der für dieses feindliche Umfeld nicht geschaffen war und vielleicht nur deshalb seiner angeborenen Krankheit erliegen musste. Kolja...

Mit der längst von ihrem eigenen Blut besudelten Hand wischte sie ihm behutsam seines vom Gesicht.

Unsinn. Dieser Mensch, der in Überfluss schwimmen musste, hatte nichts mit ihnen gemein.
Trotz aller äußerlicher Ähnlichkeiten, war die zerrissene und schmutzige Kleidung, die er trug immer noch die eines Adeligen, und er hatte bei Jaromir mit Geld um sich geworfen wie ein König.

Womöglich wäre jetzt die Gelegenheit gewesen, sich zu bedanken, doch Zarja konnte nichts weiter für den Asenkij tun als ihn von den Steinen zu befreien, die ihn hatten begraben wollen. Schließlich war sie keine Heilerin. Ihre Macht brachte alleine Tod. Und somit blieb ihre Schuld unbeglichen.

Warum hast du das getan?

Natürlich wusste Zarja es; er hatte ihr diese Frage beantwortet und doch steckte dahinter noch so viel mehr. Rache an seinem Vater. Wofür? Warum war er ausgerechnet in Jaromirs Fabrik gekommen? Und wieso hatte er von allen dort sie freigekauft?

Im Grunde spielte es keine Rolle. Ebenso wenig wie die Motivation ihres Vaters, sie ins Lagerhaus zu bringen. Zarja hatte längst aufgehört, sich nach dem ‚Warum' zu fragen, denn darauf kannten letztlich doch nur die Rozhanitsy eine Antwort, die das Schicksal der Menschen beharrlich woben. Warum sich damit auch aufhalten? Was zählte, war doch immer das Ergebnis.

Sklaverei damals. Freiheit heute.

Was bedeuteten schon die Gründe?

Doch so sehr Zarja sich das auch über die Jahre hinweg immer wieder vorgesagt hatte, konnte sie nicht leugnen, dass es sie störte. Wieder einmal war ihr Leben fundamental von anderen verändert worden, ohne, dass ihr die Chance vergönnt war zumindest zu verstehen, wieso.

Schlag weiter, befahl sie, konzentriert auf seinen Herzschlag, als fürchte sie, dass ihr sein Leben zwischen den Fingern hindurchfließen könnte.

Vorsichtig löste sie das Buch aus seinen langgliedrigen Händen, die so befremdlich weich und zart waren, kannte sie doch beinahe nur alte wie Jelisavetas, raue und schwielige wie die der Arbeiter und Bauern und von Narben übersäte wie die der Weberinnen und wie ihre eigenen sicherlich von so mancher Stunde in Jaromirs Fabrik. Diese hier jedoch hätten ihr gesamtes Leben keine andere Anstrengung kennen mögen als bloß die Seiten solcher Bücher umzuschlagen.

Nachdenklich betrachtete sie den Einband, in den sich ein Projektil gebohrt hatte. Natürlich verstand Zarja nichts davon. Nur so viel konnte sie sagen, dass die Buchstaben darauf keine velischen waren.

„Bedeutet dir das etwas?", fragte sie leise, ohne eine andere Antwort zu erhoffen, als die sich stetig hebende und senkende Brust des Asenkijs. Fast so friedlich, als würde er nur schlafen.

Ihre Finger strichen über den Einband, dann schob sie das Buch in ihre Jacke. Stattdessen, damit es ihren Platz einnehmen konnte, fischte sie die Taschenuhr ihres Vaters heraus.

Für einen Moment betrachtete Zarja ihr silbriges Glänzen im Licht, etwas, das sie in den Jahren, in denen sie sie immer irgendwo versteckt gehalten hatte, damit niemand sie stahl, fast nie getan hatte.

Unter den Fingern fühlte sie die feinen Hebungen und Senkungen des Symbolsdarauf und der ihr unverständlichen Gravur.

Zarja Mrazova ist tot.
Wozu sollte sie die Taschenuhr also noch brauchen?

Sorgfältig legte sie sie in die Hände des Jungen, durch die dieser letzte Teil ihrer Vergangenheit gestorben war, und schloss seine Finger darum. Sie hatte das Erinnerungsstück an einen früher geliebten Menschen, der sie verraten hatte, gegen eines an einen Fremden, der sie gerettet hatte, getauscht. Ein Zeichen alter Ketten gegen das neuer Freiheit.

Mehr noch als das, zwang auch sie auch eine Veränderung – und wenn es nur eine winzige war – in sein Leben, über die er keine Kontrolle besaß und die er vielleicht nie begreifen würde. Es war das erste Mal, dass Zarja die Macht besaß zu geben und zu nehmen.

Ein fairer Handel und ein spürbares Zeichen dafür, dass sich ihre Wege gekreuzt, ihre Schicksale miteinander verwoben hatten.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Zarja diese merkwürdig sentimentalen Gedanken, die sie im nächsten Moment schon albern fand.

Schlag weiter. Schlag weiter. Schlag ...
Stimmen und Schritte näherten sich. Zwischen den Häusern meinte sie Uniformen aufblitzen zu sehen.

Bogovi s teboj", hauchte sie die Worte, mit denen er sich vonihr das letzte Mal verabschiedet hatte. Er würde die Götter an seiner Seite auch brauchen.

So schnell und so vorsichtig wie möglich, wich sie von ihm zurück und schlich zurück zu ‚Sharkolija'. Die Götter mussten auch ihr gewogen sein, denn er war noch hier.

„Dieses Pferd, ist das nicht –", meinte sie irgendwo unter den nun lauter werdenden Befehlen und Rufen nach Heilern zu hören, doch da war sie bereits wieder auf dem starken Rücken und preschte mit dem Hengst davon.



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