67 - Medienchance - Medienfrust

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Natürlich versuche ich vor dem Mittagessen wieder, Namjoon zu erreichen. Er macht sich so viele Gedanken um mich, er soll an der positiven Entwicklung gleich teilhaben dürfen. Und mein Herz läuft über vor lauter Neuem. Allerdings drückt Joon meinen Anruf weg. Er schreibt nur kurz: Interview im TV ...
Dann konzentriert er sich sicher wieder auf seine Situation.

Interview ... ah. Oh! Ich erinnere mich. Da sollte ich eigentlich dabei sein. Das ist sogar live. Das ist irgendeine Talkshow, wo es um Charity, Einzelschicksale und sowas geht. Hoffentlich ist er da nicht alleine! Ob ich ...
Schnell hole ich mein Laptop und suche nach der Sendung. Und ich kann sie sogar finden.


Ein älterer, seriöser Mann und eine ziemlich aufgetakelte jüngere Frau sind die Moderatoren. Drumrum sitzen acht Talkgäste.
Im Moment geht es im Gespräch mit einem Streetworker darum, wie das Bild von armen, psychisch kranken, körperlich behinderten und anderen benachteiligten Menschen in der koreanischen Gesellschaft ist. Mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, weil diese Gesellschaft so leistungsorientiert und vorurteilsbehaftet ist. Und was diese Menschen brauchen. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung sitzen genau unser Bänker und unser Hausjurist als jeweilige Experten für ihr Fach neben Namjoon.
O

b er das selbst eingefädelt hat, um Sicherheit zu haben? Geschickt!

Außerdem wird die Runde ergänzt durch einen Psychologen, einen Schulleiter, jemand vom Sozialamt. Ein einsame, etwas unsichere Punkerin Anfang zwanzig sitzt im letzten Sessel und wirkt angespannt. Ich kenne diese Haltung und diese Spannung. Die junge Frau erinnert mich an die Jungs ganz am Anfang. Das ist Straßenkinderinstinkt - sie ist auf der Hut.
Das Gespräch ist interessant. Es werden auch Klischees geritten. Aber der Streetworker und der Psychologe sind auf Zack und lassen den anderen nichts durchgehen. Sie sorgen dafür, dass die Punkerin überhaupt zu Wort kommt und ausreden darf, als sie mit breitem Slang vom Leben auf der Straße als Frau berichtet.

So-Ra ruft zum Mittagessen.
"Geht nicht. Mach den Herd aus und komm her!"
Kurz darauf sitzen wir zu zweit vor dem Laptop und verfolgen gespannt die Sendung.

Sie reden über die Ursachen von Benachteiligung und Stigmatisierung, über Eigenverantwortung und die Verantwortung der Gesellschaft. Die Frage fällt, wie eine Gesellschaft aussehen müsste, welche Werte erforderlich wären, um dieses zahlreiche Abrutschen und Aufgeben von vornherein zu verhindern. Schließlich bewegt sich das Gespräch dahin, was von Staat, Gesellschaft und jedem einzelnen getan werden muss und kann, um diese Situation zu verändern, um aus Schicksalen Perspektiven zu machen. Da kommen jetzt natürlich auch die juristische Seite und die Finanzen ins Spiel.

"Großartig, wie gut der Talk aufgebaut ist und wie sich das Ganze wie zufällig auf die Stiftung und ihre Möglichkeiten zubewegt. Jetzt ist es wirklich nicht mehr weit bis zur logischen Schlussfolgerung - einem Netzwerk der Hoffnung."

Wenige Minuten später wendet sich der Moderator direkt an Namjoon, der zwischen den beiden Fachleuten sitzt, fordert ihn auf, die Stiftung und das Netzwerk vorzustellen und zu erläutern, mit welchen Ideen wir versuchen wollen, Bausteine zur Verbesserung anzubieten.
Die Veränderung der Stimmung in der Talkrunde ist mit Händen zu greifen, obwohl sich alle Anwesenden um Haltung und Pokerface bemühen. Auch die Unruhe im Publikum schwappt durch den Saal. Da ich Namjoon nun schon eine Weile kenne, merke ich durchaus, dass er viel ruhiger wirkt, als er sich fühlt.
Zum Erstaunen aller ist es ausgerechnet unser Bänker, der gelassen einhakt, der Namjoon vorstellt als idealen Geschäftsführer mit hohem ethischem Selbstanspruch und als ein Paradebeispiel für den Zweck der Stiftung.
Danach ist es Joon ein Leichtes, die Neugierde aller zu wecken, den Grundgedanken und die ersten Angebote der Stiftung zu erläutern und besonders das Netzwerk in den Vordergrund zu stellen.

"Die wichtigste Erkenntnis der letzten Monate war nicht, dass großer Bedarf besteht, oder welcher Bedarf. Sondern die Feststellung, wie schwer es ist, als Betroffener, deren Angehöriger oder auch allgemein hilfsbereiter Mensch, vernünftige Informationen zu finden. Sich einen Überblick zu verschaffen. Immer wieder kamen wir an den Punkt, dass wir für diese Stadt vor allem ein funktionierendes Netzwerk brauchen, gebündelte Informationen, breite Bekanntheit, gute Erreichbarkeit, niedrigschwellige Angebote. Und diese Aufbauarbeit ist im Grunde jetzt schon in vollem Gange, weil das Netzwerk schnell wächst und uns eine ganze Gruppe von Sozialpädagogen und Psychologen dabei berät. Uns ist wichtig, dass alles Hand und Fuß hat."

Plötzlich erwacht die Moderatorin zum Leben, die bisher die ganze Zeit irgendwas zwischen desinteressiert und desinformiert gewirkt hatte. Sie wendet sich an Joon.
"

Ist es nicht eigentlich Aufgabe der Politik und der staatlichen Behörden, ein solches Netzwerk zu koordinieren?"

Ich glaube, nur ich kann in diesem Moment an seiner Haltung sehen, dass Namjoon schlagartig sehr wachsam wird. In mir machen sich leise ein ungutes Gefühl und nervöses Kribbeln breit. Noch ist nicht zu erkennen, worauf ihre Frage abzielt.

"Wir leben in einem freien, demokratischen Land. Aber selbst das beste System kann nicht alles retten. Wir sind eine Gesellschaft und sollten uns als solche auch gemeinsam verantwortlich fühlen. Uns beim 'Netzwerk der Hoffnung' bieten sich zur Zeit alle personellen, räumlichen und finanziellen Möglichkeiten, um Menschen jedes Alters und jeder Schicht wirksame Hilfen anzubieten. Es wäre eine Schande, es nicht zu tun, indem wir die Hände in den Schoß legen und auf die Politik warten."

Mein Unwohlsein verflüchtigt sich nicht, obwohl seine Antwort geistesgegenwärtig und zielführend war.
D

er Schulleiter mischt sich ein.
"Unser Staat tut viel. Aber diejenigen, die Hilfe brauchen, haben meistens viel Schlechtes erlebt und überlegen sich sehr genau, wem sie sich anvertrauen. Welcher Schüler, der von zu Hause keinen Rückhalt erfährt oder von Mitschülern gemobbt wird, wendet sich damit an seinen Lehrer um Hilfe? So sehr wir helfen wollen - wir haben im koreanischen Schulsystem kaum die Zeit und Kapazität, diesen Kindern gerecht zu werden. Welche Arbeitslosen trauen noch den Versprechen der Politik? Welcher Strafentlassene wendet sich mit einem berechtigten Anliegen an die Polizei? Misstrauen und Angst sitzen tief, Vorurteile führen schnell zu verletzender Ablehnung. Ich finde es darum gut und wichtig, dass es auch private, gemeinnützige Anlaufstellen für diese Menschen gibt, bei denen die Hemmschwelle nicht so hoch ist wie bei einem Amt."

So-Ra und ich atmen auf.
"Der ist super. Hoffentlich lässt die das jetzt ruhen."
Zu früh gefreut. Wieder nimmt die unangenehme Frau Namjoon fest in den Blick. Ihr Kollege daneben wirkt inzwischen ziemlich irritiert, bremst sie aber nicht.

"Wenn Ihnen diese Stiftung und das Netzwerk so wichtig sind - haben Sie keine Sorge, dass Ihre Vergangenheit der guten Sache schaden könnte?"

Es ist totenstill im Studio. DIE Antwort will niemand verpassen. Aber Namjoon gewinnt wie durch Wunderhand grade durch die Provokation seine Klarheit und Ruhe zurück.
"

Genau diese Angst habe ich sehr wohl. Ich habe von Anfang an mit völlig offenen Karten gespielt, habe diese Aufgabe zunächst abgelehnt und musste selbst erst überzeugt werden, dass alle Beteiligten dieses Risiko eingehen wollen. Uns allen ist die Stiftung eine Herzensangelegenheit, die wir im festen Vertrauen aufeinander gemeinsam ins Leben rufen wollen. Noch nie in meinem Leben bin ich so sehr beschenkt worden wie mit diesem Vertrauen der anderen zukünftigen Mitglieder.
Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Ich bereue es bitter, kann es aber nicht ungeschehen machen. Darum bin ich heute so dankbar, dass ich diese Chance bekomme, und dass ich dabei etwas so Wertvolles und Sinnvolles tun darf."

"Der Ärmste. Am Liebsten würde ich einen Tarnumhang über ihn werfen. Was bezweckt die damit? Hoffentlich schadet diese Szene nicht seiner Glaubwürdigkeit."
Meine Besti holt Luft, kommt aber gar nicht zum Antworten.

Nach einer tiefen, schier endlosen Stille im Studio fängt im Publikum jemand an zu klatschen. Hartnäckig, gleichmäßig, unbeirrbar. Die Kamera sucht, findet aber den Ausgangspunkt des Geräusches nicht. Da fallen weitere Hände ein. Bis schließlich nahezu alle Zuschauer applaudieren.
Sie pfeifen, johlen und jubeln nicht. Sie stehen nicht auf. Sie können trennen zwischen dem Verbrecher, dem Mann, der die Kurve gekriegt hat und dem guten Zweck. Und sie haben wohl grade mehrheitlich etwas verstanden: Jeder Mensch hat das Recht auf eine zweite Chance.
Der Moderatorin fällt die Kinnlade runter. Das Publikum hat entschieden, hat ihr völlig den Wind aus den Segeln genommen. Also klappt sie den Mund wieder zu und sagt für den Rest der Sendung kein Wort mehr.

"Gut so!"

Das Gespräch wird wieder sachlich. Der Schulleiter lockt noch einmal die Punkerin aus der Reserve.
"Darf ich Sie fragen, ob Sie die Schule beendet haben?"
"

Ne, det ging nich. Die Schule war ooch nich det Problem. Ik kam mit meen'n Alt'n nich klar. Aber inner Schule, im Jugendamt - konnt ick saagen wat ick wollte, jegloobt ham se immer nur mein Vater. Wenn ick wat jesacht hab, war det immer bloß jelogen und ausjedacht, als ob ick det allet nur jeträumt hätte. Ik war eene Schande für die Familie. Wenn ik irgendeene Form von Sicherheit haben wollte, musste ik da raus."

Der Streetworker fragt vorsichtig weiter.
"Würdest du gerne die Schule abschließen oder regelmäßig jobben?"
"Wenne erstma uff der Straße jelandet bist, KANNSTe nich mehr zur Schule jehn, weil de sofort einjefangn und wieda bei deene Alten abjeliefat wirst. Also kiekste in der Szene und willst bald nie wieda da weg. Bei deen Leuten weiß'e imma, woran de bist. Niemand wird inne Hood im Stich jelassen, verraten oder belästigt. Mit mein Leuten fühl ik mich sicha."
"Kann es sein, dass du auch jetzt, hier, Angst hast?"
Sie zögert einen Moment.
"Und wie!"
"Darf ich dir anbieten, mir hinterher ohne Kameras zu erzählen, was dir bisher niemand geglaubt hat?"

Ich glaube, so schnell ist noch nie jemand aus diesem Studio gerannt. Gleich darauf hört man wütende Schreie auf dem Flur. Der Streetworker rennt hinterher und kommt erst ein paar Minuten später wieder.

"Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ein Mitarbeiter hat versucht, sie aufzuhalten. Ich habe sie nach draußen gebracht, weil sie jetzt am liebsten zurück zu ihren Leuten wollte. Fahren Sie bitte fort."
Der Schulleiter runzelt die Stirn.
"

Ich würde dem Mädchen so gerne helfen. Gibt es irgendeine Möglichkeit, sie zu finden?"
Der Streetworker schüttelt den Kopf und antwortet mit viel Nachdruck.
"Es ist davon auszugehen, dass ihre Freunde bereits jetzt Bescheid wissen und alles einpacken. Sie werden gemeinsam ihren angestammten Platz verlassen und an einer ganz anderen Ecke von vorne anfangen, sich Kontakte und Hilfsstrukturen aufzubauen. Und ich hoffe inständig, dass niemand gezielt versucht, sie zu finden. Sie MUSS jetzt in Ruhe gelassen werden, und sie hat auch ein Recht darauf."

Der Moderator versucht, seine Talkrunde wieder in den Griff zu bekommen, sammelt seine Gedanken, fasst die Gespräche zusammen und führt die Show zum Ende. Zum Schluss werden noch die Kontaktdaten der Stiftung eingeblendet und Möglichkeiten benannt, wie man sich dem Netzwerk anschließen, spenden, ehrenamtlich mitarbeiten oder anderweitig zum Aufbau beitragen kann. Dann ist die Sendung rum.
B

eim Schlussschwenk schaut Namjoon sehr bewusst und gradeaus in die Kamera. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich von ihm liebevoll angesehen. Ich atme tief durch.

So-Ra klappt mein Laptop zu.
"Dann lass uns essen, Süße. Hoffentlich gibt es jetzt ganz viele konstruktive Anfragen bei der Stiftung. Jede helfende Hand und jeder Won bringen Euch weiter."
Mein Magen knurrt laut und findet den Vorschlag gut. Wir setzen uns wieder zum Adventskranz und schlagen uns die Bäuche voll. Kaum sind wir damit fertig, bekomme ich eine lange Sprachnachricht von Namjoon. Er klingt ziemlich durcheinander - gleichzeitig ausgelaugt und zufrieden, besorgt und zuversichtlich. Ich antworte, dass wir zugesehen haben und er seine Sache gut gemacht hat. Er wird sicher sofort ins Bett gehen. In Korea ist jetzt später Abend. Also wünsche ich ihm eine gute Nacht und mache mein Handy aus.

Da es bei uns erst Mittagszeit und auch schönes Wetter ist, verschaffen wir uns wieder Bewegung, indem wir durch Seitenstraßen Richtung Park spazieren. Wir unterhalten uns über die Sendung und versuchen, die Außenwirkung einzuschätzen. Diese Moderatorin ist so sehr aus der Linie der Sendung ausgeschert. Vielleicht ist sie sogar bestochen worden?
Wir kaufen ein paar Lebensmittel fürs Abendessen, wobei meine Besti sich über die Preisunterschiede zwischen Korea und Deutschland wundert, und schlüpfen vor dem einsetzenden Schneetreiben in die warme Wohnung.

Wir haben Frau Blumenthal zu uns eingeladen. Es wird ein fröhlicher Abend mit viel Gelächter, weil die alte Dame tatsächlich den Mut hat zu versuchen, das koreanische Gericht mit Stäbchen zu essen.
Wir reden viel über beide Länder und ein bisschen über Harry. Ich muss alles übersetzen, aber es macht Spaß. Nach noch einem guten Glas Wein am Kamin geht meine Nachbarin zurück in ihre Wohnung gegenüber, und wir beseitigen spät am Abend noch das Schlachtfeld in der Küche.

Plötzlich brummt So-Ras Handy. Sie schaut die Nachricht an und unterdrückt einen Fluch.
"Was ist?"
"Von Hoseok. Naver hat sich schon auf die Villa gestürzt, bevor Namjoon nach Hause kam. Yoongi hat ihn gewarnt und ihn sofort in deine Wohnung gebracht. Joon hat alle seine Kontakte ausgeschaltet und wird sich bei uns melden, sobald er ein anderes Handy hat. Jimin hat dezent Panik bekommen und wird grade mitsamt Hund in Namjoons Zimmer verfrachtet. Im Moment wird im Park alles abgesucht und Fremde rauskomplimentiert. Aber der Park ist oben ja offen. Die Jungs schließen sich deshalb ein und halten jetzt einfach die Füße still, bis die Polizei alles abgeriegelt und im Griff hat."
Ich weiß nicht, ob ich das Schicksal verfluchen, einen Bombenanschlag auf Naver vorbereiten oder erleichtert sein soll, dass Joonie in meine Wohnung flüchten konnte. Ich entscheide mich für die naheliegendste Reaktion. Ich breche laut weinend in So-Ras Armen zusammen. Ich fühle mich, als würde mich jemand mit aller Gewalt unter einer großen Decke zu ersticken versuchen.

Es dauert eine Weile, bis ich wieder aufnahmefähig bin.
"Was passiert da jetzt noch?"
"Der Sender und die Stiftungsmitglieder lenken gezielt von Namjoon ab und die öffentliche Aufmerksamkeit auf den guten Zweck. Es ist jetzt Morgen in Seoul. Wir werden abwarten müssen, wie sich das alles entwickelt."
Schon wieder fange ich an zu weinen. Inzwischen bin ich durch den Jetlag auch noch total übermüdet. Also nimmt So-Ra mir mein Handy wieder weg, schaltet es ganz aus, scheucht mich ins Bett und informiert die Jungs, dass die Kommunikation jetzt erstmal über sie laufen soll. Ich habe keine Kraft mehr. Ich heule mich in den Schlaf.

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Frühes zu Bett gehen und Jetlag vertreiben allerdings schon um 4.00 Uhr wieder den Schlaf. Heute Nacht hatte ich nicht Flashbacks sondern finstere Zukunftsvisionen. Völlig gerädert stürzen wir beide uns wieder auf unsere Handys.
Ich habe Nachrichten von unseren Anwälten und Banken. Der Tag verläuft wohl gut. Ein paar mächtige Leute, die bereits mit der Stiftung verknüpft sind und nun ihr Gesicht nicht verlieren wollen, haben die Flucht nach vorn angetreten und eine einstweilige Verfügung wegen Hausfriedensbruch gegen Naver erreicht.
Oder erkauft ... Was die können, können wir schon lange! Egal! Denk nach. Was ist jetzt dran?

"Mist, dass das Gelände oben so offen ist. Da werden immer wieder Leute reinlatschen."
"Dann lass sofort einen Zaun hinstellen. Hilft ja nichts."
Ich beauftrage Jimins Chef, am oberen Ende des Geländes nun doch einen sicheren, vorläufig auch blickdichten Zaun mit drei großen Toren aufzustellen. Auch unsere Elektrikerfirma bekommt noch mal Arbeit. Sie sollen zum Wald hin nach links, zum Schloss nach rechts und natürlich oben alle zehn Meter eine Überwachungskamera aufstellen und die Monitore sowohl im Pförtnerhaus als auch ganz oben in der Villa aufbauen.
"Sowas hab ich nie gewollt, aber das war wohl zu naiv und zu freundlich gedacht."
"Mach dir keinen Kopf. Ihr werdet schnell Übung bekommen und solche Situationen ganz gelassen aussitzen. Sei bitte bitte so lieb und konzentriere dich wieder auf dich, ja?"

Aufmerksam schaut sie mich an.
"Lass uns frühstücken und überlegen, was wir mit diesem Tag anfangen. Wir brauchen jetzt eine schöne Ablenkung. Magst du mir die Mitte von Berlin zeigen? Das wenige, was ich vorher gelesen habe, klang spannend und vielseitig."
Ich spüre, wie erleichtert ich bin, dass So-Ra auch jetzt in der Lage ist, die Anspannung aus dem Moment zu holen und mich abzulenken.
"Gute Idee! Lass uns in die Stadt reinfahren."

An einem normalen Mittwoch ist natürlich nicht soooo viel los in der Stadt, weil die Wochenendtouristen und Schüler wegfallen. Aber durch das Weihnachtsgeschäft locken die Märkte doch mehr Leute als sonst aus den Häusern. Wir fahren mit der U-Bahn bis zum Alex und lassen uns von da aus die Prachtstraße entlang treiben, bis wir schließlich unter den Linden automatisch beim Brandenburger Tor landen. Unterwegs sehen wir alte Gebäude, Theater, Kirchen, die Museumsinsel, viele Geschäfte und Cafes. Die Weihnachtsdekoration ist mal kitschig, mal klassisch, mal laut und daneben wieder ganz leise, aber fast immer beeindruckend. Wir stöbern hier, shoppen da, wärmen uns zwischendurch mit Kaffee auf und bestaunen monumentale Denkmäler. Es macht Spaß, lenkt ab, erdet mich und befriedigt So-Ras Neugierde.

"Du, was ich noch überhaupt nicht kapiert habe - was ist eigentlich 'die Mauer'? Mauern gibts hier doch nun wirklich genug."
"Die Mauer ist beziehungsweise war etwas, was wir in Korea besser kennen, als uns lieb ist. Die Deutschen sind ja im zweiten Weltkrieg von mehreren Staaten besiegt worden. Unter denen wurde das Land in vier Teile geteilt. Weil jeder was von der Hauptstadt haben wollte, wurde die noch extra geteilt. Die Westmächte haben ziemlich bald ihre drei Teile zusammengeworfen und daraus die Bundesrepublik gemacht. Deren Zipfel von Berlin galt auch als Westen, war aber völlig von dem Land umschlossen, das die Russen abbekommen und zu einem eigenen sozialistischen Staat, der DDR, gemacht hatten.
Weil niemand unter der russischen Besatzung leben wollte, sind die Menschen scharenweise nach Ostberlin gereist und von dort mit Sack und Pack und Kind und Kegel nach Westberlin in die Freiheit spaziert. Tausende jeden Tag. Also haben die Russen 1961 um das gesamte Westberlin drumrum eine Mauer gebaut."

"Jaaaa, das kennen wir in Korea tatsächlich erschreckend gut. Und was ist jetzt?"
"1989 haben die Menschen in Ostdeutschland das Wunder vollbracht und auf friedlichem Wege das Regime und die Mauer zu Fall gebracht. Heute stehen davon nur noch Reste, sozusagen als Denkmal gegen den Wahnsinn des Krieges."
"Können wir uns die ansehen?"
"Gerne, aber morgen. Heute sind wir zu weit weg davon. Und ich muss selbst erstmal nachsehen, wo wir dafür hingehen sollten."
"Stimmt. Und ich bin jetzt auch müde vom vielen Laufen. Lass uns nach Hause fahren."

Ich finde raus, wie wir zurück nach Charlottenburg kommen, und bald schon sitzen wir in einer passenden U-Bahn. Wir schweigen, müde und gedankenverloren. Wir schauen auch nicht auf unser Handy, obwohl uns beiden klar ist, dass da neue Nachrichten über die Lage in Seoul auf uns warten. Dieser Vormittag gehört uns.

........................
3.6.2023 - 27.3.2024

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