Süße Siebzehn - 01 - Träume

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So richtig kann ich es noch nicht begreifen. Während ich in das schicke Kleid für meine Graduation-Feier steige, schüttele ich schmunzelnd den Kopf. Nie wieder Schule? Das fühlt sich so unwirklich an. Mein Blick fällt in den schnörkeligen Spiegel auf meiner kleinen Frisierkommode. Ich bin größer als die durchschnittliche Koreanerin, denn meine deutsche Mutter war auch nicht ganz klein. Die zierliche Figur, die dunklen Haare, den warmen Teint und die leicht asiatisch angehauchten Augen habe ich von Papa, der Koreaner war. Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich nicht mal vier Jahre alt war. Seitdem habe ich mit Onkel Harry in seiner barocken Villa in einem Luxusviertel am nördlichen Stadtrand von Seoul gelebt. Erinnerungen an meine Eltern habe ich keine. Aber Harry hat mir die wunderbarste Kindheit und Jugend ermöglicht, die es geben kann. Das große alte Haus, der riesige verwunschene Garten, die phantasievollen Spiele und Geschichten, die bedingungslose Unterstützung und Liebe - all das lässt mich mit viel Rückenwind und Neugierde in mein Erwachsenenleben starten. Ich kann es kaum erwarten.

Onkel Harry hat einiges springen lassen, um mich an meinem großen Tag zu ehren und in Szene zu setzen. Meine Freundinnen werden mich beneiden um das organza-schwebende Kleid mit Spitzencorsage in einem geheimnisvoll undefinierbaren blaugrau. Dazu hat Onkel Harry mir den silbernen Verlobungsschmuck von Mama gegeben. Weiß schimmernde große und ganz kleine Perlen ringeln sich um meinen Hals. Der Verschluss ist aus blauen Saphiren, deren Glanz sich wiederholt in den kleinen Ohrsteckern - und in meinen glücklich leuchtenden Augen. Ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr und drehe mich mit wehendem Rock einmal im Kreis. Ich fühle mich so beschwingt und leicht. Und gesehen und unendlich geliebt.

Ein Klopfen holt mich zurück in die Gegenwart.
"Nellischatz, bist du so weit? Wir sollten frühzeitig da sein, damit wir einen guten Platz bekommen."
Die Tür öffnet sich, und Onkel Harry steckt den Kopf herein.
"Ui! Und damit du genug Zeit hast, die Aula in deinen ganz persönlichen Laufsteg zu verwandeln. Du siehst wundervoll aus, Liebes."
"Ich bin fertig, Onkel Harry. Wir können los."
Aufgeregt greife ich nach meiner kleinen Clutch, hänge mich in Harrys dargebotenem Arm ein und mache mich mit ihm auf den Weg zur Abschlussfeier. An seiner Seite schwebe ich die große Treppe in die Halle hinunter und fühle mich dabei ein klitzekleines Bisschen wie eine Prinzessin.

Auf dem Hof der altehrwürdigen First International High Seoul ist schon viel los, als wir dort mit dem Taxi eintreffen. Onkel Harry ist der formvollendete Gentleman alter Schule. An seiner Seite laufe ich aufgedreht zwischen den vielen Menschen hindurch, begrüße ein paar Freundinnen und Freunde, stelle Onkel Harry ein, zwei anwesenden Lehrern vor und finde schließlich meine Sandkastenfreundin Woo So-Ra mit ihren Brüdern, Eltern und Großeltern. Wir nehmen uns freudestrahlend in die Arme, während Harry und die Eltern Woo lächelnd daneben stehen und sich freundlich zunicken. Sie kennen sich bereits lange, denn So-Ra und ich sind von klein auf unzertrennlich gewesen.

Dann machen wir unser Vorhaben wahr und begeben uns zügig in die alte Aula, um gute Plätze zu ergattern, bevor andere das tun. Bald schon gehört die fünfte Reihe unseren Familien. Wir markieren ausreichend Stühle mit den mitgebrachten Tüchern und schlendern wieder raus auf den Hof.
Dort ist es inzwischen noch voller geworden, und die Aufregung unter den Absolventen liegt spürbar in der Luft. Alle sind festlich gekleidet, machen sich gegenseitig Komplimente oder fragen einander, was sie nach dem Schulabschluss als nächstes machen werden.
In solchen Momenten lasse ich wie immer So-Ra reden. Ich selbst weiß nämlich noch gar nicht so richtig, wie es bei mir weitergehen soll. So-Ra wird ein duales Studium in Finanzwesen machen und ihre praktischen Semester in einer großen, renommierten Versicherungsgesellschaft absolvieren. Ihre Eltern haben ihr sogar eine kleine Zweizimmerwohnung in Uninähe gekauft. Ich bin still und lächele dazu.

Ich möchte auch gerne in die Stadt ziehen, das echte Leben genießen, mich ausprobieren, unabhängig sein. Aber Onkel Harry hat noch nicht so richtig angebissen. Er wird mir alles Erdenkliche ermöglichen - sobald er das Gefühl hat, dass ich eine Berufsvorstellung habe, die richtig zu mir und meinem Wesen passt. Aber genau dabei sind wir uns ... nicht einig. Onkel Harry lässt sich nicht erweichen. Und so lange ich mich bei ihm wohl und zu Hause fühle, bin ich schlicht zu träge, mich zu kümmern.

Zum Glück ist es nun Zeit, sich wieder in die Aula zu begeben, wo die Angehörigen zu den gebunkerten Stühlen streben. Wir Absolventen bleiben vor der Aula stehen und sortieren uns in der tags zuvor geübten Reihenfolge. Als drinnen alle einen Platz gefunden haben, spielt das Schulorchester leise Musik, während das Lehrer-Kollegium mit uns im Schlepptau feierlich in den Saal einzieht. Das Publikum erhebt sich, vereinzelt ist verstohlenes Winken zu beobachten, wir Schülerinnen und Schüler stellen uns bei den vordersten Sitzen auf. Das Kollegium geht weiter auf die große Bühne und nimmt die Plätze an den beiden Seiten ein.

Alle Anwesenden setzen sich, schalten auf höflich lächeln und verhalten applaudieren um. Aufgeregtes Tuscheln geht durch unsere Reihe. Ich hibbele auf meinem Stuhl wie ein kleines Kind. Ungeduldig lassen wir eine schier endlose Folge von höchst wichtigen, aber sterbenslangweiligen Reden über uns ergehen, die nur ab und zu durch Musik des Orchesters abgelöst werden.

Es kommt erst wieder Stimmung auf, als die eigentliche Zeugnisvergabe beginnt und wir Abgänger nacheinander aufs Podium gerufen werden. Ich kann es kaum erwarten, bis schließlich Cho Cornelia Sarang Namja aufgerufen wird. Alles an mir kribbelt vor lauter Vorfreude. Und auf einmal begreife ich, dass meine Kindheit und Schulzeit nun wirklich vorbei ist. Unter den Augen hunderter von Menschen stehe ich auf, laufe mit etwas wackeligen Knien zum Podium, steige möglichst elegant die kleine Treppe hinauf, nehme das Zeugnis und die Glückwünsche des Direktors entgegen und stelle mich zu den anderen an den hinteren Bühnenrand.

Ich hatte heute Morgen mit vielem gerechnet, aber ich hatte nicht erwartet, dass sich in genau dem Moment, in dem mein Name fällt, mein komplettes Lebensgefühl ändern würde. Ich bin von jetzt auf gleich ... irgendwie ... erwachsen geworden? Ich richte mich auf, stelle mich eleganter hin, schaue ins Publikum und fühle ... ..., dass ich nun die Verantwortung für mein Leben habe. Oder so.

Unauffällig suche ich das Publikum ab und finde bald Onkel Harry, der mit stolzer Miene und sowas wie väterlicher Zuneigung im Blick zu mir herauf schaut. Ich betrachte meinen Onkel. Der groß gewachsene Mann aus Berlin ist immer noch sehr attraktiv, obwohl er in ein paar Monaten schon in Rente gehen wird. Er war nie verheiratet, hat einen hervorragenden Job hier in Seoul und ist ganz in der Aufgabe aufgegangen, mich, seine Nichte, die Tochter seiner Schwester, behütet großzuziehen und mich auf ein Leben in beiden Kulturen vorzubereiten. Ich spüre tiefe Dankbarkeit für den Mann, der mein ganzes Leben lang für mich da gewesen ist.

Endlich sind alle Absolventen auf dem Podium und halten ihre Zeugnisse in der Hand. Anschließend werden noch einzelne für besondere Leistungen geehrt, zwei Stipendien vergeben - und gefühlt stundenlang Fotos gemacht.
Das lange Stehen und Lächeln macht mich ganz kribbelig. Wir haben es alle eilig, aus der Aula zu kommen. Die einen verschwinden noch zum stillen Örtchen, während die anderen zielstrebig den Sektempfang ansteuern, der bei strahlendem Wetter unter den alten Platanen auf dem Schulhof vorbereitet wurde. Familien stoßen miteinander an, Freunde plaudern, Adressen und Telefonnummern werden ausgetauscht. Es geht laut und fröhlich zu - und ich mittendrin in dem festlichen Trubel.

Während Onkel Harry und So-Ras Familie sich prächtig miteinander amüsieren, huschen wir beiden Mädchen davon, um noch ein allerletztes Mal unseren Lieblingsplatz aufzusuchen, an dem wir unzählige Pausen verbracht haben.
Es ist nicht ganz einfach, mit Spitzenkleid und Highheels auf einen Baum zu klettern. Aber wir waren schon so oft dort oben, wir haben Übung. Uns kann nichts mehr schocken. Also ziehen wir unsere Fußquäler aus, stecken unsere Kleider hoch und erklimmen kichernd den alten Baum neben der Garage des Hausmeisters. Dort oben zwischen den Zweigen lassen wir uns ein letztes Mal ungesehen auf der Kante vom Dach nieder, baumeln mit den Beinen und köpfen den mitgebrachten Piccolo.

Eine Weile beobachten wir von unserem Ausguck still das bunte Treiben auf dem Schulhof. Dann mustert So-Ra mich auf einmal neugierig, und ich weiß genau, was sie jetzt von mir erwartet.
"Nelli?"
"Hm?"
"Was denkst du grade?"
"Was ich dir jetzt antworten soll. Du weißt schon ..."
Vor einem halben Jahr hatten wir auch hier gehockt. Und miteinander verabredet, dass ich bis zum heutigen Tag eine Entscheidung über meine Zukunft treffen sollte - oder zusammen mit So-Ra das Studium beginnen würde. Meine Noten sind ja gut, aber nichts sticht so richtig heraus. Man sagt mir ein freundliches, sensibles Wesen nach, aber ich habe kaum Hobbys, die sich zum Beruf machen ließen. Außer rumphantasieren, was sich nicht sooo gut zum Beruf machen lässt. Ich kann und weiß alles so ein bisschen, habe sehr vieles mal ausprobiert. Aber nach einer erfüllten und abgesicherten Zukunft sieht nichts davon aus.

"Manchmal denke ich, Onkel Harry hätte mich nicht so lange auf Händen tragen und wie eine Prinzessin behandeln sollen. Ich fühl mich oft so ... nutzlos. Und unselbständig. Dann nerve ich mich selbst - und lenke mich schnell wieder ab, damit ich ja keine Konsequenzen aus diesen Beobachtungen und Gefühlen ziehen muss."
"Okay - wichtig. Denn damit sind wir schon beim Kern des Problems. Darf ich ehrlich sein?"
Ich nicke. Ich weiß, was jetzt kommt, und es wird keine angenehme Wahrheit sein. So-Ra hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen und trifft mit ihren Beobachtungen oft den Nagel auf den Kopf.

"Du wartest drauf, dass dein Onkel die Entscheidung für Dich trifft und dir wie schon dein ganzes Leben lang den Weg dahin öffnet. Das Blöde ist nur, dass er dich bei dieser Frage zum ersten Mal so richtig auflaufen lässt."
Die Stimmung kippt. Ich bin auf einmal traurig und mutlos. Vielleicht bin ich ja wirklich diese Prinzessin, die keine Verantwortung übernehmen will und kann.
"Und jetzt gibst Du schon wieder auf, statt dich anspornen zu lassen. Dabei will ich gar keinen konkreten Berufswunsch von dir hören. Dein Onkel auch nicht. Wir warten die ganze Zeit darauf, dass du träumst. Und darum kämpfst. Und siegst."

Eine Weile laufen mir still die Tränen. Das kann doch nicht alles sein! Also gebe ich mir einen Ruck. Hier und jetzt fälle ich eine Entscheidung.
"Ich ... kann keine Lebensträume vom Himmel zaubern. Aber ich kann mich für eine sinnvolle Ausbildung entscheiden und währenddessen die Zeit nutzen, meinen Träumen nachzuspüren. Alle Dinge dienen uns zum besten - wenn wir uns darauf einlassen."
Okay, das enthält Spurenelemente von einem Plan. Ich richte mich auf, kriege wieder Luft und meine Stimme klingt nun fester.

"Also werde ich mit dir Finanzwesen studieren, viel lesen, reisen und mir selbst auf die Spur kommen. Raus aus der Komfortzone - selber machen ist das Ziel."
Stille.
"Richtig?"
"Das weißt nur du. Wie fühlt es sich denn an, das auszusprechen?"
Ich denke einen Moment nach und spüre dann, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit macht.
"Richtig! Steht das Angebot noch, dass ich bei dir wohnen kann?"
Da wir inzwischen sicher vermisst werden, klettern wir wieder runter von der Garage, bringen uns schnell auf der Schultoilette wieder in einen vorzeigbaren Zustand und eilen zurück zu unseren Familien.

Dabei geht mir viel durch den Kopf. Morgen beim Frühstück will ich mit Onkel Harry darüber reden. Aber jetzt ist es erstmal dran, in der inzwischen umgestalteten Aula den Abschluss zu feiern mit einem rauschenden Ball, den ich unbeschwert genießen will. Der Entschluss fühlt sich richtig an. Das reicht für heute an Ernsthaftigkeit. Ich schalte wieder um auf "Party" und lasse mich fröhlich durch den Abend treiben. Ich tanze für mein Leben gern, und auch Onkel Harry ist ein sehr guter Tänzer. Ich schwebe mit seiner sicheren Führung über die Tanzfläche, genieße die bewundernden Blicke der Jungs, lasse mich aber auf keinen ein und tanze, bis mir fast die Füße abfallen. Leben - ich komme!

Müde gefeiert und zufrieden treten wir schließlich den Heimweg an. Im Taxi lege ich meinen Kopf auf Onkel Harrys Schulter und summe vor mich hin. Es war ein schöner Abend, ich bin noch immer ganz erfüllt von der Musik - und eine wichtige Frage hat sich geklärt.
Vorm Zubettgehen gebe ich Onkel Harry einen Kuss, bedanke mich für all seine Liebe mit einer festen Umarmung und verspreche ihm mit einem kleinen Zwinkern, dass ich morgen früh beim Frühstück eine Überraschung für ihn habe.

Am Sonntag schlafen wir beide traditionell bis in die Puppen und treffen uns dann irgendwann zu einem ausgiebigen Brunch im sonnendurchfluteten Erkerzimmer. Am großen Rund der Fenster entlang läuft eine breite Bank mit Polstern. Früher war diese Bank ein Regal mit meiner Kinderbibliothek und unseren Spielen. Heute steht davor ein ovaler Tisch mit schnörkelig geschwungenen Beinen und zwei Stühlen, die schön alt und ein bisschen abgestoßen aussehen und wie alle Polster im Raum mit altrosanem Rosenstoff bezogen.

Wir frühstücken immer stundenlang gemütlich vor uns hin, reden und schweigen, albern und philosophieren, spazieren manchmal durch den Garten und genießen die Ruhe. Onkel Harry war nie ein Kirchgänger. Wohl aber hat er mich ganz selbstverständlich kulturell geprägt und mich die Achtung vor allem Lebendigen gelehrt. Dazu gehört auch, dass der Sonntag ein Tag der Ruhe und Entspannung ist. An diesem einen Tag der Woche wird nicht gearbeitet und nicht gelernt. Dieser Tag gehört der Geselligkeit, der Selbstachtung, der Langsamkeit, der Dankbarkeit.

Heute ist jedoch etwas anders. Wir beide sind ungewöhnlich früh auf den Beinen trotz der langen Nacht, bereiten still nebeneinander her in der Küche das Frühstück zu und haben es fast eilig, ins Erkerzimmer zu kommen. Ich, weil ich meine Entscheidung verkünden will. Onkel Harry, weil er vielleicht genau das ahnt.
Es wundert mich darum nicht, dass er nach der ersten Tasse Kaffee herzhaft in sein Brötchen beißt und mich erwartungsvoll anschaut. Ich trinke einen Schluck Kaffee und halte seine Blicke still aus.
"Und - wofür hast du dich entschieden?"
Ich muss schmunzeln. Hat er mich doch schon wieder durchschaut! Aber ich will das ja erzählen. Ich bin neugierig auf seine Reaktion und lege darum sofort los.

"Ich glaube, ich habe gestern etwas kapiert. Es geht gar nicht darum, einen Beruf zu finden, der mich ernährt und mir einigermaßen Spaß macht. Es geht viel mehr ums Träumen. Think big, erreiche deine Ziele. Und finde deinen Weg da hin. Ich war und bin hier bei Dir immer reich beschenkt und glücklich gewesen. Du hast mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Ich ... ich musste nie um Träume kämpfen, sie mir nicht mal bewusst machen.
Das will ich jetzt alles nachholen. Ich möchte herausfinden, was mich ausmacht, was mich anspornt, was mich glücklich macht. Und während ich danach suche, möchte ich ein solides Studium absolvieren. Was danach kommt, werde ich sehen."

Etwas unsicher schaue ich meinen Onkel an. Gestern hat es sich so richtig angefühlt. Aber reicht das Harry, klingt das durchdacht, wird es ihn überzeugen?"
Er verzieht keine Miene, als er zurückfragt.
"Und welches Fach soll es sein?"
Noch einmal atme ich tief durch.
"Ich möchte mit So-Ra zusammen Finanzwesen studieren. Nicht, weil ich an So-Ra kleben bleiben und mich mitschleppen lassen will. Sondern ich denke, dass ich das für egal welche Lebensrichtung hinterher brauchen kann. Ob ich zum Beispiel in einer Bank lande, mich mit irgendwas Kreativem selbständig mache, im Lotto gewinne oder um die Welt tingele - ich muss immer in der Lage sein, meine Bedürfnisse und Lebensträume auf ein tragfähiges finanzielles Fundament zu stellen."

"So rational?"
"Genau. Denn das wird mich intellektuell beschäftigen - und mir nebenbei Raum lassen, mit dem Herzen an meiner Zukunft zu bauen."
Wieder klingt es richtig, was ich da ausspreche. Es scheint sogar über Nacht noch klarer geworden zu sein.
Onkel Harry entspannt sich und lächelt. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn er jetzt wieder gebremst hätte, hätte mich das doch sehr verunsichert.
"Das freut mich. Sehr. Du hast jetzt ein Jahr lang rumgeeiert zwischen vernünftigen Argumenten, Trends, Utopien und dem Versuch, das zu finden, was ich vielleicht hören wollen könnte.
Das hier klingt, als hättest du verstanden, dass du dein Herz mitnehmen musst, wenn du an ein Ziel kommen willst. Ich bin sehr gespannt, was bei deiner Herzensreise rauskommen wird. Dass dein Examen so gut sein wird wie dein Schulabschluss - daran zweifle ich nicht. Na dann ... auf ins Leben, Liebes."

So viel Entschlussfreudigkeit bin ich gar nicht von mir gewohnt. Aber ich mache das Beste draus. Onkel Harry stärkt mir mit seiner Reaktion den Rücken, alle nötigen Adressen und Informationen bekomme ich von So-Ra. Bereits zwei Wochen später bin ich an der Sangmyung University Seoul eingeschrieben und habe einen Termin zum Vorstellungsgespräch in der selben Firma, in der auch So-Ra arbeiten wird. Danach heißt es noch eine Woche zittern und warten, bis ich - hoffentlich - einen Vertrag zugeschickt bekomme. Jetzt, wo ich einen Weg skizzieren, Ziele formulieren kann, kann ich es kaum erwarten, endlich durchzustarten.

In der Zwischenzeit überlegen Harry und ich, wo und wie ich während des Studiums wohnen werde. Ich könnte natürlich einfach in der alten Villa bleiben oder zu So-Ra ziehen. Aber Onkel Harry gibt mir noch einen anderen Gedankenanstoß.
"Was brauchst du, meine Liebe, damit dein Zuhause ein Ort ist, an dem du dich in allen Lebenslagen wohl und zufrieden fühlst?"

Getreu meinem Vorsatz antworte ich nicht sofort sondern streife zwei Tage lang durch Haus und Garten. Ich sehe, höre, rieche und ertaste meine bisherige Welt und genieße es sehr, mich nun so ganz anders mit mir selbst zu beschäftigen als jemals zuvor. Es ist, als hätte ich einen Schalter umgelegt im Kopf. Ich stelle fest, dass ich zwar den Garten liebe und wahrscheinlich nie ohne Pflanzen um mich drumrum leben will. Betonwüste ist also nichts für mich. Aber einen großen Garten pflegen oder einen Gärtner beschäftigen - das könnte ich mir niemals leisten, und schon gar nicht in Seoul. Mir wird es genügen, eine breite Fensterbank oder einen kleinen Balkon zu haben, wo meine Lieblingsblumen wachsen können. Das Vogelzwitschern wird mir wahrscheinlich fehlen. Aber vielleicht ... kann ich in der Nähe von einem Park wohnen?

Bei einer kleinen Shoppingtour im Trubel einer der großen Malls von Seoul stelle ich fest, dass ich die frische Luft und die Stille des Anwesens vermissen werde. Überhaupt. In der Stadt ist es immer laut. Es riecht überall nach Essen, Autos, Zigarettenkippen und Schlimmerem. Die große Stadt schläft nie. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, brauche ich aber die Ruhe - zumindest nachts - damit ich entspannt, ausgeruht und zufrieden sein kann. Je länger ich darüber nachdenke und Wohnungsanzeigen durchforste, desto mehr wird mir bewusst, dass eine großzügige Wohnung in Parknähe, ohne fette Straße vor der Tür und trotzdem mit optimaler öffentlicher Verkehrsanbindung "leicht" utopisch und schlicht nicht bezahlbar ist. Irgendwie hänge ich immer noch in den Gewohnheiten meines bisherigen Lebens fest. Mir wird mal wieder bewusst, dass meine Sorglosigkeit ein echter Luxus ist, den sich kaum jemand leisten kann.

Also treffe ich mich mit So-Ra in einem Cafe. Wir reden lange darüber, So-Ra spiegelt mir, wie sie mich zu Hause oder draußen wahrnimmt. Ich versuche herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist, und worauf ich verzichten kann. Bald kristallisiert sich heraus, dass Ruhe und eine brauchbare Anbindung viel mehr zählen als Großzügigkeit und ein Park.

Mit diesen Erkenntnissen kann ich dann endlich Onkel Harrys Frage vernünftig beantworten.
"Das klingt alles sehr realistisch und echt. Ich bin stolz auf dich, dass du jetzt so zielstrebig und beharrlich deine Ziele verfolgst und darauf achtest, was du brauchst. Dann lass uns auf die Suche gehen."
"Heißt das, ... dass du mir bei der Suche hilfst? Ich ... weiß gar nicht, was ich mir leisten kann. Studiengebühren, Fachbücher, ordentliche Bürokleidung, Mobilität in der Stadt ... Kannst du mir helfen, meine Lebenshaltungskosten zu planen? Wieviel ich im ersten Jahr an der Praxisstelle verdiene, hab ich schon rausgefunden."
"Natürlich helfe ich dir. Und natürlich musst du deine Bedürfnisse nicht völlig zurückschrauben. Wir werden ein gesundes Mittelmaß finden."
"Danke! Du bist der Beste!"

Während Onkel Harry mit diesen Vorstellungen drei Makler beauftragt, nach einem geeigneten Objekt zu suchen, planen So-Ra und ich die große Reise, die wir zum Schulabschluss geschenkt bekommen haben. Vier Wochen lang werden wir - mit Rucksäcken bewaffnet - kreuz und quer durch die USA reisen und so viel wie möglich Abenteuer irgendwo zwischen New York und San Francisco erleben.

Nach unserer Rückkehr vom Traumurlaub finde ich eine dicke Mappe auf meinem Schreibtisch. Die ersten Angebote. Neugierig blättere ich den Ordner durch - und suche mir sofort einen Job in einem Cafe. Das wird alles noch viel teurer, als ich erwartet hatte! Doch bald ist die ideale Wohnung gefunden, und ich schiebe im Geiste Möbel, um herauszufinden, wie ich mein nächstes Zuhause einrichten will. Ein paar Wochen später finde ich beim Frühstück ein Papier neben meinem Teller. Noch vor der ersten Tasse Kaffee greife ich danach und riskiere einen Blick. Es ist die Überschreibungsurkunde der Wohnung.
"Als kleiner Ansporn, dass du weiter so zielstrebig an deiner Zukunft baust wie in den letzten Monaten."

Ich bin ganz hin und weg. So mal eben eine Wohnung. Mitten in Seoul! Ich falle meinem Onkel um den Hals und bedanke mich tausendmal. Was würde ich nur ohne meinen einzigen Verwandten machen?
Jetzt kann ich kaum noch erwarten, dass im Oktober das Semester beginnt, ich schaue positiv, neugierig und hoch motiviert in meine Zukunft.

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10.12.2022    -    6.3.2024

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