39 - Plan B

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Leichter gesagt als getan. Mein Wecker findet mal wieder treffsicher seinen Weg in den Papierkorb. Aber es hilft ja nichts - aufauf und zur Arbeit! Zum Glück hat So-Ra sich in der letzten Woche ins Zeug gelegt und dafür gesorgt, dass mir der Berg an Arbeit auf meinem Schreibtisch nicht lawinenartig entgegenrutscht. Also kann ich einigermaßen pünktlich Feierabend machen und auf den Berg fahren. Die blöde Baustelle am Kreisel ist immer noch da. Dezent genervt fahre ich brav den riesigen Umweg durch den Tunnel.

Herr Lee zeigt mir erst, was in dieser Woche am Bau alles passiert ist. Zu meiner großen Freude ist das Dach schon halb gedeckt. Der Erkerturm ist wieder aufgebaut und hat nun - im Gegensatz zu früher - ebenfalls ein kleines Dach.

Dann gehen wir gemeinsam die nun sehr konkreten Vorschläge für den Innenausbau durch. Die großzügigen Räume der Villa bieten eine Fülle von Nutzungsmöglichkeiten, und seine Ideen, wie alles sehr flexibel gestaltet werden kann, begeistern mich. Die eine oder andere Charakteristik des alten Hauses wird dadurch viel moderner oder geht verloren. Aber ich fühle mich hier mit dem Gedanken der Stiftung, der dringend notwendigen Vernetzung und der Förderung grade der kleinen, unbekannten Projekte so wohl und klar und auf dem richtigen Weg, dass ich gerne den Vorraum der ehemaligen Bibliothek für den Fahrstuhl und eine größere Garderobe opfere. Der Raum selbst ist so riesig, dass niemandem etwas fehlen wird. Das untere Erkerzimmer soll zur Lese- und Entspannungsecke werden. Die Räume werden in jedem Falle ihren Charme behalten.

Frau Dr. Lee und in ihrem Schlepptau Taehyung sind auch mit dabei, damit sie alle Planungsänderungen mitbekommt und nahtlos ihre Anteile daran einarbeiten kann. Selbst Tae ist nicht nur Zuhörer sondern trägt mit ein paar intelligenten Fragen und Vorschlägen zum Gespräch bei. Ich werde in allen Belangen auf den neuesten Stand gebracht und kann gleich ein paar Folgeentscheidungen treffen. Zum Abschluss spricht Herr Lee noch einen anderen Gedanken an.

"Wir haben schon eine gute Strecke des Weges geschafft, Frau Cho. Ich habe deshalb einen Vorschlag. Ich will Ihnen aber nicht zu nahe treten."
"Gerne, nur zu."
"Sie haben inzwischen ganz viele verschiedene Fachleute an der Hand. Wir hier auf der Baustelle kennen uns ja alle. Aber da sind noch die ganzen anderen - Banken, Juristen, und mehr. Wäre es nicht langsam an der Zeit, uns alle mal an einen großen Tisch zu bringen? Sie wollen vernetzen. Sie sollten damit anfangen."
Ich bin verblüfft.
Er hat vollkommen recht, das ist allmählich dran.
"Danke für diesen wichtigen Schubs. Ich werde schnell zwei Terminvorschläge machen und rumfragen. Das wird allen Beteiligten und der Sache dienen."

Anschließend wird Taehyung in seinen wohlverdienten Feierabend entlassen, den er dazu nutzt, mal wieder Jimin entgegen zu fahren. Kaum ist er zur Tür raus, um sich in der Pförtnerei umzuziehen, wendet sich Dr. Lee an mich.
"Frau Cho, ich möchte Ihnen sagen, wie zufrieden ich mit Kim Taehyung bin. Zu schade, dass er keinen höheren Schulabschluss hat. Mir fallen auf Anhieb mehrere für ihn interessante Studiengänge ein. Was meinen Sie - wird er sich darauf einlassen, erst die High School abzuschließen und dann zu studieren?"
"Das kann ich nur vermuten. Aber ich habe an etwas anderes gedacht. Wenn man die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt, kann man parallel zu einer handwerklichen Ausbildung mit ein paar Unterrichtsfächern mehr den High School Abschluss nachholen."

"Dann hätte er aber nur Zugang zu eher praktisch orientierten Universitäten. Die wirklich guten Unis haben genug Einserkandidaten aus den High Schools und nehmen diese 'Seiteneinsteiger' gar nicht erst an."
"Muss das ein Hindernis sein? Fragt Sie heute noch jemand, an welcher Uni Sie studiert haben? Taehyung ist tatsächlich ein praktisch veranlagter Mensch, in Kombination mit seiner künstlerischen Begabung und seinen vielseitigen Interessen ist eine reine Universitätsausbildung vielleicht gar nichts für ihn. Ich vermute, er würde den handwerklichen Weg wählen, darin einen Sinn sehen und sich deshalb um so mehr ins Zeug legen, damit sich ihm weitere Wege öffnen."

Sie überlegt einen Moment und nickt dann.
"Gut. Er soll seinen eigenen Weg gehen. Dann biete ich ihm an, ihn bis zum nächsten Sommer bei mir zu beschäftigen. Ich werde dokumentieren, was er alles bei mir und den beteiligten Firmen lernen wird, und ihn im Laufe der Zeit in verschiedene Handwerke reinschnuppern lassen. Er liebt vor allem das Alte. Also werde ich ihn nach diesem Projekt vor allem bei dem historischen Theater, den Stuckateuren und solchen Berufen einsetzen. Aber verraten Sie ihm noch nichts. Ein paar Wochen gebe ich ihm noch. Am besten wäre es nämlich, wenn er von selbst drauf käme und sich trauen würde, mich zu fragen."
"Das klingt gut. Wir beobachten das weiter."
Ich verabschiede mich und wende mich zum Pförtnerhäuschen.

Ich habe ja den Verdacht, dass er sich nach diesem Jahr nicht wird entscheiden können, WELCHES künstlerische Handwerk er lernen will. Aber dann macht er halt die erste Ausbildung mit begleitendem High School Abschluss und eine zweite mit begleitendem Fernstudium. Er soll seine Gaben voll ausschöpfen können.
Taehyung kommt grade in Arbeitsklamotten den Hang runtergeflitzt und winkt nur kurz.
Wie kommt er eigentlich zum Schrottplatz, wenn er nicht gefahren wird? Vielleicht sollte ich dem ganzen Haufen einen gemeinsamen Führerscheinkurs anbieten. Außer Namjoon und Jin darf glaube ich noch niemand Auto fahren. Geschweige denn Personenbus.

Und was mache ich jetzt mit Jin? Gut, dass - warum auch immer ... - Yoongi sich so viel Zeit für ihn nimmt. Ich sollte gleich noch mal mit den beiden reden.
Der Entschluss kommt nicht zu früh. Kaum betrete ich den Gemeinschaftsraum der Pförtnerei, sehe ich Jin am Herd stehen. Aber er schnibbelt oder rührt nicht - er starrt Löcher in die Luft. Und er sieht mich nicht an, als er meinen Gruß erwidert.
"Hast du noch Zeit zum Reden, Jin? Ich glaube, wir sind da gestern zu schnell drüberweg gegangen."
Jin nickt, legt Messer und Schürze weg und kommt zu mir.
"Ich hab nachgedacht. Ich vermute, dass du recht hast und ich erst eine Therapie machen sollte. Aber alles, was Yoongi und ich heute gefunden haben, ist total kompliziert und irre teuer. Also müsste ich doch arbeiten. Dann wieder ist es langwierig und findet zu Tageszeiten statt, zu denen ich ganz bestimmt arbeiten muss. Welcher Chef sucht einen Lehrling, der ihm gleich bei Arbeitsantritt eröffnet, dass er aber dummerweise jeden Freitag am hellichten Nachmittag zum Therapeuten verschwinden muss??"

"Ganz langsam, Jin. Du warst gestern sehr in dich geklappt, deshalb hast du mich vielleicht nicht richtig verstanden. Ich glaube nicht, dass dir eine Therapie neben einer Ausbildung helfen würde. Wir müssen die Reihenfolge verändern. Mein Vorschlag ist: Du bleibst weiter hier als Koch angestellt, bist darum krankenversichert, lebst hier, wo du dich sicher fühlst und nie alleine bist, gibst deiner Seele die Zeit, stärker zu werden und zu heilen. Ich helfe dir beim Papierkram und bei der Suche nach einem wirklich zu dir passenden Therapeuten, und falls das ein Privatarzt sein sollte - denk einfach nicht drüber nach. Kannst du das annehmen?"

Jins Augen werden groß, staunend zieht er die Stirn kraus und sieht mich an.
"Du ... willst mir eine ... teure Therapie bezahlen? Spinnst du?"
"Nein, ich spinne nicht. Ich habe gestern gesagt: ich will dir die bestmögliche Therapie beschaffen. Wenn wir bei der Suche erfolgreich sind, kann das genauso gut ein ganz normaler Kassenarzt sein. Oder auch nicht, das ist egal. Bitte denk nicht ans Geld. Deine Seele, du Mensch Kim Seokjin bist wichtiger. Jedenfalls mir. Und hoffentlich bald auch wieder dir."
Die Sturmwolken auf seiner Stirn lösen sich ein bisschen auf.

"Das wäre so toll. Ich ... Wenn ich das richtig verstanden habe auf diesen ganzen Ratgeberseiten ... dann ist eine wirksame Therapie seelische Schwerstarbeit, und es reißt einen dabei immer mal wieder von den Beinen. Ich wüsste nicht, woher ich die Kraft für beides aufbringen sollte."
"Sollst du gar nicht. Das Kochen hier macht dir Spaß, findet dankbare Abnehmer, hier sind jederzeit treue Helfer und Zuhörer, es ist ein guter Ausgleich zur Seelenwühlerei und hält dich in einer Art geregeltem Alltag fest in der Realität verankert."

Taehyung piept mich an.

"Bin mit Jimin unterwegs. Hab mich getraut zu fragen. Er will drüber nachdenken, ob er am Mittwoch mal mit zur Villa kommt. Wäre doch cool, wenn er den nächsten Schritt schaffen würde. Könnte ihn jemand nach Hause fahren hinterher?"

Ich antworte sofort.

"Klar mach ich das. Das Timing kriegen wir schon hin."
"Genial. Heute Abend sind die Stoßdämpfer dran. Ich muss morgen erst ab Mittag arbeiten."
"Stoßdämpfer? Na dann ... viel Spaß!"

Taehyung ist so mutig. Hoffentlich kann Jimin das aushalten. Das wäre ein großartiger Schritt.

Jin war noch bei mir sitzen geblieben und hatte über die Schulter mitgelesen.
"Manchmal wache ich nachts auf und denke, ich träume bloß. Jeongguk hat seinen Bruder und eine Lehrstelle. Taehyung hat seine Familie und eine Chefin, die ihm alles ermöglichen will. Namjoon hat einen vernünftigen Chef, einen neuen Bewährungshelfer und eine tolle Freundin obendrauf."
Er lächelt mich verschmitzt an.

"Jimin hat einen bedingungslos treuen Freund. Ich bekomme Unterstützung und Halt für eine Therapie und für den Abschluss meiner Lehre. Hobi hat aus seinem alten Berufswunsch einen neuen gemacht und auch schon eine Chance, seinen Traum zu leben. Du hast aus Chaos und Zerstörung in uns und um uns herum neue Ideen und Möglichkeiten hervorgelockt. Du glaubst nicht, wie lange unsere Leben ausgesehen haben wie verkorkste "Plan B" - zu nichts zu gebrauchen. Und jetzt ist bei uns allen der Plan B das beste, was uns passieren konnte."

"Jin?"
"Ja?"
"Bitte vergiss nicht: ich bin keine Heilige. Ich bin ich und lerne mich grade selbst erst neu kennen. Nur, weil ihr alle seid, wer ihr seid, und mitbringt, was ihr in euren Leben eingesammelt habt - weil ihr ihr seid, konnte das Zusammenspiel zwischen uns zu einer so tollen Gemeinschaft und zu so tollen Veränderungen führen. Ich habe nicht gezaubert. Ich habe Impulse gegeben, die zu euch gepasst haben und deshalb aufblühen konnten. Ihr hättet genauso gut einfach auf nimmerwiedersehen irgendwo in Seoul verschwinden können, als ich aufgetaucht bin. Dann hätte ich stumpf vor mich hin saniert und wüsste wahrscheinlich immer noch nicht, wo meine persönliche Reise hingehen soll. Ich habe euch genauso gebraucht und brauche euch genauso, wie ihr mich."

Namjoon setzt sich zu uns und hört einfach zu.
"Deshalb ist es mir auch völlig egal, was wie viel kostet. Ich weiß, dass sich das fast niemand leisten könnte, sein Geld so mit vollen Händen auszugeben. Aber ich werfe es ja nicht für Schnickschnack raus. Oder nur für mich. Ich gebe mein Geld, weil ich in anderen Währungen rechne. Jede Träne, jedes Häppchen Selbstüberwindung, jeder erfüllte Traum, jede Erkenntnis, jedes Füreinandereinstehen, Wachsen und Versöhnen sind für uns hier die wichtigste Währung, die wir haben. Ihr werdet alle später Katalysatoren für diesen guten Zweck sein und wiederum anderen helfen - jeder auf seine Art."

Joonie nimmt mich in die Arme.
"Ich bin froh, dass du keine Heilige sondern eine von uns bist. Du bist unser Glückskeks, weil du mit uns auf Augenhöhe stehst. Ich hätte mich nie getraut, dich zu küssen, wenn ich dafür aus meiner persönlichen Gosse bis auf deinen hohen Sockel hätte klettern müssen."
Jin und ich prusten gemeinsam los. Aber irgendwo bleibt mein Hirn hängen und stolpert.
"Glückskeks? Solange ihr nicht versucht, mich zu zerbrechen und aufzuessen ...
Namjoon kuckt empört, zwinkert mir aber dabei zu.
"Aufessen! Wir sind doch keine Kannibalen."
"Und was heißt überhaupt 'deinen Sockel'? ICH bin da nicht raufgeklettert. Den könnt ihr gleich wieder einreißen, 'euren' Sockel."
Ich bin lauter geworden, als ich wollte. Das Lächeln klebt mir noch im Gesicht, aber es fühlt sich falsch an. Ein bisschen gespielt, ein bisschen ehrlich empört stehe ich auf und gehe raus. Ich mache mein Handy ganz aus und renne einfach los.

Der Erkerturm mit seinem neuen Dach sieht noch fremd und ungewohnt aus. Ich werde langsamer, streife durchs kurze Gras drumrum nach hinten in den Park. Ich schlendere durch den wilden Garten und atme tief durch. Der lange heiße Sommer ist endlich vorbei, die Luft ist angenehm, es ist Indian Summer - diese magische Stimmung zwischen Sommer und Herbst, die immer nur ein paar Tage anhält und sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Ich freue mich an den Farben, dem Rascheln des Grases unter meinen Füßen, dem Summen von Bienen und noch so vielen Geräuschen der Natur, denen ich als Kind stundenlang zugehört habe.
allmählich beruhige ich mich - und merke dabei erst jetzt so richtig, wie sehr mich das Ende unseres Gesprächs aufgewühlt hat.

Was hat mich eben so gestört, dass ich sofort davonlaufen musste? Die Jungs haben doch nur rumgealbert, um nach dem vorangegangenen Gespräch wieder zurück in die Leichtigkeit zu finden. Andererseits - was meinte Namjoon mit dem Wort 'Sockel'? Dass sie mich mögen, weil ich ihnen helfe, ist mir schon klar. Aber ich möchte nicht auf irgendeinen Sockel! Ich möchte eine von ihnen sein. Ist das ihre Art, mir zu sagen, dass ich eine nette Sponsorin, aber eben NICHT eine von ihnen bin?

Was geht da grade in meinem Kopf ab??? Mindestens für Namjoon bin ich ja wohl keine Sponsorin sondern seine Freundin. ... Oder? ... Das Ding mit dem Sockel, ... das kam von ihm! Will er deswegen nicht für die Stiftung arbeiten, damit er sich beizeiten einfach abseilen kann?
Ich dreh gleich durch. Das ist doch alles Unsinn! Wir waren grade zusammen in Berlin miteinander. Ich bilde mir seine Zuneigung doch nicht ein. Und meine auch nicht. Wo kommt dieses Misstrauen auf einmal her!?!

Mutlos und verwirrt setze ich mich an Ort und Stelle auf den Boden, lehne mich an einen Baum und schließe die Augen. Meine seltsamen Gedanken zerren mich innerlich hin und her. Ich fühle mich atemlos und erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Ich möchte so gerne einfach aufhören zu denken, aber meine Ängste und Zweifel geben keine Ruhe. Und um dem ganzen Schlamassel die Krone aufzusetzen, fühlt es sich an, als ob ICH die ANDEREN verrate. Ich presse mir die Hände auf die Ohren, möchte ganz laut über diesen Sturm drüberschreien. Aber ich gebe keinen Laut von mir. Ich kann nur noch aushalten, den Sturm über mich hinweg ziehen lassen und ihn hoffentlich unbeschadet überstehen.

"Nelli? Liebes, wach auf und lass mich dir helfen."
Von ganz weit weg höre ich eine sanfte Stimme.
"Wach auf, Liebling. Ich bin da."
Jemand richtet mich auf, drückt mich an sich und wiegt mich hin und her. Nur ganz langsam kommt mein Bewusstsein in der Gegenwart an. Ich klappe die Augen auf und finde mich in Namjoons Armen wieder, der mich auf seinen Schoß gezogen und sich an den alten Baum gelehnt hat. Sein Gesicht ist besorgt, seine Stimme ängstlich, sein Blick sucht mein Gesicht ab.
Ich schaue mich um und stelle fest, dass ich in den letzten Monaten noch nie so weit in den verwilderten Park hinein gegangen bin. Durch die Bäume hindurch kann ich sehen, dass wir uns ein ganzes Stück oberhalb der Villa befinden. Ich lasse meinen Kopf gegen seine Schulter fallen und spüre, wie er mich sicher hält.

"Warum weinst du, Nelli? Habe ich vorhin was falsches gesagt? Oder ist irgendwas anderes passiert? Ich wollte dir nachgehen, aber du warst sofort wie vom Erdboden verschluckt. Nur deine Handtasche und dein Auto waren noch da. Ich hab mir echt Sorgen gemacht."
Ich kuschele mich noch mehr in seine Arme und sage kein Wort. Ich weiß doch selbst nicht, was los ist. Dass mir die ganze Zeit Tränen übers Gesicht laufen, spüre ich erst jetzt. Nur allmählich dringt mir wieder ins Bewusstsein, worüber wir vorhin geredet hatten und wie das dann in meinem Kopf alles ins Rutschen kam.

"Nein, Joonie, nein, du hast nichts falsch gemacht. Ich kann es selbst noch nicht greifen oder erklären. Aber dich trifft keine Schuld. Hältst ... kannst du mich einfach noch ein bisschen festhalten?"
Schweigend sitzen wir miteinander unter dem Baum, bis meine Tränen weniger werden und meine Gedanken endlich wieder klarer sind.
"Ich ... glaube, ich hab da vorhin was in den falschen Hals gekriegt. Aber ich kapier noch nicht, was."
"Lass dir Zeit."

Nur stockend und furchtbar durcheinander erzähle ich Namjoon von meinen wirren Gedanken und Ängsten. Er hört aufmerksam zu und küsst mir ab und zu die erneut laufenden Tränen aus dem Gesicht.
"Und ... und ... Joonie - wie hast du das gemeint vorhin, mit dem Sockel?"
"Hat dich das Wort so erschreckt? Du hast sogar im Schlaf geweint. Eigentlich wollte ich dir damit sagen, dass du für mich eben nicht auf einem Sockel stehst. Falsche Verehrung wäre ganz ungesund für unsere Liebe. Nein, das Tolle ist grade, dass wir zwei auf Augenhöhe sind. Kannst du mir das glauben?"
Kann ich. Und das tut gut!

Mit einem zufriedenen Seufzer schlinge ich meine Arme um seinen Bauch und drücke ihn einmal.
"Ja. Kann ich, und will ich. Danke! Du bist wunderbar, Joonie."
Namjoon atmet tief durch.
"Dann bin ich beruhigt. Hunger? Ich sollte jedenfalls vor der Arbeit richtig was essen. Lass uns zurückgehen."

Wir rappeln uns auf und spazieren den Hang runter. Ich staune, wie weit ich gelaufen bin vorhin. Bald haben wir den vollen Blick auf die Villa. Das Haus sieht seltsam aus. Voll eingerüstet, wieder verputzt, aber noch nicht gestrichen, ein halbes Dach, Fenster stehen noch beim Baumaterial, die kommen erst demnächst rein. Zur Zeit wird die große Terrasse von Grund auf saniert, bekommt nun eine geschwungene Form und mehrere "Etagen", so dass verschiedene Sitzinseln zum Relaxen entstehen, die große Fläche am Haus aber erhalten bleibt.

"Weißt du, was mich ziemlich beeindruckt, Nelli?"
"Na?"
"Du hast eine Fülle von Erinnerungen an dieses Haus, du bemühst dich sehr um Autentizität. Aber gleichzeitig bist du bei deinen Entscheidungen nicht festgefahren. Du klebst nicht am Alten. Es scheint dir sogar leicht zu fallen, alles mögliche so zu verändern und zu modernisieren, dass die Villa bereit ist für die Zukunft. Du machst das alles hier mit Herz und Verstand. Und das ist bewundernswert."
"Danke! Ich habe am Anfang eine Weile gebraucht, mich reinzufinden. Aber ich habe wirklich gute Fachleute im Team, und das macht es mir leicht, Ideen und Ratschläge anzunehmen. Ich habe bei allen Handwerkern das Gefühl, dass sie mir wirklich zuhören und auch hören, wo mein Herz schlägt. Dr. Lee, die den Stuck so schön gestaltet. Hoseok, der nachfragt, bevor er was wegwirft. Diese Vertrauensbasis macht es mir leicht, die alten Dinge loszulassen."

Die Blicke aller Jungs sind besorgt, als wir den Gemeinschaftsraum betreten. Also beruhige ich sie schnell wieder.
"Macht euch keine Sorgen. Ich bin okay. Ich hatte vorhin nur plötzlich Kopfkino. Und Namjoon hat mich dann ja gefunden."
Hoseok kommt zu mir und nimmt mich kurz in die Arme.
"Weißt du, was mir grade eingefallen ist? Eigentlich wollten wir doch mal Märchenstunde mit deiner Lebensgeschichte halten. Sollten wir das demnächst mal machen?"
Namjoon strahlt.
"Au ja. Aber woran ist es bisher denn gescheitert? Das muss vor meiner Zeit gewesen sein."

Kurz entsteht betretenes Schweigen, was er auch sofort registriert. Namjoon verspannt sich spürbar. Ich drehe mich zu ihm um, lege ihm meine Arme um den Hals und flüstere ihm ins Ohr.
"Nicht erschrecken, Schatz! Ich glaube inzwischen, dass es genau gut so ist. Wir wollten an dem Abend erzählen, als du das erste Mal hier warst."
"Autsch! Das tut m..."
"... nicht leid, weil du das nicht wissen konntest. Es ist vorbei, Joonie. Das Schöne ist: jetzt kannst du dabei sein."
Ich schaue ihm tief in die Augen und gebe ihm einen Kuss. Ich will sicher sein, dass er mir das auch wirklich so abnimmt.

Gemeinsam gehen wir in die Küche und helfen Jin, das Abendessen vorzubereiten. Yoongi kommt nach Hause, steckt die Nase durch die Küchentür und verschwindet wortlos wieder. Bis Taehyung nach Hause kommt, dauert es sicher noch eine Weile. Also holt Jeongguk Yoongi her, wir setzen uns an den Tisch und lassen es uns schmecken. Jin hat heute mit verschiedenen Fleischsorten und dazu passenden Saucen experimentiert. Wir schwelgen in Aromen und Wohlgerüchen, bis wir fast platzen.
Das war jetzt genau das richtige. Gemeinschaft und leckeres Essen helfen doch immer wieder am besten gegen Kopfkino und Traurigkeit. Wenn ich an diesen ersten Abend zurückdenke - Namjoon ist heute ein völlig anderer Mensch! Da war so viel Schönes und Gutes verschüttet in ihm, was jetzt frei werden kann. Das macht mich richtig glücklich.

Da es schon relativ spät ist, brechen Namjoon und ich gemeinsam auf. Wir sind noch nicht zur Tür raus, da bimmelt das Gemeinschaftshandy. Hoseok geht an den Apparat. Es ist Taehyung.
"Ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass ich heute Nacht hier penne. Bei Herrn Kang. Wir kommen gut vorwärts mit dem Bus. Ich komm dann morgen Vormittag, um mich wieder erkennbar in einen Menschen zu verwandeln. Und am Mittwoch kommt Jimin mit zu uns. Ob er zum Essen bleibt - da wollte er sich nicht festlegen. Aber er kommt. Ich bin total froh."
"Das klingt doch gut! Schöne Grüße, wir freuen uns auf ihn."
Ja, das ist wirklich eine gute Nachricht. Wenn Jimin wirklich bald vom Schrottplatz weg muss, sollte er vorher bewusst an andere Orte gegangen sein, damit er Zeit hat, sich zu entscheiden und sich umzugewöhnen.

Ich setze Namjoon wie immer an seiner Tanke ab. Forschend mustert er mein Gesicht.
"Bist du wirklich wieder okay? Kann ich dich alleine nach Hause fahren lassen?"
"Ja. Ja klar! Alles gut. Wir haben das ja geklärt. Du warst so wunderbar fürsorglich. Und den Rest hat wie immer unsere tolle Gemeinschaft erledigt. Hab eine gute, eine ruhige Nacht, mein Schatz!"
Joon entspannt sich, steigt aus und winkt mir noch einmal zu. Mit dem wohligen Gefühl von warmer Liebe und Geborgenheit schaue ich ihm nach, bis er im Tankstellenshop verschwunden ist.

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28.2.2023    -    24.3.2024

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