37 - Sommer in Berlin

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Namjoon wird zur üblichen Zeit wach und verwöhnt mich für den Rest des Tages nach Strich und Faden. Wir erzählen und träumen und lachen. Irgendwann am späten Nachmittag auf dem Sofa hält er mir plötzlich sein Handy unter die Nase. Meine Augen werden glaube ich kugelrund vor Erstaunen, als ich aufs Display sehe. Er grinst sein Grübchengrinsen.
"Da staunst du! Dachtest du, ich würde das vergessen?"
Auf dem Handy sind Flugverbindungen nach Berlin zu sehen - morgen hin, Montag zurück.

"Du spinnst! Das lohnt sich doch gar nicht."
"Quatsch. Frag nicht, wie oft ich früher mal eben für einen Tag nach New York, London oder Frankfurt jetten musste. Viel gesehen von den Städten hab ich nicht. Aber wie man nach Flügen sucht - DAS hab ich gelernt."
Ich schüttele den Kopf.
DER kommt auf Ideen! Urlaub bis Montag, auch länger wäre sicherlich kein Problem. ... Verrückt! Allerdings ...
Ich schnappe mir mein Handy vom Tisch und verabschiede mich aufs Klo.
"Mit Handy?!"
"Ja, mit Handy. Könnte was länger dauern, falls du verstehst."
"Aha."

Jetzt muss ich grinsen. Kaum bin ich ins Bad geschlüpft, rufe ich Namjoons Bewährungshelfer an und frage, ob er überhaupt und dann auch noch außer Landes Urlaub machen darf. Mit bestimmten Auflagen darf er. Dann frage ich seinen Chef. Der hätte das gerne erst nächste Woche, weil er Namjoon leider an diesem Wochenende dringend braucht. Dafür kann er ihm aber die ganze Woche freigeben bis einschließlich Samstag Nacht.
Das wird ja immer besser!
Nochmal der Bewährungshelfer. Dem ist das auch lieber, dann kann er morgen alles Nötige in die Wege leiten.
Passt doch.

Ich checke meine Termine für nächste Woche. Der Zahnarzt kann warten, ansonsten ist alles clean. Fehlt nur noch mein Chef.
Okay, arbeite ich eben morgen und hab die ganze nächste Woche frei.
Klappt auch. Ich flitze zurück ins Wohnzimmer und rutsche neben Namjoon aufs Sofa.

"Schatz?"
"Oje, was kommt jetzt?"
"Kannst du mir nochmal die Flugverbindung zeigen?"
Irritiert reicht er mir sein Gerät. Ich orientiere mich kurz auf der Seite und tippsele ein paar Minuten schweigend vor mich hin, während seine Nervosität spürbar ansteigt.
Dann halte ich ihm sein Handy unter die Nase. Auf dem Display ist nun eine andere Verbindung zu sehen. Montag bis Samstag, Seoul-Berlin und zurück - für zwei Personen.

Geschlagene drei Minuten starrt er stumm sein Telefon an. Räuspert sich. Kratzt sich am Kopf. Schließt die Augen. Atmet tief durch. Ich warte einfach ab. Seine Stimme klingt bei den ersten leisen Worten ganz kratzig.
"Meinst ... du das ... so, wie ich es verstehe? Ernsthaft?"
"Das will ich doch schwer hoffen. Also ... dass du das so verstehst, wie ich es meine."
Auf einmal kommen ihm die Tränen. Schnell versteckt er sein Gesicht hinter seinen großen Händen. Ich lasse ihm einen Augenblick, bevor ich seine Hände greife, sie sanft zur Seite ziehe und ihm einen Kuss gebe.

Ungläubig staunende Augen sehen mich an.
"Womit hab ich dich verdient?"
"Damit, dass du DU bist. Da steckt so viel Tolles in dir, was du selbst noch nicht kennst. Da will so viel wachsen und blühen und reifen. Und ich bin furchtbar neugierig auf einfach alles davon."
Namjoon schaut mich direkt an und schüttelt leise den Kopf.
"Wie kann man so ... Bist du naiv, bist du einsam, bist du dumm, oder bist du eine Heilige? Warum vertraust du mir schon nach so kurzer Zeit so sehr? Was siehst du in mir? Hast du keine Angst, dass ich dich ausnutze, abziehe und dann fallen lasse?"
"Das wirst du nie tun. Du hast es wohl selbst noch nicht gemerkt. Aber du hast dich schon jetzt so sehr verändert. Zum Positiven. Zu einem aufmerksamen, freundlichen, geselligen, einfach tollen Namjoon, den ich nicht mehr missen möchte. Nein, ich bin nicht verrückt. Nein, ich habe keine Angst vor dir. Ich hab dich lieb."

Immer noch kopfschüttelnd widmet er sich seinem Handy und hat binnen weniger Minuten eine Verbindung gefunden, die deutlich schneller UND deutlich günstiger ist.
Hat was.
"Und jetzt?"
"Auf den Button drücken. Bevor uns jemand anderes die Plätze wegschnappt. Der eine Flieger ist nämlich, soweit ich das sehen kann, schon fast ausgebucht."
Stille.
Sein Finger schwebt über dem Display.
"Joonie? Was ist?"
Er seufzt.
"Ich kann doch nicht ..."

Mir dämmert, was sein Problem sein könnte.
"Wenn dir das für ein mal-eben-Geschenk zu teuer ist, dann sag es mir bitte. Du sollst die Reise doch genießen können. Und nicht die ganze Zeit mit Scham und schlechtem Gewissen verbringen."
Namjoon legt sein Handy zur Seite, sieht mich nicht an, sucht wohl nach Worten.
"Hältst du mich bitte ganz fest? Mir ist grade so komisch schwindelig."
Schnell nehme ich ihn in die Arme.
"Mir ist ... schwindelig vor Glück. Wir fliegen nach Berlin!"
"Wenn du endlich den Button drückst - dann ja."
Er lächelt.
"Du glaubst nicht, WIE überzeugend und hartnäckig du sein kannst."

Und dann bucht Namjoon für uns beide die Reise nach Berlin. Wir müssen Unmengen von Daten eingeben, wie immer bei Auslandsflügen. Ich gebe meine Bankverbindung an. Eine lange Zeit halten wir uns ganz, ganz fest, bis unsere Nerven nicht mehr flattern und unsere aufgeregten Gemüter sich beruhigt haben.
Schon wieder so eine verrückte Aktion! Aber - die Jungs in der Villa zu lassen und ihnen zu helfen, statt sie rauszuwerfen - das war auch so bekloppt. Und genau richtig. So spontan und verrückt zu sein, scheint zu mir zu gehören. Und das ist ziemlich verblüffend, nachdem ich Jahrzehnte lang freiwillig in So-Ras Schatten ein komfortables Leben geführt habe.

Zum allerersten Mal in unserem gemeinsamen Leben habe ich das Gefühl, dass So-Ra etwas runterschluckt, als ich ihr am Freitag im Büro erzähle, was für eine spontane Aktion wir da starten. Es dauert geschlagene drei Stunden, bis ich aus ihr rauskriege, was los ist.
"Vorweg: es ist genau richtig, was du tust, Nelli. Es ist für mich nur so ungewohnt, dass du auf einmal so selbständig bist und einfach machst. Und ... das ... Ach, Mist! Es fühlt sich an, als ob du mir entgleitest, als ob ..."
Sie verstummt, und ich muss sehr energisch bohren, bis sie weiter redet. Ihr Blick ist schmerzhaft scheu und unsicher. Mit einem Seufzen fährt sie schließlich fort.
"Als ob ... ich abgemeldet wäre."
Und ganz leise fügt sie hinzu:"Ich hatte mich so auf Berlin mit dir gefreut."

Ich ignoriere die vielen neugierigen oder verwirrten Blicke in unserer großen Kantine, gehe um den Tisch und nehme So-Ra fest in die Arme. Ich weiß sicher, dass sie nicht eifersüchtig auf Namjoon ist - das würde überhaupt nicht zu ihr passen.
So, wie ich mich im Moment dauernd neu erlebe, so muss sie aushalten, dass unsere Freundschaft grade in ständigem Wandel ist, weil ICH mich wandele.

Leider ist jetzt unsere Mittagspause zu Ende, wir müssen wieder an die Schreibtische, auch im Fahrstuhl sind wir nicht alleine. Also schnappe ich mir an meinem Arbeitsplatz mein Handy, suche unser gemeinsames Lieblings-Teeniephoto raus und montiere uns beide in ein Bild vom Brandenburger Tor. Abgesendet - und die Worte hinterher:
        "Ich freu mich auch auf Berlin mit Dir!"
Zurück kommt ein großer Haufen Herzchenspam, und bald merke ich, dass sie sich wieder viel besser auf die Arbeit konzentrieren kann.

Nach der Arbeit bricht Hektik aus. Zunächst habe ich an der Villa mein Handwerker-Meeting. Auch mit Herrn und Frau Dr. Lee telefoniere ich lange. Kaum betrete ich die Pförtnerei, fallen Guk, Tae, Jin und Hobi über mich her, weil sie aus Namjoons Andeutungen nicht schlau werden. Das gemeinsame Abendessen fällt heute etwas kürzer aus. Nur Tae berichtet, dass seine häufigen Besuche auf dem Schrottplatz Jimins Vertrauen gaaaaaanz allmählich wachsen lassen. Sie sind für Sonntag verabredet, und Herr Kang hat den beiden angekündigt, dass er mit ihnen was vorhat. Und Jeongguk sprudelt hervor, dass er jetzt gelernt hat, Räder einzuspeichen. Erst an Fahrrädern, dann durfte er an den Rädern von seinem Mofa weiter üben.

Bald brechen wir auf. Namjoon muss sich noch vor der Arbeit mit seinem Bewährungshelfer treffen, ich muss meine Berliner Nachbarin von unserem Besuch unterrichten. Auch die Berliner Anwaltskanzlei informiere ich. Wenn ich schon da bin, sollten sie die Möglichkeit bekommen, mich zu sehen, falls etwas anliegt.

Wir beide müssen das Wetter in Berlin rausfinden, Klamotten waschen und packen. Am Montag früh morgens werde ich Joon direkt an der Tankstelle einsammeln und durchstarten, damit wir am Mittag unseren Flug bekommen.

Die Wochenendtage fliegen dahin. Wenn Namjoon nicht grade arbeitet oder schläft, hocken wir beieinander, ich erzähle ihm von Berlin, wir überlegen, was wir in den paar Tagen unternehmen wollen.
Je näher der Montag rückt, desto aufgeregter werde ich. Namjoon hingegen bleibt ganz cool. Er versucht einfach rauszufinden, was ihn erwartet. Seine Vorfreude und Neugierde sind dennoch sehr deutlich zu spüren.

Und seine Müdigkeit auch, denn während wir am Gate warten, fallen ihm immer wieder die Augen zu. Jetzt ist seine normale "Nacht". Also verziehen wir uns in die hinterste Ecke der Wartehalle und bauen Namjoon aus unseren Jacken ein notdürftiges Lager. Zumindest er sollte nicht völlig aus dem Rhythmus kommen. Zum Einsteigen wird er gar nicht richtig wach. Ich lotse ihn in seinen Sessel, schnalle ihn an und decke ihn zu. Ich selbst hoffe für später auf eine Mütze voll Schlaf. Entsprechend wach und ausgeruht ist mein lieber Joon, als wir am Nachmittag in Frankfurt umsteigen. Diesmal werde ich blinzelnd und desorientiert von ihm durch den Flughafen gebracht und in den Flieger nach Berlin gesetzt. Unsere sowieso gegenläufigen Tagesabläufe in Kombination mit dem Jetlag sind eine echte Herausforderung.

Abends um 21.00 Uhr betreten wir die schöne Altbauwohnung in Charlottenburg. Namjoon ist hellwach, ich bin totmüde. Aber vielleicht ist das gar nicht schlecht, denn Namjoon orientiert sich kurz, schiebt mich ins Gästezimmer zum Bett, bestellt Pizza, bringt unser Gepäck rein - und kitzelt mich durch, damit ich nicht schon vorm Essen ins Koma falle.
Na warte! Das kriegst du irgendwann zurück!
Die Pizza ist gefühlt in unserer Wohnung gebacken worden, so flott, wie die da ist. Aber dadurch werde ich wenigstens schnell erlöst. Sie schmeckt, soweit ich mich am nächsten Morgen erinnern kann, lecker. Alles andere kriege ich überhaupt nicht mehr mit.

Ziemlich früh am Morgen wache ich auf. Die Gästezimmertür steht offen. Namjoon ist schon auf und grade auf dem Flur. Er ist ganz schweigsam und schaut sich mit wachem Geist in den Räumen um. Ich rühre mich nicht und beobachte seine Wanderung.
Ist es okay für mich, dass er hier einfach losstöbert? Ja, es ist okay. Ich glaube, er und Harry hätten sich gemocht.

Als Joon den Kopf bei mir zur Tür reinsteckt, rühre ich mich, wuschele mir durch die Haare und gähne laut. Er lacht und scheucht mich gleich hoch.
Wie mit der Nachbarin verabredet, ist der Kühlschrank gefüllt. Wir duschen umschichtig, kochen Kaffee und setzen uns zum Essen in den Wintergarten. Wir lassen uns Zeit und probieren uns einmal quer durch den Kühlschrank. Es ist witzig und auch berührend, wie bewusst Namjoon alles genießt.

Satt und glücklich strecke ich mich in meinem gemütlichen Sessel.
"So, da wären wir. Jetzt darfst du dir wünschen, was ich dir als erstes in Berlin zeigen soll."
Namjoon muss nicht lange nachdenken. Aber seine Antwort verblüfft mich.
"Was du mir zeigen sollst? Diese Wohnung, deinen Onkel, die Dinge, die dir besonders wertvoll sind, Spuren deiner Kindheit. Und die Orte, die dir im Frühjahr wichtig geworden sind, als deine Welt so plötzlich auf dem Kopf stand."

"Äh. Dafür hätten wir nicht um die halbe Welt fliegen müssen. Fotoalben gibts in Seoul genug."
"Du irrst dich. Ein Foto von irgendeinem Wintergarten ist nicht zu vergleichen mit einem gemütlichen Frühstück IN diesem Wintergarten. Zu wissen, dass dein Onkel sehr gebildet war, ist eine bloße Information. Aber wenn ich an seinem Bücherregal entlangstreife und die Titel lese, dann wird sein Geist lebendig für mich."
"Kannst du das lesen? Du kannst doch kein Deutsch."
Ganz kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht, das er schnell hinter seiner leeren Kaffeetasse verbirgt. Verblüfft schaut er hinein und stellt sie dann wieder ab. Ich habe nicht viel Zeit, irritiert zu sein, denn er redet gleich weiter.

"Stimmt. Aber da stehen auch jede Menge englischer und koreanischer Bücher. Und die sind genau so spannend. Ich ... möchte dich und dein Herz fühlen. Ich möchte den Geruch und den Geschmack deiner Kindheit erleben. Ich möchte dir zusehen, wie es dir damit geht, in deiner Vergangenheit zu sein. Das alles geht nur hier."
Ich fühle mich von seiner Liebe eingehüllt, schwebend leicht und verstanden.
"Stimmt - das alles geht nur hier. Also, womit fangen wir an?"
"Haben wir doch schon. Mit diesem deutschen Frühstück zum Beispiel. Und dann möchte ich es dir überlassen, was du mir in welcher Reihenfolge und in welchem Tempo erzählst. Du sollst dich wohlfühlen dabei und nicht von meinen Fragen bedrängt."

"Dann würde ich vorschlagen, ... wir fangen mit draußen an. Denn ich war ja im Frühling hier. Jetzt möchte ich den Berliner Sommer sehen, riechen und schmecken."
"Gebongt. Auf, auf, meine Schöne!"
Das riecht nach Kissenschlacht!
Nur die vielen empfindlichen Pflanzen hier im Wintergarten halten mich davon ab, nach dem nächsten Kissen zu greifen.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben ...
"Was war das denn grade für ein komischer Gesichtsausdruck?"
"Och ... ich habe grade nur im Geiste Onkel Harrys Orchideensammlung gerettet."
Das hilft Joonie natürlich überhaupt nicht weiter, und das ist seinem Gesicht auch deutlich anzusehen, aber ich schweige wie ein Grab. Stattdessen räumen wir das Frühstück weg und machen uns auf die Socken.

Wir bummeln einfach kreuz und quer durch Charlottenburg. Namjoon bestaunt die alten Jugendstilvillen, das Kopfsteinpflaster, wie grün der Stadtteil ist.
"Ein bisschen wie die Gegend von Seoul, wo deine Villa steht. Großzügig, künstlerisch, luxuriös, exklusiv. Manchmal denke ich, die Villa ist eigentlich ein richtiges Schloss."
"Oh nein, glaub mir. Ein Schloss sieht noch ganz anders aus."
Er wird gleich staunen!
Wenige Minuten später nähern wir uns vom Gierkeplatz über die Kaiser-Friedrich-Straße dem Schloss Charlottenburg. In dem Moment, wo sich der Blick auf die beeindruckende Front des Schlosses öffnet, macht Namjoon eine Vollbremsung. Ihm fällt buchstäblich die Kinnlade runter, während sein Auge an der über 500 Meter langen Fassade des barocken Gebäudes entlangwandert. Zwei schier endlos lange Ausläufer flankieren das Hauptgebäude mit dem repräsentativen Vorplatz. Das Auge kann gar nicht alles auf einmal erfassen.

"Ähm. ... Ist das EIN Schloss, oder sind da gleich zehn aneinander gebaut?"
Ich muss wegen der Frage und wegen seines verblüfften Gesichtsausdrucks herzlich lachen.
"Das, mein lieber, ist nur die eine Sommerresidenz der preussischen Königin Sophie Charlotte. Mit einer Orangerie, einer eigenen freistehenden Oper und 55 Hektar barockem Park."
"Aaaaaaahhhh ja. Nur die eine Sommerresidenz."

Wir entschließen uns, hier irgendwo ein Mittagessen to go zu kaufen und uns damit in den weitläufigen Park zu setzen. Koreas Tempel und Paläste in Seoul und anderswo sind ja auch nicht kleiner, nicht weniger beeindruckend. Aber der fremde Stil und die barocke Pracht lassen das Schloss um so imposanter wirken.
Immer, wenn ich deutsche Wörter benutze oder mit jemand rede, lauscht Namjoon konzentriert auf den Klang der Sprache und möchte hinterher wissen, was ich gesagt habe. Er selbst unterhält sich mit der Ticketverkäuferin am Parkeingang auf Englisch, was er aufgrund seines früheren Berufes fließend beherrscht.

Wir schlendern um das Schloss herum, suchen uns eine freie Bank auf der Luiseninsel und sind binnen weniger Minuten von Scharen von Enten und Schwänen umgeben, die alle gerne etwas von unserem Mittagessen abbekämen. Zu ihrem Leidwesen sind wir heute nicht spendabel. Nach dem Picknick zeige ich Namjoon die Eiche, in der ich mich im Frühjahr immer versteckt hatte, um nachzudenken.
Anschließend machen wir uns auf den Rückweg, weil wir inzwischen beide ziemlich müde sind. Dann stehen wir morgen eben wieder so früh auf.

Drei weitere Tage lassen wir uns in der großen Stadt treiben, sehen die Hackeschen Höfe, die Rache des Papstes und das Brandenburger Tor. Einmal statte ich der Anwaltskanzlei einen Besuch ab, um mal wieder ein paar Papiere zu unterschreiben. Und ein beeindruckend teurer Bummel auf dem Ku'damm ist auch noch drin. Zu Hause stöbern wir in Regalen und Fotoalben und sitzen viele Stunden im Wintergarten. Namjoon fragt und hört zu, ich erzähle aus meinem Leben.
Eigentlich gemein, dass ausgerechnet Namjoon jetzt als erster in den Genuss kommt. Aber das hier ist so anders, als es die 'Märchenstunde' mit den Jungs sein wird. Vielleicht ist es sowieso besser, das zu trennen.

Aber vor allem nehmen wir uns viel Zeit zum Reden, Kuscheln und Träumen. Der Abstand zur Baustelle, zur Arbeit und zu den vielen kleineren Themen und Aufbrüchen der verrückten Männer-WG tut uns richtig gut.
Am Freitag Morgen spazieren wir ein letztes Mal durch den Schlosspark und auf die Luiseninsel, bevor wir uns zum Flughafen aufmachen müssen.
"Joonie, darf ich dich was fragen?"
"Klar, schieß los!"
"Die Stiftung nimmt immer mehr Formen an, die Banken, Anwälte und Ämter scheinen ein gutes Konzept zu stricken. Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis alles ausgearbeitet ist und wir loslegen können. Aber ..."
Gleich wird mich der nächste für verrückt erklären. Aber es fühlt sich immer noch richtig an.

"Könntest du dir vorstellen - wenn es soweit ist -, dass du als Angestellter der Einrichtung den Posten der Geschäftsführung übernimmst?''
Namjoon schweigt. Er bleibt stehen, vergräbt seine Hände in den Hosentaschen, sieht mich nicht an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber er ist plötzlich ganz blass geworden. Sein Verhalten beunruhigt mich. Dann schüttelt er den Kopf und blickt mir direkt in die Augen.

"Danke, Nelli. Danke, dass du mir das zutraust, dass du mir das anvertrauen willst. Aber wenn du mich zum Geschäftsführer machst, musst du die Stiftung gar nicht erst gründen. Du wirst keine Sponsoren finden, keine Bank, die kooperieren will, keine Vereine, die unter meinem Namen ein Netzwerk aufbauen wollen. Dein Idealismus, deine Treue zu mir und deine großartige Liebe in allen Ehren, aber ... wenn dein Herzensprojekt gelingen soll, dann muss ich zu diesem Angebot ganz entschieden nein sagen."

Mir schießen die Tränen in die Augen. Eine so klare, sachliche Absage hatte ich nun überhaupt nicht erwartet.
Diskussionen ja - aber das? Nimmt mir echt den Wind aus den Segeln.
Leise macht Namjoon einen Schritt auf mich zu und nimmt mich sanft in die Arme. Ganz weich klingt seine Stimme.
"Es tut mir leid, Liebes. Da springt der Realist in mir an. Ich will nicht verantwortlich sein für das Scheitern deiner phantastischen Idee. ... Nenn mir einen plausiblen Grund, warum das gut gehen sollte - dann bin ich sofort dabei."

Ich schöpfe Hoffnung.
Gegenüber So-Ra habe ich doch auch ganz überzeugt geklungen!
Aber die richtigen Worte wollen mir nicht kommen. Mein Hirn ist wie leergefegt. Krampfhaft suche ich nach einem überzeugenden Anfang - und fange schließlich an zu weinen, weil ich doch WEIß, dass ich recht habe, nur nicht weiß, wie ich das erklären soll. Namjoon hält mich einfach fest im Arm und gibt mir Zeit.

Ein bisschen verkatert nach fünf so schönen Tagen und diesem misslungenen Gespräch bin ich schon, als wir am frühen Nachmittag in unseren Flieger steigen. Wir suchen uns unsere Plätze - und ich grübele immer noch über DAS schlagende Argument nach. Namjoon hat so viel Know How, so viele Gaben und so viel Erfahrungen auf dem großen Parkett. Warum sollte das alles verschwendet werden!?!
Er selbst hält sich zurück, beobachtet mich und lässt mich in Ruhe bei meinem inneren Ringen um Worte. Um uns nicht die letzten Stunden in Zweisamkeit und den Rückflug zu versauen, reiße ich mich schließlich am Riemen, richte meine Gedanken wieder nach außen und bemühe mich um mehr Lockerheit. Joon geht darauf ein und hilft mir zurück in die Leichtigkeit der letzten Tage.

Wieder steigen wir in Frankfurt um. Namjoon zeigt mir aus der Luft das moderne Bankenviertel. Aber die Stadt soll sehr alt sein und auch historisch viel zu bieten haben.
Irgendwann mal ... Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.
Vor dem Abendessen richten wir unsere Gedanken wieder auf Seoul aus. Seine Arbeit, meine Arbeit, die anderen Jungs, die Villa, der Park - der Alltag wird uns schnell wieder einholen. Aber die zurückliegenden Tage haben uns Abwechslung, Zweisamkeit und Loslassen ermöglicht, und das hat richtig gut getan. Wir fliegen in die Nacht und versuchen, möglichst viel Schlaf zu bekommen.

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22.2.2023    -    24.3.2024

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