59 - Gefühls-Puzzle

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"Sagtest du gestern nicht, du wolltest die Pförtnerei ein bisschen adventlich dekorieren? Das ist leider völlig untergegangen bei deiner seelischen Not."
Namjoon schaut sich in meinem Wohnzimmer um.
"Auch hier sieht es noch so gar nicht nach Weihnachten aus. Dabei glaube ich, das würde dir helfen."
"Hm. Aber alleine schaffe ich das nicht. Und das Bisschen, was ich an Schmuck habe, reicht auch nicht für hier und bei euch. Ich habe darum vorgestern noch einiges bestellt."

"Hast du Lust, mir auf alten Fotos zu zeigen, wie ihr früher immer dekoriert habt? Oder würde das zu sehr weh tun?"
Erst zucke ich zusammen, aber dann fühlt es sich auf einmal richtig an.
Ich bin zwar grade zermürbt und wie überrollt von all dem Neuen. Aber vielleicht hat Joon recht, und ich sollte mich grade deshalb an Gewohnheiten und Ritualen festhalten. Damit ich nicht völlig die Balance verliere. 
Ich überlege kurz, welches Album am Erfolgversprechendsten ist, dann greife ich ein Grünes aus dem Regal. Ich habe mich nicht geirrt. Am Anfang feiere ich grade meinen zehnten Geburtstag. Und das letzte Viertel zeigt uns und die Villa in weihnachtlicher Festtagsstimmung.

"Das sieht ja ganz anders aus als das inhaltsleere superglitzerdingeldengelkunstschnee-Weihnachten, das hier immer die Stadt befällt wie ein Virus. Viel ... schlichter. Ist das typisch deutsch? Oder europäisch? Oder christlich? Jetzt hast du mich neugierig gemacht."
Ich lächele und fühle mich wohl.
"Warte. Das Wichtigste überhaupt geht immer und überall."
Jetzt muss ich improvisieren, weil der ganze Weihnachtskram im Auto und die Bestellung noch nicht hier ist. Was ist das Wichtigste am ersten Advent? Advent! Kerzen. Kranz. Hm.
Ich schaue mich um, was mir helfen könnte. 
Ich könnte ...
Ich hole im Schlafzimmer die Kiste mit Herbstdeko vom Schrank, die ich dieses Jahr bei all dem Trubel gar nicht ausgepackt hatte. Darin ist nämlich auch ein aus Weidenzweigen geflochtener Kranz. Den schnappe ich mir und bringe ihn ins Wohnzimmer. In der Küche finde ich eine Kuchenplatte als Unterlage und vier Teelichter.

Fragt sich nur, wie ich die jetzt sicher am Kranz befestigen kann ...
Gläser!
Ich hole vier Cognacgläser aus dem Schrank. Dazu rotes, grünes und ein bisschen goldenes Schleifenband. 
Wenn ich jetzt ...
Mit Paketklebeband befestige ich die Standfüße der Gläser am Kranz.
Nicht schön, aber selten.
Dann drapiere ich die breiten Bänder von unten um den Kranz nach oben und immer drumrum, damit man das Paketband nicht mehr sieht, und binde fette Schleifen um die Stiele der Gläser.

Schon viel schöner. Hab ich irgendwo buntes Papier? Hm. Mein Schreibtisch gibt nicht viel her. ... Aber weiß tuts auch. Hoffentlich krieg ich das noch hin!
Ich schneide mir acht kleine Quadrate, falte sie dreimal und suche mir eine kleine Schere.
Mist! Die Zeiten, in denen ich Weihnachtssterne gebastelt habe, sind lange her.
Also hole ich meine Nagelschere aus dem Bad und probiere einfach drauflos. Vier verschiedene Sternformen gelingen mir schließlich. Ich falte sie auseinander, streiche sie glatt und lege sie zwischen den Gläsern auf den Kranz. Das muss reichen. Teelichter rein.
Fertig!

"Fertig!"
Ich plumpse neben Namjoon aufs Sofa und betrachte stolz meinen improvisierten Adventskranz.
"Dafür, dass ich basteltechnisch so eingerostet bin, ist der nicht schlecht geworden."
Namjoon dreht mich zu sich rum, nimmt mich in die Arme und strahlt dabei, als hätte er im Lotto gewonnen.
"Is was, Schatz?"
"Oh ja. DU bist! Du hättest dir zusehen sollen in der letzten halben Stunde. Ich bin vom Zusehen glücklich und entspannt. Du warst so konzentriert auf dein Werk, und gleichzeitig so leicht und verspielt wie schon lange nicht mehr. Was auch immer dieses Ding ist - es ist wunderschön!"

Ich lasse mich einhüllen von seiner Wärme und denke nach.
Wie um Himmels Willen erklärt man einen Adventskranz?"
"Ich versuche mal, das 'Ding' zu erklären. Es bed..."
Joon schüttelt den Kopf.
"Shhhhhht! Es geht grade nicht darum, dass ich da was verstehe. Es geht darum, dass es dir gut getan hat. Du hast dich fallen lassen, entspannt, deiner Kreativität freien Lauf gelassen. Daran zu werkeln, hat dich glücklich gemacht. DAS ist das Schöne. Ich habe die ganze Zeit hier gesessen und war einfach nur fasziniert, dir dabei zuzusehen, wie du immer glücklicher geworden bist."
Ich bin ehrlich verblüfft.
Recht hat er. Ich sollte es genießen.
Ich zünde das erste Teelicht an, kuschele mich auf Namjoons Schoß, nehme seine wohltuende Nähe wahr und summe leise "oh Tannenbaum" vor mich hin. Was anderes fällt mir so schnell nicht ein, aber das ist ja egal. Für diesen Augenblick geht es mir gut.

Wir lassen uns noch ein bisschen Zeit, bis wir zu So-Ras Eltern aufbrechen. Früher habe ich oft beim Sonntagskaffee mit am Tisch gesessen, manchmal war auch Onkel Harry dabei. Heute bringe ich zum ersten Mal Namjoon mit. So-Ra ist schon da, und sie muss in den letzten Wochen Lobeshymnen auf ihn gesungen haben, denn er wird so herzlich empfangen, wie ich es beim staubtrockenen Hausherren echt noch nie erlebt habe. Es macht mich glücklich, und auch Joon entspannt sich sofort. Wir werden ins Speisezimmer gebeten. Es ist genau so gemütlich, herzlich und warm, wie ich es in Erinnerung habe.
Auwei! Das letzte Mal war ich an Weihnachten hier. Das ist echt zu lange her. Und beschämend, dass ich erst wieder auftauche, wenn bei mir die Hütte brennt.
Wie gut, dass ich mich hier immer wie zu Hause fühlen durfte und darf. Diese wundervollen Zweit-Eltern haben mir noch nie etwas übel genommen.

Wir verbringen ein gemütlich verplaudertes Stündchen miteinander. Nach einer Weile werde ich jedoch innerlich immer kribbeliger, weil ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie wir hier noch die Kurve kriegen wollen zu einem vertrauensvollen und sensiblen Gespräch über mich als Kind, den Tod meiner Eltern und meinen Onkel Harry. Ich greife unterm Tisch nach Namjoons Hand und spüre erst dabei, dass ich zittere. Sofort wendet er sich mir zu, und sein fragendes Gesicht spricht Bände. Nun wird auch So-Ra aufmerksam und schaltet recht schnell.
"Wollen wir mal rüber gehen ins Wohnzimmer? Da können wir gemütlicher weiter reden. Du hast ja einen Haufen Fragen mitgebracht, Nelli."
Ich bin erleichtert. Gemeinsam decken wir den Tisch ab und wechseln dann, mit vollen Gläsern oder Tassen versorgt, in den nächsten Raum zum Sofa.

Alle setzen sich und lächeln mich betont freundlich an. Trotzdem wird es schwer, das Gespräch zu beginnen. Das wird aber offensichtlich von mir erwartet. Leise klappern Kaffeetassen, sonst ist es erdrückend still. Also springe ich einfach ins kalte Wasser.
"Es tut mir leid, dass ich euren ersten Advent mit so einer komischen Stimmung ... Nein, bitte, es fällt mir schwer, einen Anfang zu finden, obwohl ich euch mein ganzes Leben lang kenne und euch auch 'meine zweiten Eltern' nenne. Ich habe euch immer vertraut, mich hier immer willkommen und zu Hause gefühlt, wie bei Onkel Harry in der Villa.
Aber seit gestern ... ist alles so anders, so neu, so fremd, dass ich das Gefühl habe, ich weiß und kenne und verstehe nichts und niemand mehr. Wenn ich nicht unmittelbar einen Menschen bei mir spüre, versinke ich in Dunkelheit oder falle in einen Abgrund."

"Das haben wir schon länger erwartet, Cornelia. Hab keine Sorge. So-Ra wusste das alles auch nicht, wir haben euch beide abgeschottet. Aber jetzt wollen und dürfen wir dir alles erzählen, was wir wissen.
Harry hat sich damals in seiner seelischen Not und Überforderung sofort an uns gewandt, weil wir auch mit deinen Eltern gut befreundet waren. Er war eine Weile lang nicht in der Lage, dir ganz auf sich gestellt ausreichend Stabilität zu geben. Darum haben wir dich für zwei Monate zu uns geholt und ihn intensiv begleitet, bis er sich einigermaßen von dem Schock und Verlust erholt hatte. Und darüber hinaus warst du immer wieder bei uns, wenn er das brauchte."

Namjoon hat seinen Arm um mich gelegt, und ich kann spüren, dass er sich ganz auf mich konzentriert. Ich selbst lausche in mich hinein. Alles, was So-Ras Mutter erzählt, löst positive Schwingungen in mir aus, obwohl ich nichts davon in der Form erinnere.
Gut, ich war drei Jahre alt. Ich hatte eine kindliche Wahrnehmung, habe aus meiner persönlichen Kinderperspektive interpretiert, was ich erlebt habe.
Dass sich Onkel Harry um meinet Willen so sehr gequält hat, tut mir allerdings noch jetzt dreißig Jahre später zutiefst weh.

"Harry hat all seine Liebe zu seiner Schwester dir geschenkt. Er hatte einen umwerfenden Humor, war sensibel und kreativ, umfassend klassisch gebildet, vielseitig interessiert. Gleichzeitig war er aber vom Wesen her eher ein pragmatischer, zielstrebiger, stiller Mensch, war eher Zuhörer als Partylöwe. Und darin wart ihr euch auch immer ziemlich ähnlich.
Wir standen am Anfang nahezu täglich im Gespräch und haben ausgelotet, was wir erzählen, wie wir reagieren, wenn ... Dabei hat Harry uns dann gebeten, für dich da zu sein, wenn du als Erwachsene anfangen solltest, Fragen zu stellen."

Das ist mir echt zu hoch. Ich wusste doch offensichtlich nicht mal mehr, dass es da was zu erfahren gab!
"Da habe ich gleich meine erste Lücke. Warum hat er mir das alles nicht selbst erzählt? Was hat ihn zurückgehalten?"
"Harry wollte, dass du die Verarbeitung möglichst selbst steuerst. Deine erste Reaktion als Kleinkind war sehr ausgeprägt, schwankend und schwer einzuschätzen. Wir haben mehr reagiert als selbst angestoßen. Wir haben dir auch nichts verheimlicht. Nach dreieinhalb Jahren war dann alles vorbei. Kein Erinnern mehr, keine Fragen. Du bist von einem auf den anderen Tag verstummt."

In So-Ras Gesicht war die ganze Zeit Interesse, aber kein Erkennen zu sehen. Das ändert sich jetzt plötzlich.
"Okay, es war im Frühjahr gegen Ende vom ersten Schuljahr. Und zwar erinnere ich mich, dass du seit dem Tod deiner Eltern viel über sie gesprochen hast, ihre Geschenke besonders geliebt hast, überall Bilder stehen hattest, dass dein Onkel sehr oft von ihnen erzählen musste. Und das war irgendwann nach der Einschulung plötzlich vorbei, aber definitiv vor den Sommerferien. Du warst dann auch kaum noch bei uns."
Ich staune über meine Freundin.
"An so was Frühes kannst du dich erinnern?"
"Hm. Ich glaube, ich war ziemlich unglücklich, weil ich selbst in der Schule kaum noch an dich rankam."
"Das stimmt nur zum Teil. Ihr beide hattet immer ein enges Verhältnis. Nur in diesen Wochen war es schwierig. Du hast das Thema so konsequent verweigert, drüberweg geschwiegen, dich zum Teil nicht mal erinnert. Und das war gar nicht so einfach, denn du warst natürlich zwangsweise trotzdem viel bei uns. Immer, wenn Harry gearbeitet hat oder auf Dienstreise war."

Ich bin ziemlich irritiert. Namjoon spürt das sofort und streicht mir über den Arm. Langsam steigen mir Tränen in die Augen vor lauter Anspannung.
"Seltsam ist nur, dass ich das alles absolut nicht mehr wusste. Trotz der Berge von Fotoalben, die ich in diesem Jahr angesehen habe. Der ganze Vorfall, alles, was damals passiert ist, wer - wann - was - warum, ist mir so fremd, als wäre ich nicht dabei gewesen. Wie kann man Bilder ankucken von einer Situation, in der man selbst dabei war - und NICHTS dabei fühlen oder erinnern? Das ist ja wie Schalter umgelegt. Wodurch wurde dieser Schwenk ausgelöst? Und wie funktioniert das, dass man sich an den Tod der Eltern erinnert, aber mit nichts an die Begleitumstände? Das ist doch völlig unlogisch!"

Zum ersten Mal kommt Leben in den Vater. Bisher war er nur stiller Beobachter. Jetzt beteiligt er sich mit leiser Stimme am Gespräch.
"Ich habe den Verdacht, dass wir in einer Hinsicht damals nicht aufmerksam genug waren. So-Ra sagte mir, dass du dich schuldig gefühlt hast. Wir haben das überhaupt nicht gemerkt. Das 'Schuldthema' haben wir dir gegenüber vollkommen ausgeklammert, weil Harry sich so furchtbar quälend für das Unglück verantwortlich gefühlt hat. Er ist sehr lange nicht drüber weggekommen und hat das Thema nicht objektiv genug ansehen können, um mit dir irgendwie in diese Richtung zu sprechen. Dabei haben wir dann wohl übersehen, dass du dich genau so schuldig gefühlt haben musst. Wenn wir geahnt hätten, WAS dich hat verstummen lassen, wären wir sicher viel sinnvoller damit umgegangen."
...

"Und verstummt bist du wohl, weil du es nicht mehr anders ertragen hast."
Ich spüre noch vage, dass Namjoon mich auf seinen Schoss zieht und fest umarmt. Schlagartig schießen mir die Tränen aus den Augen, dann verschwimmt das Wohnzimmer, ich stürze ins Dunkel.

........................

Ich rutsche in Windeseile wieder in den Kinderkörper, sehe die Welt mit den Augen des Kindes. Dabei sitze ich in dem grünen Kleid im Sandkasten, vor mir das tiefe Loch. In meinen Händen halte ich das blaue Spielzeugauto. Und einen Stein.

Mami, Pappi? Seid ihr noch in dem Auto? Oder seid ihr im Himmel beim lieben Gott? Onkel Harry hat mir gesagt, dass ihr jetzt im Himmel seid, wo es ganz schön ist und euch nichts mehr weh tut. So richtig vorstellen kann ich mir das aber nicht. Seid ihr mit dem kaputten Auto da raufgefahren? Oder mit einem Flugzeug hochgeflogen? Wie sieht es da aus? Meine Lehrerin hat gesagt, wenn jemand stirbt, dann kommt er in eine große Holzkiste und wird ganz tief vergraben. Ich stell mir das ganz dunkel und gruselig vor.
Onkel Harry hat aber gesagt, dass ihr uns von da oben aus zukuckt. Und dass ihr aufpasst, dass uns nicht auch was passiert. Aber ich weiß gar nicht, ob ich das glauben kann. Ihr wolltet doch bestimmt noch viel länger bei uns bleiben. Stattdessen seid ihr zack einfach so weg, und ich bin schuld.

Ich hab geweint, weil mein Hals so wehgetan hat. Und da seid ihr losgebraust, um mich zu trösten und das Aua wegzupusten. Ihr seid aber nicht nach Hause gekommen sondern auf dem blöden Glatteis bis zum Himmel gerutscht. Bestimmt seid ihr sauer auf mich und wollt von mir nix mehr wissen.

Onkel Harry hat sich glaube ich ganz viel Sorgen um mich gemacht. Und nachts hat er geweint, wenn er gedacht hat, dass ich schlafe. Ich bin schuld, dass er immer so traurig ist. Ich möchte mich entschuldigen. Aber ich trau mich nicht. Vielleicht ist er dann wütend und schickt mich weg. Ich mag aber nicht weg. Ich mag immer bei Onkel Harry oder bei So-Ra sein. 
Onkel Harry hat mir Bilder von euch gegeben und ganz viel erzählt. Überall hab ich Bilder von euch. Und ihr lacht mich immer an. Aber wenn ich doch schuld bin, dass ihr nicht mehr lachen könnt, dann will ich diese Bilder jetzt nicht mehr ansehen. Ich hab sie vorhin versteckt, im Keller bei meinen Babysachen. Damit ich nicht mehr dauernd dran denken muss, dass ihr wegen mir nicht mehr lacht.

Ich hab euch so furchtbar lieb, und ich vermiss euch ganz dolle. Ich stelle mir ganz oft vor, dass die Tür aufgeht und ihr zurückkommt. Dann kitzeln wir uns und lachen, und alles ist wieder wie früher. Aber ihr kommt nie. Und dann hab ich Bauchweh und Herzweh, weil ich euch so so gerne wieder haben will. Das dürft ihr aber nicht Onkel Harry verraten, sonst ist er noch trauriger und weint wieder.
Ich fühle mich furchtbar alleine ohne euch. Alle sind lieb zu mir. Onkel Harry, So-Ra und ihre Eltern, meine Lehrer. Aber ich kann ihnen das gar nicht glauben, weil ich doch schuld bin. Immer, wenn ich ein blaues Auto sehe, werde ich wütend auf mich und habe Angst um die Leute, die da drin sitzen. Gestern hab ich an einer Ampel neben uns ein blaues Auto gesehen. Da saß ein Mädchen drin, das sah aus wie ich. Das hat mich angelacht und mir zugewunken. Ich hab so Angst, dass diese Familie auch bald stirbt. Ich mag kein Blau mehr. Blau macht mir Angst. Ich hatte mir gewünscht, dass unser Auto blau sein soll, aber das war wohl falsch. Am liebsten würde ich mit meinem Spielzeugauto hinter euch her rutschen. Zu euch in den Himmel oder in die Kiste rutschen. Damit wir wieder zusammen sind.

Aber dann ist Onkel Harry traurig, weil ich auch noch weg bin. Er weiß ja nicht, dass ich schuld bin. Sonst wäre er vielleicht sogar froh, wenn ich verschwinde. Jedenfalls mag ich das Auto nicht mehr haben. Es erinnert mich immer an euch und an den traurigen Onkel und an meine Schuld.

Wenn ich nur wüsste, wie ihr da raufgekommen seid! Gestern hab ich einen Unfall gesehen. Ich weiß nicht, ob die Menschen noch leben, aber das Auto war ganz kaputt. Ich habe mir gedacht, dass man vielleicht nur mit einem kaputten Auto in den Himmel kommt. Das ist echt doof. Ich würde euch gerne mal besuchen und euch fragen, wie das geht. Aber um euch zu besuchen, muss ich das erst rausfinden. Also klappt das doch nicht. 

Ich mach jetzt das kleine Auto so kaputt wie das große und vergrabe es wie in einer Kiste. Vielleicht hilft das ja. Was anderes fällt mir nicht mehr ein. Ich sag das alles ins Auto und schicke es dann zu euch. Dann könnt ihr das Auto fragen. Das sagt euch dann, dass ich euch ganz doll lieb habe und euch vermisse. Und dass es mir so leid tut, dass ihr wegen mir gestorben seid.

Tschüß! Ich komm irgendwann zu euch. Wenn ihr mich dann noch wollt.

Langsam werde ich wieder groß. Es ist, als ob eine Kamera aus einer Szene rauszoomt und dabei nach oben fährt. Ich stehe hinter mir Kind als Erwachsene und sehe zu, wie das Kind mit dem Stein das Auto plattschlägt. Ich möchte schreien, möchte das verhindern. Ich möchte das Kind trösten und ihm sagen, dass es doch gar nichts kann für den Tod der Eltern. Aber ich werde wie von einem Sog von dem Kind weggezogen. Das Mädchen wird immer kleiner, sitzt immer entfernter, bis es schließlich am Horizont verschwindet. Und ich kann nichts tun, um es zu trösten.

................

Ich erwache von meinem eigenen Schreien. Namjoon hält mich ganz fest und weint auch. Ich weiß erst gar nicht, wo ich bin. Eben war ich noch am Sandkasten, jetzt bin ich in einem Zimmer. Ich höre etwas flüstern, brauche aber eine Weile, um zu kapieren, dass ich selbst das bin.
"Hoffentlich stirbt das Kind nicht auch. Es kann doch gar nichts dafür, dass die Eltern den Unfall hatten. Und es kann nicht mit dem kaputten Auto in den Himmel rutschen. Jemand muss das dem Mädchen sagen! Ich kann doch gar nichts tun. Aber ich muss doch was tun! Ich MUSS doch helfen!!!"

........................

"Nelli, Schatz! Liebes, wach auf und schau mich an. Du bist in Sicherheit. Wir sind alle bei dir. Bitte, wach auf. Du quälst dich so sehr. Du trägst keine Sch... Oh, Gott sei Dank! Shhhhh, Liebes. Du musst nicht weinen. Wir sind bei dir, und ich halte dich ganz fest."
Ich höre Namjoons flehende Stimme und zwinge mich, meine Augen zu öffnen. Ich fühle meinen Körper wieder, fühle mich gehalten. Gleichzeitig merke ich, wie müde gekämpft und ausgelaugt ich bin. Ich schaue in Joons Gesicht, sehe seine Tränen, sehe Sorge und Erleichterung gleichzeitig. Mein Gemurmel verstummt.
Nie wieder die Augen zu machen! Ich will nie wieder diesen Körpertausch erleben. Ich will nie wieder etwas so Furchtbares, so Tragisches, so Quälendes erleben. Das ist ja unerträglich!
Ich reiße meine Augen ganz weit auf, damit ich auf jeden Fall im Hier und Jetzt bleibe.

"Warst du wieder im Damals, Liebes? Dann erzähl uns bitte davon."
Ich schüttele energisch den Kopf.
Never!
"Wenn du es uns nicht erzählst, verschwindet es aber trotzdem nicht. Es bleibt in dir, ist jetzt ganz präsent und wird dich immer wieder in die Vergangenheit zerren. Bitte, lass uns teilhaben."
Richtig flehend klingt Namjoons Stimme. Ich spüre seine Angst um mich und kämpfe mit meinem inneren Widerstand.
Ich will das weder aussprechen noch jemals wieder erleben! Kann das nicht einfach wieder aufhören?

So-Ras Mutter taucht in meinem Sichtfeld auf. Ich sehe die mütterliche Liebe in ihren Augen.
Wenn ich so oft hier war, muss sie wirklich wie eine Mutter für mich gewesen sein. Und mich geliebt haben. Das ist tröstlich.
"Sag einfach JA oder NEIN, Nelli. Dann musst du es nicht aussprechen, okay?"
Ich ringe mit mir, kneife die Augen zu, reiße sie gleich wieder auf, nicke hilflos zu ihrem Vorschlag und setze mich ein bisschen grader hin.

"Hab keine Angst, ich bin vorsichtig. Hast du wieder den Sandkasten und das Kind gesehen?"
Ich nicke.
"War es der selbe Moment wie gestern? Hast du wieder in dir drin gesteckt?"
Zu viele Fragen auf einmal. Also muss ich doch ...
"Ich ... es ... war der Moment, aber es hat früher eingesetzt und länger gedauert. Ich hab wieder in mir drin gesteckt, hab diesmal aber auch ganz viel geredet. Es ... es war ... furchtbar!"
Noch im Nachhinein läuft mir eine Gänsehaut des Entsetzens den Rücken runter.

Sie mustert mich aufmerksam, überlegt einen Moment.
"Weißt du ... hast du jetzt ... die volle Erinnerung wieder?"
Sofort presse ich die Lippen aufeinander, damit ich nicht schreie. Ich nicke stumm zur Bestätigung und kralle mich Schutz suchend an Namjoons Pullover fest.
"Oje, das ist bestimmt ziemlich viel auf einmal. Kann es sein, dass die kleine Nelli damals ganz vieles gar nicht oder völlig falsch verstanden hat?"
"Oh ja - und wie! Sie ... ich ... hab mir eigene Antworten ausgedacht, weil ich mir das irgendwie erklären musste."

"Hast du vorgehabt, uns oder deinen Onkel nach all dem zu fragen?"
"Ich hatte es wohl versucht, aber nicht richtig verstanden. Und zu dem Zeitpunkt hatte ich schon viel zu viele Schuldgefühle angehäuft und zu viel Angst, dass Onkel Harry mich wegschickt, weil er böse auf mich ist. Er ... ich hatte mitgekriegt, ... dass er nachts oft geweint hat."
"Und auch dafür hast du dich schuldig gefühlt. Wir furchtbar traurig und einsam! Wie blind sind wir gewesen! Wir waren drei Erwachsene und haben nichts von deinem Leid gemerkt. Das tut mir sehr, sehr leid."
"Das muss dir nicht leid tun. Ich hab mir damals ja alle Mühe gegeben, damit ihr nichts merkt."

Erschöpftes Schweigen senkt sich auf den Raum. Ich habe keine Ahnung, wie ich jemals wieder leben, arbeiten, feiern oder schlafen soll ohne die stets gegenwärtige Angst, noch einmal diesen Zeitsprung oder gar den Körperwechsel erleben zu müssen. Alle anderen scheinen genauso ratlos zu sein.
"Eine Frage habe ich noch. Wusstet ihr, was ich mit dem Spielzeugauto gemacht habe?"
So-Ras Mutter schüttelt den Kopf.
"Nichts. Es war wie vom Erdboden verschluckt. Morgens hatte es noch neben deinem Frühstücksteller gelegen. Du warst sehr still an dem Tag, warst in deinem Zimmer, im Keller, überall, hast lange im Park gespiel... Oh. Du warst im Park. Aber du hast nicht gespielt.
Jedenfalls ... am ... Abend hast du das blaue Auto gesucht. Harry und seine beiden Angestellten haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, vom Keller bis zum Dach alles, alles abgesucht. Der Park wurde systematisch durchgeharkt. Das blaue Spielzeugauto war und blieb verschwunden.
Erst nach und nach wurden Harry die Veränderungen bewusst. Die Fotos waren verschwunden, du hast nicht mehr gefragt - erklären konnten wir uns das ganze damals nicht. Aber ... In diesem Sommer sind wir als Familie mit euch zusammen in Urlaub gefahren. Wir waren am Meer. Da bist du schließlich wieder aufgetaut, hast normal gespielt, gelacht und erzählt. Wir dachten, du bist übern Berg, und haben nicht mehr aufmerksam genug hingeschaut. Das war wohl ein großer Fehler."

Draußen ist es längst dunkel geworden. Ich versinke in meinen Gedanken. Am Rande bekomme ich mit, dass Namjoon meine Krankmeldung an So-Ra weiterreicht.
"Ihr habt jetzt eigentlich stramm zu tun bis Weihnachten, oder? Das solltest du ganz übernehmen, Namjoon. Nur - wer ist dann bei Nelli?
"Das frage ich mich auch die ganze Zeit. Wir wollen morgen den Familienanwalt kontaktieren, ob es noch irgendwelche Unterlagen, Tagebücher oder so was gibt, die Nelli noch nicht bekommen hat. Onkel Harry hat alles so genau und liebevoll dokumentiert für sie. Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass er auch für sich selbst Tagebuch geschrieben hat."

"Hat er."
Erstaunt sehen wir alle So-Ras Vater an. Auch ich bin wieder ganz wach.
"Er hat auch für sich Tagebuch geschrieben. Das hat er aber nur mir erzählt. Meine letzte Information ist, dass er das seinem Berliner Anwalt zur Aufbewahrung gegeben hat, damit du es nicht zur Unzeit findest, Nelli."
"Dann will ich sofort nach Berlin!"
Namjoon zuckt richtig zusammen und macht ein bedenkliches Gesicht.
"Das Problem ist nur, dass ich diesmal nicht mitkommen kann, weil einer von uns nun wirklich für den Endspurt zur Stiftungsgründung voll im Einsatz sein muss."
So-Ra schüttelt auch gleich den Kopf.
"Aber du fliegst ganz bestimmt nicht alleine, Schnucki. Warte kurz, ich sehe eben nach, wie viele Urlaubstage ich noch habe."

Sie greift nach ihrem Handy und tipselt eine Weile darauf herum. Wahrscheinlich loggt sie sich grade in ihrem Jobkonto ein.
"Alles klar. Ich habe noch sechs Urlaubstage in diesem Jahr. Hm. Morgen arbeite ich, am Dienstag ..."
Ich schalte wieder ab.
Hauptsache, ich bin nicht alleine! Ich kann mich darauf verlassen, dass diese Menschen mir das Beste wünschen und alles organisieren werden. Und es wäre wirklich schön, wenn ich diesmal mit So-Ra hinfliegen und ihr Berlin im Winter zeigen könnte.

........................
22.4.2023    -    26.3.2024

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