51 - Land unter

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Aus purer Erschöpfung verbringen Namjoon und ich den Mittwoch- und Donnerstag Abend faul in meiner Wohnung. Wenn wir nicht für die Stiftung dringende Telefonate erledigen oder Absprachen treffen müssen, bewegen wir uns so wenig wie möglich, gammeln, spielen, lesen oder schweigen miteinander und genießen, dass uns hier niemand stört. 

Als Joonie Donnerstag Nacht einen Blick aus dem Fenster wirft, fröstelt er schon mal in vorauseilendem Gehorsam. Es schüttet wie aus Eimern und stürmt, was der Himmel hergibt. Ein kurzer Test auf dem Balkon macht außerdem klar, dass auch die Temperaturen nochmal abgestürzt sind.
Der Taifun hat offensichtlich das "nur links abbiegen erlaubt"-Schild übersehen und ist wie seine meisten Vorgänger jetzt schon schnurstracks auf dem Weg nach Jeju Iland. Danach wird er sich durch die Meeresstraße zwischen Korea und Japan quetschen und dabei so richtig zeigen was er drauf hat. Schnell machen wir den Computer an.

Für morgen wird angesagt, dass nach den neuesten Messungen wie üblich vor allem Busan und Ulsan betroffen sein werden, dass die Ausdehnung des Taifuns aber 400 Kilometer misst und darum alle Teile des Landes betroffen sein werden. Extreme Regenfälle und Böen inbegriffen.

Ich möchte Namjoon am liebsten gar nicht gehen lassen. Immerhin beschließt er nach diesen Hiobsbotschaften, dass er auch morgen früh hierher zum Schlafen kommt. Der Weg ist einfach kürzer als rauf auf den Berg.

Ich schlafe unruhig in dieser Nacht. Selbst hier oben im fünften Stock höre ich von draußen heulende Winde, ächzende Bäume und umkippende Mülltonnen. Immer wieder werde ich wach, weil ich von absaufenden Tankstellen und lawinenartig rutschenden Berghängen träume. Als um 5.30 mein Wecker klingelt, fühle ich mich wie gerädert. Der Radiosprecher verkündet mir, dass in Seoul die ersten Straßen gesperrt, Bäume entwurzelt, Unterführungen geflutet und Dächer abgehoben sind.

Auf Jeju haben 60.000 Haushalte keinen Strom. In Busan sind die Brecher an den Deichen und Hafenanlagen höher als die Leuchttürme.

In Ulsan wollten neun Menschen ihre Autos in einer Tiefgarage in Sicherheit bringen. Nur zwei haben es überlebt.
Was bin ich froh, dass Jimin jetzt bei der Pförtnerei ist! Wobei - wer weiß, wie es grade an der Villa und im Park aussieht.

Müde und energielos bereite ich mich auf meinen Arbeitstag vor. Es wird gar nicht richtig hell heute unter der tief hängenden Decke dunkler Sturmwolken und durch den unaufhörlich gegen die Fenster schlagenden Regen.
Mit einem Mal steht ein triefend nasser Namjoon vor mir. Busse fahren nicht mehr, U-Bahnabgänge sind zu Wasserfällen mutiert, sein Chef hat ihn aufgefordert, die Tanke zu schließen und sich in Sicherheit zu bringen.

Also ist er fast eine Stunde lang bis zu mir gelaufen, zum Teil knie- bis hüfthoch im eiskalten Wasser.

Ich schiebe ihn ins Bad für eine heiße Dusche und lausche den nächsten Nachrichten. In den Stadtteilen werden Notunterkünfte in Turnhallen eingerichtet. Alle Schulen und Universitäten bleiben heute dicht, der ÖPNV wird fast komplett eingestellt, alle Flüge im ganzen Land sind gestrichen. Erdlawinen rauschen die Hänge der Berge runter, weil der Regen den Boden so aufgeweicht hat, und die Autobahnen erkennt man nur noch auf Luftaufnahmen - anhand der Baumreihen an den Straßenrändern und der schwimmenden Autos.

Der aufgetaute Namjoon krabbelt müde in mein Bett, das Intranet meiner Firma fordert mich auf, zu Hause zu bleiben - und irgendein Gedanke spukt durch mein Gehirn, den ich nicht greifen kann.

Äh ... ERDLAWINEN!?!
Hastig greife ich nach meinem Handy und bimmele Hoseok an. Der ist schon wach, geht sofort ran und redet ohne Begrüßung los.
"Mach dir keine Sorgen, Nelli. Hier ist alles in Ordnung. Die Villa ist unversehrt, Waggons, Pförtnerei, Bus und Containerbüro stehen fest, die morschen Bäume hatten wir im Sommer schon gefällt, die Wurzeln der stehenden Bäume halten den Hang gut fest, Baumaterial steht ja eigentlich keines mehr draußen rum. Und Jimin ist eben mit Tae und Guk einmal zur Kontrolle übers Gelände gestreift. Es ist alles im grünen Bereich."
"Gott sei Dank! Die haben eben in den Nachrichten was von Erdrutschen erzählt. Das klang echt beängstigend."
"Nee, hier ist alles, wie es sein soll. Jimin ist jetzt bei uns, Jin brutzelt grade ein frühes Frühstück. Da raus geht heute keiner von uns mehr. Hast du was von Namjoon gehört? Der wird nachher Schwierigkeiten haben, herzukommen."
"Hm. Da kann ich Entwarnung geben. Die Tanke ist zu, er ist hierher gelaufen und liegt jetzt schon im Bett. Dann haltet mal weiter die Stellung und mich auf dem Laufenden. Tschüß!"

Jetzt, wo ich mir keine Sorgen mehr um irgendjemand machen muss, setzt sich der Schlafmangel durch. Ich gehe auch einfach wieder ins Bett und schlafe sehr schnell ein.
Wenigstens ein paar Stunden Erholung sind mir vergönnt. Als ich gegen 11.00 Uhr wach werde, schleiche ich mich raus und höre mir die nächsten Nachrichten an. Ganz Korea und die Westküste von Japan sind mittlerweile Katastrophengebiet. Besonders hart trifft es aber tatsächlich die Küstenstädte und alle bergigen Regionen. Umstürzende Bäume und Schlammlawinen machen die Landstraßen zu Fallen, Bäche und Flüsse sind zu reißenden Strömen angeschwollen.

Der Han ist kurz davor, über die Ufer zu treten und den anliegenden niedrigen Stadtteilen einen Besuch abzustatten.
So geht es alle halbe Stunde von vorne los, bis mit einem Mal der Strom weg ist. Mitten im Satz verstummt der Nachrichtensprecher und hinterlässt eine gespenstische Stille in meiner Küche.
Na, wunderbar! Mein Schlafrhythmus, meine Laune, meine ToDo-Liste, meine Nerven - nichts geht mehr. Gut, dass Namjoon hier und alle Jungs in Sicherheit sind.

Ich telefoniere mit So-Ra, die Homeoffice macht, zoome übers Tablet mit ein paar Kollegen, um ein betroffenes Meeting zu improvisieren, maile mit Herrn Lee und den Handwerksbetrieben auf dem Handy hin und her.

Der Sturm fegt mit gleichbleibender Stärke durch die Täler und Hochhausschluchten der Stadt. Gangnam wird teilevakuiert. Irgendein Regierungssprecher hat tatsächlich die Zeit und die Nerven, die Bevölkerung beruhigen zu wollen, indem er verkündet, dass in Zukunft alle Wohnungen in Kellern a la "parasite" verboten sein werden.

Ein allgemeines Fahrverbot soll dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen von Bäumen oder Straßenlaternen erschlagen oder Autos in den Han gespült werden. Die Rettungskräfte sind sowieso schon völlig überfordert und sollen wenigstens nicht auf verstopften Straßen hängen bleiben.

Na gut. Dann eben ein entspanntes langes Wochenende ganz ohne Fahrerei, und mit sehr viel Frischluft. Verrücktes Wetter. Eigentlich ist es doch in Seoul im Sommer schwül und nass und im Herbst dann moderat und trocken. Dieses Jahr ist alles anders.

Mein Blick fällt mal wieder aus dem Fenster zu den jagenden Wolken und den erstaunlichen Dingen, die um den fünften Stock drumrum durch die Luft gewirbelt werden. Eine leere Gemüsetüte ist hier hochgeweht worden und hat sich nun in dem kleinen Windwirbel auf meinem Minibalkon gefangen. Rauf und runter und immer im Kreis zappelt das orangene Knisterding und kann sich nicht mehr übers Balkongeländer befreien.

Der Mensch hat wirklich gründliche Arbeit geleistet bei der Zerstörung unserer Welt. Meine viele Fahrerei ist eigentlich auch der reinste Wahnsinn. Ich liebe diese Wohnung. Aber vielleicht sollte ich doch einfach in die Villa ziehen. Oder in die Pförtnerei. Obwohl ... dann müssten die Jungs raus. Und das will ich ja auch nicht. Diese WG ist so besonders! Ich kann ja in den zweiten Waggon ziehen. Hahaha.

Da ich mich auf Job- und Bauakten sowieso nicht konzentrieren kann, mache ich es mir gemütlich.
Tee. Warmer Tee wäre jetzt was Feines. Aber wie ohne Strom? Hm. Ich müsste doch irgendwo noch einen Campingkocher haben.
Nach einigem Suchen in den Tiefen meiner Küchenschränke ist das gute Stück gefunden und kocht mir Wasser für meinen Tee. Damit hocke ich mich mit einer Decke aufs Sofa und schaue mir alte Fotoalben und Tagebücher an. So eine Zwangspause ist ideal, um ein bisschen zu reflektieren und mich zu erden. Ich nehme mir allerdings fest vor, mich auf die positiven, warmen, liebevollen Momente zu konzentrieren.
Onkel Harry hat mit mir als Kind alle koreanischen und alle deutschen Feste ausgiebig gefeiert. Da ist bestimmt viel Positives zu finden. Ich schnappe mir die Fotoalben und blättere drauflos. Geburtstage, Ostereiersuche und Besuche vom Nikolaus. Neujahr haben wir jedes Jahr zweimal gefeiert - an Silvester mit Raketen, irgendwann im Frühjahr im Hanbok. Viele, viele schöne Erinnerungen tauchen auf, erfüllen mich für einen Moment und entschweben dann leise zur Decke, um dem nächsten Bild Platz zu machen.

Bei Bildern von einer Faschingsfeier halte ich an. Als ich acht Jahre alt wurde, hatte ich alle meine Freundinnen aus der Schule eingeladen. Jede sollte sich so verkleiden wie die Lieblingsheldin aus einem Film oder einem Buch. Die Mädchen hatten das aber missverstanden und erschienen darum alle in ihrem schicksten und unbequemsten Hanbok. Nur ich bin dazwischen als Pippi Langstrumpf rumgehüpft, und So-Ra war immerhin eine Märchenprinzessin. 
Der Nachmittag hat sooo Spaß gemacht! Onkel Harry war als Clown verkleidet, hatte Berge von bunt verzierten Muffins gebacken und den Tisch unter Schokoküssen, Bonbons, Schokolade und Gummibärchen förmlich begraben. Überall hingen Luftschlangen. Wir hatten ALLE Konfetti in unseren hübschen Frisuren und haben viel, viel gelacht.

Ich will grade weiterblättern, da erschrecke ich zutiefst, denn direkt hinter mir hockt auf einmal Namjoon und spricht mich leise an.
"Was ist das für eine Feier, ..."
"Huch!"
"... und was hast du da für komische Klamotten an auf dem Bild?"
"Schleich dich doch nicht so an! Da kriegt man ja 'nen Herzinfarkt."
"Entschuldige, Liebes. Ich bin zwar noch grottenmüde, aber der Sturm hat mich geweckt. Du warst so vertieft, das hat mich neugierig gemacht. Erzählst du mir was zu den Bildern?"
"Na klar - dann setz dich."
Ich klopfe neben mir aufs Sofa. Namjoon kommt rum, krabbelt mit unter meine Decke und kuschelt sich halb liegend an mich.
"Was habt ihr da gefeiert?"
"Das ist ... Wie erklär ich das? Das ... Mist."
"So kompliziert oder so seltsam?"

"Also, pass auf. In Mitteleuropa gibt es die üblichen vier Jahreszeiten. Im Winter sind die Tage deutlich kürzer als im Sommer. Schon die Menschen vor mehreren tausend Jahren haben sich vor der Dunkelheit und Kälte gefürchtet und sich am Ende des Winters heftig nach Frühling und Wärme gesehnt. Später entstand dann der christliche Brauch, vor der Fastenzeit, also vor den sieben Wochen vor Ostern, noch mal so richtig die Sau rauszulassen. Der Brauch, sich zu verkleiden, entstand wahrscheinlich aus den fratzenhaften Masken, die zur Abschreckung böser Geister dienten.
Heute ist es manchmal sogar politische und Gesellschaftskritik für Erwachsene. Für die Kinder sind es ein paar ausgelassene Tage mit Kostümen und Süßigkeiten. Ein bisschen wie beim Karneval in Venedig oder Halloween in Amerika."

"Und wer bist du da?"
Ich zögere einen Moment. Dann hole ich aus meinem Bücherregal aus der Kindheitsecke ein völlig zerfleddertes Buch. Und eine DVD.
"Es gab eine schwedische Schriftstellerin, die für ihre Kinder Geschichten erfunden und später aufgeschrieben hat. Die Frau hieß Astrid Lindgren, und ihre bekannteste Figur ist dieses Mädchen - Pippi Langstrumpf. Sie war in einer Zeit, als Mädchen noch brav und still, gehorsam und hausfraulich zu sein hatten, DAS Vorbild für alle europäischen Mädchen. Frech, klug, selbstbewusst, berstend vor Phantasie und stark wie ein Riese. Ich habe die Bücher und Filme geliebt. Ich wollte sein wie sie, wollte ein Pferd und einen Affen haben, in einem Flaschenbaum leben und Spunks jagen."
"Spunk??? Flaschenbaum? Ich verstehe gar nichts."
"Magst du einen der Filme anschauen?"
"Warum nicht? Ich sollte vorher meinen Chef anrufen und rausfinden, wie es heute an der Tanke weitergeht."
Namjoon telefoniert und erfährt, dass er frei hat, bis sein Chef sich bei ihm meldet, weil man die Lage noch überhaupt nicht abschätzen kann. Ich hole die DVD aus der Hülle, stelle aber schnell fest, dass wir immer noch keinen Strom haben.
Hoffentlich geht das jetzt nicht tagelang so weiter!

Wir fassen uns in Geduld. Die Küche bleibt natürlich auch kalt, aber wir improvisieren uns was zu essen, damit wir nicht von unseren knurrenden Mägen genervt werden. Dann kuscheln wir uns wieder zusammen aufs Sofa und tauchen ab in die Welt eines kleinen schwedischen Dorfes in den sechziger Jahren. Ich lese ihm die Geschichte nämlich einfach vor, dafür braucht man keinen Strom. Allerdings muss ich spontan übersetzen, denn das Buch ist auf deutsch. Aber so kann auch Namjoon der frechen Göre und ihren verrückten Einfällen gut folgen. Ich dagegen muss manchmal laut auflachen, denn ich habe auch die Filme als Kind immer nur auf deutsch angesehen. Jetzt muss ich zum ersten Mal Worte im Koreanischen finden, die den Sprachwitz gut wiedergeben. Das ist gar nicht so einfach. Sprache transportiert eben doch Kultur. Vieles kann man ja nicht richtig übersetzen, weil es kulturell bedingt gar keine passenden Wörter in der anderen Sprache gibt. Aber immerhin reicht es, dass Joon kapiert, was ein Flaschenbaum und ein Spunk sind.
Wir haben sehr viel Spaß miteinander. Später erzählt Namjoon mir von seinem Lieblingskinderbuch, einer Piratengeschichte mit einem pfiffigen Jungen.

Dann kuscheln wir wieder nur. Nach einer Weile rutscht Namjoon mit dem Kopf auf meinen Schoß. Ich kraule ihn im Nacken, was bei ihm ein wohliges Brummen auslöst. Und schließlich döst er nochmal ein. Also suche auch ich mir eine bequeme Position, klappe die Augen zu und genieße die entspannte Nähe und Wärme. Einfach abhängen und Kraft tanken. 

Ich muss wohl auch eingeschlafen sein, denn das penetrante Bimmeln meines Handys holt mich von ganz weit weg. Es dämmert bereits wieder draußen. Namjoon schaut mich verschlafen und fragend an. Die Nummer auf dem Display kenne ich nicht.
"Hallo?"
"Nelli? Hier ist ... Yoongi."
"Yoongi! Wo steckst du? Schön, dass du dich meldest."
"Naja ... schön. Ich ... ich stehe vor deiner Haustür und versuche, nicht weggeweht zu werden. Darf ... darf ich reinkommen?"
"Ach, du liebes Bisschen - natürlich. Ich mach dir sofort auf."
"Es tut mir leid, dass ich dir so eine Mühe mache."
"Quatsch, das macht doch keine Mühe."
"Na ... wenn der Strom noch weg ist ..."
"Egal. Ich komm runter."

Aber Namjoon ist schon in Schuhen und Jacke.
"Ehrensache - das mache ich. Ich wusste bis jetzt grade nicht, WIE sehr ich ihn vermisse."
Und schon ist er zur Wohnungstür raus. Es dauert tatsächlich eine Weile, bis die beiden oben sind. Namjoon trägt einen triefenden, vollgepackten Rucksack. Und Yoongi trägt er mehr oder weniger auch, denn der ist abgemagert, durchgefroren, nass bis auf die Knochen und völlig erschöpft.
"Um Himmels Willen, wie siehst du denn aus? Geh erstmal ins Bad, heiß duschen. Noch müsste heißes Wasser da sein. Trockene Klamotten finden wir schon. Du gehst heute nirgendwo mehr hin!"
Namjoon lässt einfach alles fallen - Rucksack, Jacken, Schuhe - und schiebt Yoongi ins Bad. Der kann kaum alleine stehen und lässt dankbar alles mit sich machen. Während ich von drinnen das Wasser der Dusche rauschen höre, suche ich nach warmer, bequemer Kleidung und beziehe eine Gästedecke.

Inzwischen ist es so dämmrig in der Wohnung, dass ich ein paar Kerzen und Glasvasen raussuche und überall aufstelle. Ich koche frischen Tee und warte ab.
Was Yoongi wohl widerfahren ist, dass er so furchtbar aussieht? Das ist doch nicht nur jetzt durch den Sturm gekommen! Hoffentlich erzählt er uns das gleich.
Als die beiden aus dem Bad kommen, verfrachten wir Yoongi gleich in Decken aufs Sofa. Jetzt, wo er in Sicherheit ist, fällt er praktisch in sich zusammen und rührt sich nicht mehr. Namjoon packt den Rucksack aus und hängt alles zum Trocknen auf Ständer, damit es nicht schimmelt. Interessanterweise kommen daraus ein Anzug, Hemd, Schlips und gute Schuhe zum Vorschein. Ich mache mir echt Sorgen um Yoongi.
"Was brauchst du jetzt, damit es dir besser geht?"
Seine Antwort verblüfft mich, denn - er lächelt.

"Es geht mir so gut wie seit Monaten nicht mehr, weil ich jetzt mit mir im Reinen bin. Mir hat nur der Sturm so zugesetzt. Vielleicht werde ich auch erstmal krank, weil ich mich seit heute Morgen zu Fuß durch halb Seoul gekämpft habe, um hier hin zu kommen. Zum Teil bin ich durch brusthohes Wasser geschwommen, dann wieder war die Strömung zu stark. Aber ich bin angekommen. Und das tut gut."
"Auwei, das klingt nicht gut. Ich bin froh, dass du hergekommen bist. So können wir uns kümmern.
Nochmal die Frage: was brauchst du jetzt? Trinken? Essen? Wärme? Deine Ruhe? Irgendwelche Medikamente? Sollte jemand benachrichtigt werden?"
Yoongi schüttelt zu allem den Kopf.
"Naja - okay. Was Warmes zu trinken und irgendwas zu essen, dass ich nebenbei im Liegen knabbern kann. Ansonsten möchte ich einfach nur reden und ... mich ... zu Hause fühlen dürfen. ... Darf ich?"
"Blöde Frage - na klar!"
Ich schenke Tee für ihn ein und stelle Wasser und Kekse dazu. Namjoon schaut Yoongi an und schüttelt den Kopf.
"Was 'ne Frage! Du bist so verrückt, Yoongi. Du weißt, wie wichtig du uns bist. Jeongguk und ich verdanken dir so viel! Wo wäre i..."

"Deine Erleichterung freut mich. Nur ... Lass Jeongguk raus. Ja, ich habe ihm geholfen, aber letzten Endes ist es euch zu verdanken, dass daraus nichts Schlimmes wurde sondern er sich weiter stabilisieren konnte. Ich musste ein ganz übles Spiel mit ihm spielen. ... Das ist zum Glück endgültig vorbei."
Ich stutze.
"Endgültig? Was heißt das?"
"Gleich. Mir ist schwindelig."
Erschöpft schließt er die Augen. Wir lassen ihn erstmal was essen und trinken, damit sein Kreislauf sich normalisiert.
Einen Moment lang denke ich schon, dass er einfach eingeschlafen ist. Aber dann öffnet er doch wieder seine Augen und fängt an zu erzählen.

"Nach unseren langen Gesprächen im Krankenhaus habe ich viel nachgedacht und dabei viel begriffen. Sofort war für mich klar, dass ich einen wissenschaftlich fundierten Abschlussbericht mit sehr viel Klartext schreiben und dann sofort aus dem Job aussteigen würde. Ich musste nur rausfinden, was mein neues Ziel sein sollte. Wie ich mit dem erneuten Scherbenhaufen meines Lebens klar kommen sollte. Ich wollte damit nicht mehr alleine sein. Meine Eltern und ich haben jeder einen anderen Weg eingeschlagen, um über die Tragödie hinweg zu kommen. Auf einmal aber fiel mir der Gedanke gar nicht schwer, dass ich mit meinen Eltern zusammen all das Gewesene noch einmal anschauen und dann loslassen wollte.
Ich hab mich am Samstag Morgen bei ihnen gemeldet und offene Türen eingerannt. Sie sind sofort gekommen, waren einige Stunden da, und wir haben alles, alles ausgesprochen."
Ich atme auf.
DAS ist wirklich eine gute Nachricht!

"Sie haben zum Beispiel verstanden, dass ich ein Mensch bin, der viel Zeit für sich braucht. Ich kann nicht gut spontan reagieren oder im Trubel oder in Gruppen Entscheidungen fällen. Wenn ich mich dann sortiert habe, bin ich wieder flexibel und kompromissbereit. Aber ich brauche Zeit dafür.
Meine Eltern haben mich auch nicht gedrängt, wieder nach Hause zu ziehen. Ich habe selbst den Vorschlag gemacht, ob ich mit meinem ganzen Kram bei ihnen unterkommen und den Bericht schreiben darf und dann entscheide, wie es weiter gehen soll.
Also haben sie noch am Samstag meine Sachen aus eurer Garage geholt und meine kleine Wohnung leergeräumt. Es war ja klar, dass ich in dem Zustand erstmal keine Kisten schleppen würde. Und wir wollten Nägel mit Köpfen machen. Der Arzt hat mich am Sonntag nur gehen lassen, weil er das Gefühl hatte, dass ich bei meinen Eltern gut aufgehoben bin."
Eine Weile schweigt Yoongi. Es arbeitet in ihm. Dennoch habe ich nicht den Eindruck, dass ihn etwas quält. Unabhängig von seiner Erschöpfung wirkt er entspannt, zufrieden, tatsächlich mit sich selbst im Reinen.

"Ich brauchte Abstand zu euch, wollte Guk nicht mehr dazwischenfunken. Also bin ich bei meinen Eltern eingezogen und habe gearbeitet, als wäre nichts passiert. Das Institut, mein Projektleiter wusste nur nicht, dass ich nicht mehr im Pförtnerhaus bin. So konnte ich in Ruhe reflektieren, manches nachlesen und einen wirklich ausgefeilten Bericht verfassen. 
Über deinen Brief hab ich mich halb tot gefreut. Es hat mir unendlich viel bedeutet, dass ihr an mir festhalten wollt. Nebenbei habe ich mich von einem Teil meines Hausstandes verabschiedet, damit es bei meinen Eltern nicht so voll ist. Ich habe mein Auto verkauft, mich von technischem Schnickschnack getrennt, so Sachen wie Klamotten und Kram radikal ausgemistet, meine Finanzen geregelt. Back to the roots, so einfach wie möglich leben - das hat mir alles sehr geholfen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.
Und meine Eltern ... Es war ein bisschen wie bei Tae. Oder wie bei Guk und seinem Bruder. Sie waren einfach nur froh, dass wir wieder eine Familie sind. Sie haben mir alle Freiheiten gelassen, mich ein bisschen verwöhnt und mir still den Rücken gestärkt. Das hat sooo gut getan!"
"Das freut mich ganz besonders, Yoongi. Irgendwann müssen Schmerz und Kampf doch mal ein Ende haben!"

Erneute Stille. Yoongi zittert nicht mehr, liegt aber blass und mit geschlossenen Augen da. Auch diesmal schläft er nicht.
"Nelli?"
"Ja?"
"Hast ... du meine Nachricht im Briefkasten gefunden?"
"Erst nicht. Als einfach nur die Klappboxen da standen, war ich erstmal traurig. Aber Namjoon hat dann in meiner Post das Gekritzel auf dem Flyer wahrgenommen. Es hat uns sehr beruhigt und gefreut, dass wir weiter für dich da sein dürfen. Du fehlst einfach. Sogar Guk. Du glaubst nicht, wie oft er in deinem leeren Zimmer steht und auf irgendwas zu warten scheint."
"Echt?"
"Ganz und wahrhaftig echt."

Yoongi dreht den Kopf in meine Richtung und will antworten, aber dann unterbricht er sich selbst.
"Waaa ... schon wieder! Dieser Schwindel nervt. Und ich hab das Gefühl, mein Kopf verglüht. Entschuldigt, Leute. Ich kann nicht mehr denken."
Ich lege ihm meine Hand auf die Stirn und finde meinen Verdacht bestätigt.
"Du hast Fieber. Trink nochmal was und dann versuch zu schlafen. Und wenn du was brauchst, dann ruf nach uns. Wir sind da."
Sein Gemurmel klingt schon ganz undeutlich.
"Danke."
Die Augen fallen ihm endgültig zu. Er bekommt gar nicht mit, dass ich ihm kalte Wadenwickel mache. Sein Geist fühlt sich in Sicherheit, sein Körper macht schlapp und holt sich, was er braucht.

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28.3.22023    -    24.3.2024

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