27 - den Kurs bestimmen

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Wir alle sind erleichtert, dass endlich wieder Ruhe und Frieden einkehren im Pförtnerhaus. Als nächstes wollen wir jetzt Jeongguk in der Zweiradwerkstatt unterbringen und dabei ganz viel seinen Bruder einbeziehen. Am Mittwoch Nachmittag sammle ich Junghyuk an seiner Uni ein und nehme ihn mit zur Villa. Wir setzen uns zu viert mit Yoongi in den Schatten und beratschlagen uns. Es ist berührend zu sehen, wie Guk zu seinem Bruder aufsieht. Wieviel es ihm bedeutet, Familie zu haben. Und wie sich jeden Tag mehr der wahre Jeongguk hinter der Mauer aus Angst hervortraut. Das ist nicht immer unanstrengend, denn da steckt jede Menge Energie dahinter - und ein ziemlicher Frechdachs. Auf einmal hinterfragt er alles, mischt sich überall ein, testet aus, wieviel Narrenfreiheit er als Jüngster wohl hat, stellt sich selbst Mutproben, bei denen die anderen ganz schön wachsam sein und ihn bremsen müssen. Nach wie vor hört er so richtig nur auf Yoongi und jetzt auch auf Junghyuk.

Um seine Energie in vernünftige Bahnen zu lenken, übt Yoongi die ganze Woche mit ihm, das Gelände zu verlassen, zum Bus zu gehen, Bus zu fahren bis zur Werkstatt. Einen Laden zu betreten, in einer Warteschlange auszuharren oder anderweitig auf dem Präsentierteller zu stehen. Am Freitag treffen wir uns dann mit seinem Bruder vor dem Werkstattladen. Allerdings ohne Yoongi, der leider für diesen wichtigen Termin nicht frei bekommen hat.
Wir sind telefonisch angekündigt. Jeongguk steht am Schaufenster, drückt sich vor Neugierde die Nase platt und holt innerlich Anlauf für diesen großen Schritt in die Öffentlichkeit, in die Legalität und ins Erwachsenenleben. Wir lassen ihm seine Zeit und warten ab, bis er schließlich die Schultern strafft und sich der Ladentür zuwendet.

Im Verkaufsraum kommt uns ein Mann um die fünfzig entgegen. Ich sehe, wie er mit den Augen schnell unsere kleine Gruppe abcheckt. Erst begrüßt er mich sehr höflich und stellt sich als der ausbildende Zweiradmechaniker-Meister vor, dann begrüßt er Guks Bruder, zuletzt wendet er sich unserem Küken zu.
"Guten Tag. Du bist also Jeon Jeongguk und möchtest hier anfangen zu arbeiten. Herzlich willkommen! Möchtest du zuerst den Laden sehen, oder lieber erst die Werkstatt? Oder sollen wir uns erstmal unterhalten?"
Die Nerven liegen blank, so aufgeregt ist der Junge.
"Ich ... danke, dass ich hier sein darf. Ich bin neugierig auf die Werkstatt. Hoffentlich lerne ich das alles ganz schnell, damit ich eine Hilfe sein kann."
"Na, dann komm. Mit der Einstellung wirst du sicher sehr schnell eine Hilfe sein. Neugierde ist immer gut."

Junghyuk und ich lassen die beiden vorauslaufen. Wenn Guk als erstes die Werkstatt gezeigt bekommt, dann sind wir überflüssig. Das fasziniert ihn alles sehr. Kurz darauf kommt uns ein etwas jüngerer Mann entgegen, begrüßt uns auch und stellt sich als der Sozialpädagoge vor, der für die Betreuung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zuständig ist. Er koordiniert die Zusammenarbeit mit der Berufsschule und wenn nötig mit dem Jugendamt und hilft allen Lehrlingen, das Lernen, Zuverlässigkeit und Teamgeist neu oder wieder zu lernen.
Wir lassen uns von ihm informieren über Arbeitszeiten, Verdienst, Urlaub, wie der schulische Teil der Ausbildung abläuft, wie es mit dem erwachsenen Bürgen funktioniert, wie die Kommunikationsstrukturen sind.

Es dauert eine Weile, bis der Meister mit Jeongguk wieder zu uns stößt. Der Junge hat leuchtende Augen und jede Scheu abgelegt. Er redet wie ein Wasserfall, und jeder zweite Satz ist eine Frage.
"Ich hab ein altes Mofa geschenkt bekommen. Wir wissen gar nicht, ob es funktioniert. Aber ich möchte das gerne mit dem, was ich hier lerne, selbst wieder zum Laufen bringen. Darf ich das hierher mitbringen?"
"Was besseres kann uns und dir eigentlich nicht passieren als eine eigene Maschine. Denn dafür wirst du besonders aufmerksam lernen und besonders sorgfältig arbeiten."
Wenn ich in Guks Gesicht schaue, glaube ich das sofort.
Wie anders der Junge ist, seit der Deckel von seinem Drucktopf geflogen ist!

"Ich erkläre dir jetzt mal, wie die praktische und die schulische Ausbildung aufgebaut sind. Die Berufsschule beginnt am 15. August, du kannst aber schon vorher hier anfangen, den Betrieb und die Kollegen kennenlernen, dich an die Arbeitszeiten und ein paar Spielregeln fürs Miteinander gewöhnen. Du wirst dafür auch schon bezahlt. Arbeitskleidung stellen wir und waschen die hier auch. Die Lehrbücher stellt die Berufsschule gegen Kaution, Hefte, Stifte, selten mal ein Werkzeug musst du von deinem Lohn bezahlen.
Du wirst an zwei Tagen in der Woche zur Schule gehen und an drei Tagen zu uns in den Betrieb kommen. Sobald du volljährig bist, kann es vorkommen, dass du auch mal samstags arbeitest, aber bestimmt nicht jedes Wochenende. Die schulischen Ausbildungsinhalte sind koordiniert mit dem, was du bei uns lernen wirst."

"Ich hab noch nie irgendwie Lohn bekommen. Und ich will sparsam sein. Dann reicht das doch, oder? Gibt es denn für Auszubildende auch eine Busfahrkarte wie für Schüler?"
"Das kommt darauf an, wo du wohnst. Für Azubis, die mehr als sechs Kilometer vom Betrieb und/oder der Schule entfernt wohnen, bezahlt das Schulamt eine Jahreskarte. Wo wohnst du denn?"
Jeongguk schaut mich unsicher an. Kein Wunder. Die Adresse hat er bisher nie gebraucht.
"Die Kilometer sind sicher drüber. Jeon Jeongguk wohnt am Bukhansan kurz vor der Grenze zum Nationalpark. Der eine Bus, der hier hält, fährt direkt zu uns auf den Berg."
"Das ist auf jeden Fall weit genug. Und mit dieser Jahreskarte kannst du dich dann in der ganzen Stadt bewegen."
"Cool!''

Als nächstes wird Guk der Ausbildungsvertrag erklärt, sein Bruder und ich werden als Bürgen eingesetzt und Jeongguk unterschreibt mit sehr ernster Miene den Vertrag. Danach sind Junghyuk und ich an der Reihe.
"Wann kann ich denn anfangen?"
"Wenn du es eilig hast, dann gleich am Montag. Oder was meinst du?"
Der junge Mann ist nicht zu bremsen.
"Um wieviel Uhr soll ich denn da sein?"
Der Meister schmunzelt und steht auf.
"Sei einfach um 9.00 Uhr mit deinem alten Moped hier, dann richten wir deinen Arbeitsplatz ein. Ich freu mich auf dich, Jeongguk."
Guk springt auf und verbeugt sich. Auch wir stehen auf und bedanken uns, dass Guk hier so schnell und vorbehaltlos eine Chance bekommt, zurück in die normale Welt zu finden.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle erzählt er uns, was er in der Werkstatt alles gesehen hat, was er alles lernen wird. So viel Lebensfreude und Zuversicht machen auch mich ganz glücklich.
"Weißt du, was wir drei jetzt machen?"
"Nö, was denn?"
"Wir fahren mit dem Bus zum nächsten großen Einkaufszentrum und decken dich ein. Du brauchst mehr Klamotten, für die Werkstatt, für die Schule. Du brauchst passende Schuhe, die hier sehen nämlich aus, als ob sie dir zu klein wären, und das ist ungesund. Und wir können nach einer Schultasche, Heften, Stiften und sowas suchen. Dann hast du von allem Nötigen eine Grundausstattung und musst nur noch gezielt nachkaufen, wenn dir irgendwas Besonderes fehlt."
"Das müssen wir dann aber alles genau aufschreiben, damit ich das zurückzahlen kann!"
"Das wirst du nicht, denn es ist mein Startgeschenk an dich. So, wie es alle anderen in der Villa auch bekommen. Ihr sollt nicht mit Schuldenmachen in die Selbständigkeit starten müssen."

Junghyuk schüttelt den Kopf.
"Das verstehe ich. Es ist irre, dass Sie zu allen so tolerant und großzügig sind. Dass da oben in der Villa so viel Hoffnung ist. Aber unsere Eltern haben keine Geldsorgen. Es ... fühlt sich falsch an, dass die sich zurücklehnen, während eine Freundin in die Bresche springt. Deshalb würde ich mich gerne beteiligen dürfen."
"Dazu sage ich nicht nein. Aber bitte geben Sie dabei nicht mehr aus, als sie gut erübrigen können, Sie sind Student und müssen auch rechnen."
Damit ist Jeon Junghyuk einverstanden.

Eine halbe Stunde später stehen wir vor einer ganz normalen, also riesigen Shopping Mall, und Jeongguk wird sichtlich nervös. Seine Augen sausen an der Fassade auf und ab, die vielen Autos, Menschen, Geräusche überfordern ihn, nachdem er nun jahrelang gewohnt war, immer Herr der Situation sein und alles überblicken können zu müssen. Wir warten geduldig ab, bis Guk bereit ist, mit uns die Mall zu betreten.
Dann jedoch haben wir richtig viel Spaß beim Shoppen. Jeongguk genießt die Vielfalt und macht ab und zu Modenschau für uns. Die neuen Schuhe behält er gleich an und befördert die alten, viel zu kleinen Treter in die nächste Mülltonne. Ein robuster Stadtrucksack vervollständigt seinen Look. Und den füllen wir dann mit Collegeblöcken, Schreib- und Zeichenstiften, einem Taschenrechner und ein paar anderen notwendigen Dingen, die der Sozialpädagoge uns schon nennen konnte.

Zum krönenden Abschluss bezahlt Junghyuk seinem kleinen Bruder einen Besuch beim Friseur. Wie aus dem Ei gepellt und richtig stylisch mit seinem asymmetrischen Undercut steht er schließlich vor uns und strahlt mit sich selbst um die Wette. Beim Warten auf den Bus nach Hause fällt er mir plötzlich um den Hals.
"Danke, Nelli! Ich danke dir so sehr. Ich denke dauernd, das ist nur ein Wunschtraum. Aber das ist alles echt. Ich muss endlich keine Angst mehr haben. Schade, dass Yoongi nicht dabei war. Ich bin gespannt, was er zu dem hier sagen wird."

Ich bin heute Morgen sehr unsamstaglich früh aufgestanden. Wenn Namjoon und ich Zeit miteinander verbringen wollen, muss ich mich seinem gegenläufig organisierten Tagesablauf anpassen. Also habe ich ihn von seiner Tankstelle abgeholt. Die anderen haben zwar gemurrt, dass das gemeinsame Frühstück jetzt sooo früh stattfindet, aber sie ziehen wohl mehrheitlich mit. Namjoon ist dann zügig ins Bett verschwunden, damit er vor der Nachmittagsschicht noch so was ähnliches wie genug Schlaf bekommt.

Yoongi reagiert genau richtig, als er etwas später zum Frühstück auftaucht.
"Hi, allerseits. Wo habt ihr Jeongguk gelassen, und wer ist der schicke Schnösel da neben Tae?"
Zur allgemeinen Heiterkeit weiß Guk nicht, ob er schwer empört oder stolz geschwollen aus der Wäsche kucken soll. 'Schick' klingt ja gut - 'Schnösel' allerdings weniger. Also wechselt er lieber das Thema.
"Wie kriegen wir eigentlich das Moped zum Laden? Und darf ich auch die Farbe verändern, Nelli?"
"Klar darfst du. Im Moment wird es ja eigentlich nur von Rost und Schmieröl zusammengehalten. Mach es bunt oder schwarz oder wie immer du möchtest. Ich denke, ihr solltet euch am Montag früh mit den Handwerkern absprechen. Irgendein geeignetes Fahrzeug wird schon frei sein. Jin, kannst du ihn dann fahren?"
"Klar, kein Problem. Ich fänds allerdings praktisch, wenn andere hier bei Gelegenheit auch mal einen Führerschein machen würden."

Da hat er wohl recht.
"Wer von euch hat denn welche Fahrerlaubnis?"
Jin denkt kurz nach.
"Ich weiß das nicht von allen. Ich darf PKW und Transporter bis 4 Tonnen fahren. Namjoon kann mindestens PKW fahren."
Ich will grade Yoongi fragen, aber Hoseok ist schneller und hakt ein.
"Tae und ich waren nicht volljährig, als wir von zu Hause verschwunden sind. Wir hatten also weder Zeit noch Geld noch die Gelegenheit dazu. Und - nein, Nelli, du wirst uns nicht auch noch die Führerscheine bezahlen!"
Fest entschlossen schaut er mich über den Tisch hinweg an. Ich lächele zurück.
"Angekommen. Ich mache nur, worum du mich bittest."
Soll er seinen Freiheitsdrang ruhig bei sowas durchsetzen. Solange er mich im entscheidenden Moment helfen lässt.

Die Jungs unterhalten sich weiter über alles mögliche. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf.
Noch ist der Stand der Dinge bei allen ausbaufähig. Namjoon hat ein Studium, mit dem er nichts mehr anfangen kann, und jobbt an einer Tanke, um seine horrenden Schulden abzuarbeiten.
Yoongi fährt als Pizzabote, wahrscheinlich mit einem Motorrad, denn den Führerschein hat er ja. Was er sonst treibt oder wo er gerne mal hinkommen möchte, weiß keiner von uns.
Jin ist depressiv und kann toll kochen - mehr wissen wir alle bis heute nicht.
Hoseok hat den Traum vom Tanzen und sicher das nötige Talent. Aber es ist noch überhaupt nicht klar, wie er das zu einem Beruf machen könnte.

Taehyung hat sich über verschiedene Handwerksberufe informiert, und ... sagen wir mal, je kreativer der Beruf in der Praxis ist, desto weniger interessiert er ihn nicht. Eine offene Tür in eine solide Zukunft fühlt sich aber anders an. Und leider hat er keinen High School Abschluss, der ihm die Türen zu den Universitäten öffnen würde.
Jeongguk fängt jetzt eine Ausbildung an und ist auch mit Begeisterung bei der Sache, aber ich habe keine Vorstellung, wie er reagieren wird, wenn die ersten Hürden zu überwinden sind.

Tja - und ich habe einen Haufen Kohle, demnächst eine grundsanierte barocke Villa nebst vielseitig nutzbarem Park in the middle of nowhere, ein abgeschlossenes Masterstudium, einen sicheren Job im Versicherungssektor, eine Wohnung in der Stadt, eine Klausel im Testament und ein Herz für Menschen, die aus irgend einem Grund gestrandet sind. Auch das sieht noch nicht nach einer praktikablen Idee aus.

Das Gespräch endet offen. Wir decken gemeinsam den Tisch ab, räumen die Küche auf und laufen auseinander.
Ich habe mir heute Morgen spontan mein Tagebuch gegriffen und suche mir nun ein gemütliches Plätzchen im Park, um mal wieder schriftlich zu reflektieren. Das Buch von Onkel Harry aus seiner Schreibtischschublade in Berlin ist inzwischen fast voll. Also weihe ich heute einen Nachfolger ein.
Seit fast drei Monaten bin ich jetzt dabei, eine Villa und sechs Leben zu sanieren. Plus mein eigenes. Ich staune, wie viel sich in dieser Zeit trotz Streit, Pech und Pannen verändert hat. Wie viel wir gemeinsam schon erreicht haben. Überhaupt - wie viel 'Wir' hier gewachsen ist, womit wirklich niemand gerechnet hat.

Wie schön wäre es, wenn man für sein Lebenspuzzle einen Haufen zusammenpassender Puzzleteile bekäme und sich daraus ganz nach Geschmack und Laune sein Lebensbild selbst zusammenstellen könnte. Ich hab aber diese Puzzleteile nicht. Mir kaut niemand vor, wie mein Leben aussehen könnte oder sollte. Ich muss zu meiner Aufgabe selbst eine Vision entwickeln und die dann Realität werden lassen.
Trotzdem habe ich das Bedürfnis, die Jungs in meinen Entscheidungsprozess einzubeziehen.
Wer wenn nicht sie kann mir sagen, welche Hilfen wirklich nötig und zielführend sind? Auf der anderen Seite sind sie alle so mit sich selbst beschäftigt, dass ich Skrupel habe, sie für meine Sache einzuspannen.

Eine Sache ist allerdings klar: die Villa selbst wird wieder in den originalen Zustand versetzt, also ziemlich luxuriös. Die Menschen, die sich voraussichtlich darin bewegen werden, sind das genaue Gegenteil - und sollen sich trotzdem wohl und willkommen fühlen. Und ich habe keine Ahnung, ob das überhaupt möglich ist!

Kann ich nicht mal versuchen, mögliche Zwecke auszuschließen? Was ist 'wohltätig'? Das ist doch, benachteiligten Gruppen normale Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen, die das aus eigener Kraft nicht (mehr) schaffen können. Und damit sind die Möglichkeiten sofort schier endlos. Was sind das für Gruppen? Alte, Kranke, Sterbende, körperlich Behinderte, geistig Behinderte, seelisch Kranke oder Behinderte, Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen, Witwen, Waisen, Alleinerziehende, Missbrauchs- und Misshandlungsopfer, Arbeitslose, Wohnungslose, Bildungsferne, Schulabbrecher, alle Personengruppen, die auf Grund irgendwelcher Andersartigkeit in Korea durchs soziale Raster fallen. ... Örks. Ich könnte noch ewig so weiter machen. So Sachen wie Tierschutz oder Umweltschutz klammere ich jetzt mal aus, weil ich glaube zu spüren, dass es mir in erster Linie um Menschen geht, die Hilfe brauchen. Und Würde. Und Gerechtigkeit. Aber wie soll ich mich für EINEN Zweck davon entscheiden? Und wie zieht man eine Stiftung so auf, dass sie sich selbst trägt?

Vielleicht sollte ich mich mal mit dem Sozialpädagogen in Gukkies Werkstatt unterhalten. Der macht sowas jetzt schon ein paar Jahre und kann sicher benennen, welche Form von Unterstützung in Seoul noch fehlt. Oder Yoongi fragen? Der macht halt immer sein eigenes, schweigsames Ding und lässt sich null in die Karten schauen.

Ich schaue an der sanierten Fassade der Villa hoch. Der Dachstuhl ist nahezu fertig, in einer Woche ist Richtfest. Der Erkerturm ist in Stand gesetzt. Alle Mauern außen und innen sind trocken, von Schadstoffen befreit, isoliert und verputzt. Sobald das Dach gedeckt ist, werden die Fassaden gestrichen. Dann kommen am ganzen Gebäude die neuen Fenster rein. Von da an wird die fantastische Kunsthistorikerin anfangen dürfen, ihre vielen tollen Vorschläge für die Ausgestaltung umzusetzen.

Das Problem ist nur, dass ich spätestens dann wissen muss, wo ich eigentlich hin will, wie die Räume genutzt werden sollen. Ob ich einen Konferenz-, Vortrags- oder Konzertsaal aus der Zimmerflucht im Erdgeschoss mache, ob im Haus Menschen wohnen sollen, ob ich selbst dort leben oder weiter pendeln will. Werden dort Büros entstehen, die entsprechende technische Voraussetzungen brauchen? Oder wird da viel Publikumsverkehr sein, der ausreichend sanitäre Anlagen erfordert? Diese Fragen hab ich bisher alle hübsch erfolgreich verdrängt, weil ja mit dem eigentlichen Bau und den Belangen der Jungs immer genug anderes zu tun war.

Ich höre Schritte und wende mich suchend um. Namjoon kommt den Trampelpfad entlang, sieht mich, kommt zu mir rüber und lässt sich lächelnd neben mir im Gras nieder.
"Du kannst auch keine Sekunde lang die Finger stillhalten, oder? Was schreibst du da so eifrig?"
"Na - genau das. Ich schreibe, um meinen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben, statt unentwegt über mein Inneres hinwegzupowern. Ich versuche, mich den Fragen zu stellen, die im Alltag so schnell untergehen."
Namjoon legt mir seinen Arm um die Schultern.
"Das klingt gut. Irgendwann hab ich das auch mal probiert. ... Eine Zeit lang, im Knast. Erst war ich gnadenlos ehrlich. Das hab ich aber nicht lange ertragen. Also hab ich die Wahrheit geschönt. Und weil mir das durchaus bewusst war, hab ich wieder aufgehört zu schreiben."
"Heißt das, dass du versucht hast, dich nett zu schreiben, um nicht die Achtung vor dir selbst zu verlieren?"
"So ungefähr. Die Selbstachtung war aber so oder so zum Teufel."

Stille.

"Niemand achtet mich so wie du es tust. Nichtmal ich selbst."
Ich drehe mich ihm zu und nehme ihn in den Arm.
"Hei, wie trübsinnig auf einmal!"
"Hm. Bin müde. Keine Ahnung, wie lange ich diese 7-Tagewoche mit dauernder Zeitverschiebung noch durchhalte. Ich bin ja nicht gefragt worden. Ich hab diktiert bekommen, wieviel ich mindestens pro Woche abliefern können muss. Egal, wie wenig dann für mich übrig bleibt. Und mit dem Job an der Tanke komme ich überhaupt nur mit sieben Tagen und häufigen Nachtzuschlägen auf diese Summe. Aber manchmal möchte ich nur heulen, wenn schon wieder der Wecker klingelt. Es fühlt sich an wie Folter.
Die anderen sind echt rücksichtsvoll. Ich bin noch nie von Lärm, Musik oder Streit aufgewacht. Aber der Körper wird da nicht ewig mitspielen."

Tja. Das Blöde ist nur: ich gehe jede Wette ein, dass du dich weigern wirst, mich helfen zu lassen.
"Joonie? Ich werde dir jetzt nicht anbieten, einen Teil davon zu übernehmen, denn es würde deinen letzten Rest von Selbstachtung pulverisieren und uns beiden eine ungesunde Abhängigkeit überstülpen. Aber du hast recht: mittelfristig muss an der Situation etwas geändert werden, sonst gehst du kaputt."
Namjoon lässt seinen Kopf auf meine Schulter sinken.
"Danke, dass du das verstehst. Also ... beides. Ich weiß nur nicht, welche Möglichkeiten ich noch habe. Einen guten Anwalt, der mich nicht gleich kollektiv mitverachtet, kann ich mir jedenfalls nicht leisten."

"Erlaubst du mir denn, dass ich versuche, einen zu finden? Und zu bezahlen? Das ist eine einmalige, irgendwann abgeschlossene Aktion und nicht eine Endlosabhängigkeit."
"Hm. Danke! Ich denk drüber nach. ... Du, ich muss schon wieder los. Am Wochenende fahren die Busse so selten. Das ist echt übel."
"Vergiss es. Ich fahr dich runter. Und wir sollten auf jeden Fall versuchen, einen Job für dich zu finden, der normale Arbeitszeiten, eine weniger große Entfernung und etwas mehr Verdienst ermöglicht. Das ist kein Dauerzustand."
"Da sagste was. Lass uns mal Brainstorming machen, was denn für mich in Frage kommt. Ein netterer Chef wäre nämlich auch eine Kraftquelle."

Wir rappeln uns auf und spazieren zurück zur Pförtnerei. Es fühlt sich entspannt, wohl und geborgen an, so mit ihm Hand in Hand zu schlendern ohne, dass uns irgend etwas treibt.
Hoffentlich fühlt er sich dabei auch so wohl. Er soll bitte nienieniemals das Gefühl haben, dass ich mich nur aus Mitleid mit ihm abgebe.
"Nelli?"
"Ja, mein lieber Joonie?"
Namjoon hält unsere verschränkten Hände hoch.
"Wie fühlt sich das an für dich?"
Ich wende mich ihm zu, lasse ihn nicht los und lege meine Arme um seinen Bauch.
"Kannst du Gedanken lesen? Ich habe grade eben ganz bewusst genossen, wie schön das für mich ist. Und mich gefragt, ob du das auch genießen kannst."

Seine Augen leuchten sattbraun im hellen Licht, während er seinen freien Arm auch um mich schlingt.
"Sehr! Naja ... meistens. Manchmal macht es mir Angst, weil es so ungewohnt und so unwahrscheinlich ist. Aber jetzt grade war und ist es wunderbar schön. Und ... so ... geborgen."
Ich hauche ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.
"Dann bin ich beruhigt und freu mich einfach mit."
Nach einem Blick auf die Uhr nehmen wir uns noch die Zeit, zu kochen und in Ruhe zu essen, bevor ich Namjoon zur Arbeit fahre.

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4.2.2023    -    22.3.2024

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