2 - Gefangen zwischen Kacheln

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‚Scheiße!' Das ist der erste Gedanke, der wie ein Tornado durch meinen Kopf wirbelt, als ich meine Augen öffne. Dicht gefolgt von: ‚Was zum Teufel ist mit mir passiert?' Obwohl ich in einen Schleier der Ahnungslosigkeit gehüllt werde, spüre ich sofort, dass etwas anders ist. Nicht positiv anders, sondern negativ anders.

Ächzend setze ich mich auf und reibe mir über die Schläfen. Mein dröhnender Schädel lässt eine wilde Partynacht vermuten, aber ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so richtig feiern war.

Vielleicht mit 18, als Lucy, David und ich jedes Wochenende einen anderen Club unsicher gemacht haben? Oder vor zwei Jahren, als wir mit dem Eishockeyteam die Meisterschaft gewonnen haben?

Ich weiß es nicht. Fakt ist jedoch, dass es nicht gestern war. Warum also fühlt sich mein Kopf so an, als würde er jeden Moment explodieren?

In der Hoffnung, Antworten auf meine Fragen zu finden, lasse ich meinen Blick auf Wanderschaft gehen. Nur um einen Wimpernschlag später ein entsetztes Keuchen von mir zu geben.

Das soll wohl ein Scherz sein, oder?

Ich blinzele zweimal, aber blöderweise verändert sich das Bild vor meinen Augen nicht.

Niemand Geringeres als Mile Harrison sitzt neben mir auf dem Boden. Er trägt einen grauen Kapuzenpullover, eine verwaschene Jeans und dunkelblaue Socken, auf denen irgendein Pokémon abgebildet ist. Seine honigblonden Locken sind verwuschelt und in seinen blauen Iriden, die manchmal genauso unergründlich und tief wie der Ozean sind, spiegelt sich ein Ausdruck der Verwirrung wider.

Na toll ...

Ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich bin, geschweige denn was passiert ist. Dass mich der größte Idiot aller Zeiten mit seiner Anwesenheit beehrt, macht die ganze Sache nicht besser. Im Gegenteil!

Wie eigentlich immer, wenn Mile und ich in demselben Raum sind, starte ich einen verbalen Angriff. Einfach aus Gewohnheit. „Du siehst ja richtig verzweifelt aus, Mile", lenke ich seine Aufmerksamkeit mit einem spöttischen Schnauben auf mich. „Brauchst du vielleicht eine Landkarte oder ein Navi für deine Gedanken?"

„Haha." Er rollt mit den Augen. „Du solltest Comedian werden, Eiskönigin. Oder Clown!"

Jetzt liegt es an mir, die Augen zu verdrehen.

Warum habe ich diese Nervensäge überhaupt angesprochen? Ich hätte froh sein sollen, dass er endlich mal die Klappe hält.

Da Mile ausnahmsweise mal nicht mein größtes Problem ist, beschließe ich, ihn zu ignorieren, und hieve mich vom Boden auf. Mein Körper fühlt sich schwer und taub an. Als würde er nicht mir gehören, sondern einer anderen Person.

Oh man. Ob ich vielleicht doch eine wilde Partynacht hinter mir habe?

Ich möchte gerade in meinen Erinnerungen kramen, um diese blöde Ungewissheit loszuwerden, da säuselt Mile plötzlich amüsiert: „Nettes Bild, Eiskönigin."

„Hä?" Ich drehe mich zu ihm und runzele die Stirn. Keine Ahnung, wo wir uns hier befinden, aber von Fotos ist weit und breit keine Spur. Wahrscheinlich hat Mile noch ebenso wie ich Restalkohol im Blut und faselt deshalb so wirres Zeug.

Aber Alkohol hin oder her: Warum sind wir zusammen an diesem Ort? Selbst meine ehemalige Mathelehrerin, die ich bis aufs Blut nicht ausstehen konnte, wäre gerade eine bessere Gesellschaft als Mister Obercool.

„Komm her, Eiskönigin!", fordert mich Mile nun energisch auf. Er steht etwa fünf Meter entfernt von mir und streckt seine Hand nach mir aus.

Denkt der ernsthaft, dass ich seine Flosse anfassen werde? Igitt! Wer weiß, was für Keime ich mir dabei einfangen würde ...

„Jetzt stell dich nicht so an!", seufzt Mile genervt. Entweder er kann meine Gedanken lesen oder mein angeekelter Gesichtsausdruck verrät mich. Wahrscheinlich Letzteres. „Ich beiße schon nicht!" Ein freches Grinsen zupft an seinen Mundwinkeln. „Und wenn doch, dann nur ganz vorsichtig und sanft. Vielleicht in dein Ohrläppchen? Oder deinen Hals? Oder-"

„Ist ja gut, du Perversling!", unterbreche ich seine kranken Fantasien, indem ich den Abstand zwischen uns überbrücke. Natürlich, ohne seine Hand anzunehmen, die er mir immer noch entgegenhält. Sicher ist sicher.

Neben Mile angekommen, schaue ich ihn erwartungsvoll von der Seite an.

Um uns herum herrscht gähnende Leere. Hier befindet sich absolut gar nichts. Keine Gegenstände und keine Lebewesen. Nicht mal Wände oder eine Zimmerdecke gibt es. Es scheint, als würden wir auf einem Untergrund stehen, der sich bis ins Unendliche erstreckt. Wo genau Mile hier ein Bild gesehen haben möchte, weiß ich nicht.

Na ja, Alkohol oder Drogen können einen ja auch gewisse Dinge sehen lassen ...

„Wie alt warst du da?", erkundigt sich Mile auf einmal neugierig bei mir.

Da ich keine Ahnung habe, wovon er spricht, kann ich zum zweiten Mal binnen weniger Minuten nur ein unintelligentes „Hä?" von mir geben.

Mile lacht. Wie immer scheint ihn meine Ahnungslosigkeit köstlich zu amüsieren. „Schau doch mal auf den Boden, Eiskönigin", gibt er mir schließlich einen Tipp.

Sofort lasse ich meinen Blick nach unten wandern und erstarre.

Was soll das? Wie ist dieses Foto hierhin gekommen?

Unter unseren Füßen befindet sich kein gewöhnlicher Untergrund. Stattdessen erstreckt sich dort ein riesiges Gemälde, das meinen Vater und mich zeigt.

Wir stehen gemeinsam in dem Stadion der Thunderblades und grinsen fröhlich in die Kamera. Während ich in meiner viel zu großen Eishockeymontur versinke, trägt mein Vater ein T-Shirt, auf dem die Silhouette einer kleinen Eishockeyspielerin abgebildet ist. Darüber steht in schnörkeligen Buchstaben geschrieben Hart wie das Eis, schnell wie der Flug, das ist Elsie, sie gewinnt jeden Zug.

Dieses besondere Foto ist damals eine halbe Stunde vor meinem allerersten Eishockeyspiel entstanden. Ich weiß noch genau, wie furchtbar aufgeregt ich war. Mein Vater hat mit allen Mitteln versucht, mir Mut zuzusprechen, aber das hat nur bedingt funktioniert.

Fünf Minuten vor Anpfiff war meine Nervosität dann so groß, dass ich mich übergeben musste. Vielleicht hätte ich es noch geschafft, zur nächsten Toilette zu laufen, aber ich habe mich bewusst dafür entschieden, auf Miles Sporttasche mit den hässlichen Pokémons zu kotzen.

Zum Glück hat er das erst nach dem Spiel bemerkt, sonst hätte er mich bestimmt mit seinem Eishockeyschläger verprügelt. So ist es dann bei einem angewiderten Gesichtsausdruck und Krokodilstränen geblieben.

„Und?", reißt mich Mile höchstpersönlich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. „Weißt du jetzt, wie alt du auf dem Foto warst?"

„Sechs", antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Das war mein allererstes Eishockeyspiel."

Obwohl wir damals gewonnen haben, konnte ich mich im Anschluss nicht freuen. Nicht etwa, weil ich kein Tor geschossen habe, sondern weil Mile behauptet hat, dass ich die schlechteste Spielerin auf dem Eis gewesen sei. So dumm und naiv wie ich war, habe ich ihm natürlich geglaubt.

Seine Worte haben so einen großen Schaden bei mir angerichtet, dass ich zwei Wochen lang nicht zum Eishockeytraining gegangen bin. Es hat meine Eltern all ihre Überredungskünste gekostet, mich zurück auf die Eisfläche zu schicken.

„Krass", murmelt Mile leise neben mir. Ob er sich wohl noch an das Spiel gegen die Frostbite Flyers erinnern kann? Wahrscheinlich nicht. „Dann bist du ja gar nicht so viel später ins Team gekommen als ich."

Nein, nur sieben Monate, drei Wochen und fünf Tage später.

Da ich äußerst ungern an das beißende Gefühl der Enttäuschung zurückerinnert werden möchte, wechsele ich das Thema, indem ich Mile frage: „Wo kommt dieses Foto her? Und wo zum Geier sind wir hier überhaupt?"

So sehr ich mich auch bemühe, die vergangenen Stunden Revue passieren zu lassen: Meine Erinnerungen sind hinter dicken, schwarzen Gitterstäben der Ungewissheit eingesperrt.

„Ich habe da so eine Theorie ..." Mile kratzt sich nachdenklich am Kinn. Zu gerne würde ich ihm sagen, dass er wie ein Affe aussieht, doch ich beiße mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Auch wenn ich es liebe, ihn zu ärgern, ist es mir gerade wichtiger, zu erfahren, wo wir uns befinden.

„Lass hören!", fordere ich ihn deshalb ungeduldig auf.

„Na schön", seufzt Mile. „Komm mit." Er setzt sich in Bewegung und ich trotte ihm widerwillig hinterher. Wir folgen so lange dem Foto von meinem Vater und mir, bis wir einen schwarzen Balken erreichen, der nahtlos an dem Bild anknüpft.

In der linken, oberen Ecke steht die Uhrzeit. 4:15 PM.

Mein Blick wandert weiter und stoppt in der rechten, oberen Ecke. Dort sind mehrere Symbole zu sehen. Eine Batterie, ein durchgestrichener Lautsprecher, ein WLAN-Zeichen und ein Akku, neben dem ein Wert von 100% angezeigt wird.

„Na, weißt du jetzt, wo wir sind?"

„Nein", antworte ich sofort. Zwar kommen mir die ganzen Symbole bekannt vor, aber ich schaffe es nicht, eine Verbindung zwischen ihnen und diesem merkwürdigen Ort herzustellen.

„Nicht schlimm. Dann zeige ich dir halt noch etwas." Mile macht auf dem Absatz kehrt und läuft zu dem anderen Ende des Fotos. Auch dort befindet sich eine schwarze Leiste. Links sind drei senkrechte Striche zu sehen, in der Mitte erkenne ich ein Quadrat und rechts zeigt eine Pfeilspitze zur Seite.

Während ich mir die Symbole ganz genau anschaue, kann ich Miles erwartungsvollen Blick wie feine Nadelstiche auf meiner Haut spüren. Auch wenn es mich nervt, das dumme Blondchen zu sein, habe ich noch immer keinen blassen Schimmer, wo wir hier sind.

„Ach, Eiskönigin", seufzt Mile, „ich habe wirklich mehr Grips von dir erwartet." Er schüttelt gespielt enttäuscht seinen Kopf. Dann fragt er mich: „Woran erinnern dich diese ganzen Symbole denn?"

„Keine Ahnung!", fauche ich gereizt zurück. „Würde ich das wissen, hätte ich es dir schon längst gesagt."

Ein amüsiertes Funkeln blitzt in Miles Augen auf. „Ich gebe dir noch einen allerletzten Tipp, okay?"

Obwohl mich dieses Ratespiel nervt, nicke ich. Aber auch nur, weil ich ganz genau weiß, dass Mile sonst nicht mit der Sprache rausrücken würde. Dafür liebt er es viel zu sehr, mich in den Wahnsinn zu treiben. Was ehrlich gesagt auf Gegenseitigkeit beruht.

„Schau gut zu, Eiskönigin!"

Mile geht in die Hocke und streckt mir extra seinen Hintern entgegen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber für einen Mann hat er einen sehr wohlgeformten Po.

Zum Glück kann ich nicht länger als drei Sekunden auf sein knackiges Hinterteil starren, denn Mile wischt nun mit seiner Hand über den Boden. Von unten nach oben. Ganz langsam.

Was dann passiert, lässt mich überrascht den Atem anhalten.

Das Foto von meinem Vater und mir verschwimmt. Stattdessen erscheinen mehrere Kacheln auf dem Untergrund, die mit kurzen Bezeichnungen versehen sind.

„Ach du Scheiße!", entfährt es mir leise. „Sind das ..." Ich wage es nicht, weiterzusprechen. Zu groß ist meine Angst, dass meine Befürchtung dadurch real wird.

„... Apps?", vervollständigt Mile blöderweise meine Frage. „Ja, sind es."

Ich spüre, wie mein Herz für einen Schlag aussetzt, nur um gleich darauf doppelt so schnell weiterzuhämmern. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und mein ganzer Körper überzieht sich mit einer Gänsehaut.

Play Store. Telefon. Galerie. Kamera. Uhr. Kontakte.

Meine Augen fliegen über die bunten Kacheln, ohne einen Stillstand herbeizuführen. Übelkeit und Schwindel steigen währenddessen in mir auf und zwingen mich dazu, meine Hände auf den Oberschenkeln abzustützen. Nicht, dass ich gleich noch wie ein Kartenhaus in mir zusammenfalle.

„Keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber ich glaube, dass wir in deinem Handy gelandet sind, Eiskönigin."

Miles Worte dringen wie durch Watte gedämpft zu meinen Ohren hindurch. Gleichzeitig löst sich der schwarze Schleier in meinem Hirn und gibt die Sicht auf meine Erinnerungen frei.

Ich erkenne drei verschiedene Nachrichten auf WhatsApp. Lucys Ausrede mit den toten Goldfischen. Davids Notlüge mit Javiers Fußballtraining. Und Miles Drohung mit dem Stein.

Die Nachrichten verblassen und wechseln zu einer Ansicht meines Zimmers. Mile und ich hocken gemeinsam auf dem pinken Flauschiteppich. Im Hintergrund ist mein altes Samsung-Handy mit den SpongeBob-Stickern am Ladekabel angeschlossen.

Zuletzt sehe ich, wie ich mein Handy einschalte und es kurz darauf wieder fallenlasse, weil ein Stromschlag durch meinen Körper zuckt.

Scheiße! Kann es echt sein, dass Mile und ich in das Samsung-Handy gesogen wurden? Aber wie soll so etwas möglich sein? Ich kneife mir in die Handinnenfläche, um aus diesem Albtraum aufzuwachen, aber leider passiert nichts dergleichen. Mein Blick ruht weiterhin auf den vielen bunten Kacheln, die langsam zu einem Farbbrei verschwimmen.

„Ist da etwa jemand sprachlos?", hat Mile nichts Besseres zu tun, als sich über mich lustig zu machen. „Soll ich dir vielleicht eine Landkarte oder ein Navi für deine Gedanken besorgen?" Wow, jetzt verwendet er auch noch meine eigenen Witze gegen mich. Was für ein Idiot!

„Hör auf, so blöde Sprüche zu klopfen!", fauche ich ihn aufgebracht an. „Denk lieber darüber nach, wie wir hier wieder rauskommen!"

Ich hasse es, dass Mile so ruhig ist und so dämlich vor sich hin grinst. Ist ihm denn gar nicht bewusst, in was für einer beschissenen Situation wir uns gerade befinden?

„Keine Sorge, Eiskönigin, darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht", behauptet er.

Schwer vorzustellen, dass er seine Gehirnzellen auch mal für etwas Sinnvolles nutzt ...

„Ach ja?" Ich hebe zweifelnd meine Augenbrauen. „Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?"

Mile macht ein paar Schritte auf mich zu und kniet sich dann mit einem gewissen Sicherheitsabstand auf den Boden. Seine Stimme klingt ungewöhnlich ernst, als er sagt: „Wir müssen alle Apps einmal ausprobieren, um wieder nach Hause zu gelangen."

Das ist ein Scherz, oder? Ich werde ganz bestimmt nicht mit Mile Harrison von App zu App hüpfen! Das ist doch lächerlich! Außerdem bezweifele ich, dass seine Taktik wirklich funktionieren würde.

„Bevor du direkt rummeckerst", unterbricht Mile meine Gedanken, „hör mir kurz zu, Eiskönigin." Sein Blick ist so flehend, dass ich die Augen verdrehe und mit einem imaginären Schlüssel meinen Mund abschließe. „Es gibt einen Film, in dem zwei Teenager in ein Handy gesogen werden. Also genauso, wie es bei uns der Fall ist. Die beiden haben sich alle Apps angeschaut und wurden dann am Ende zurück in die echte Welt gespuckt. Ich denke, dass das auch bei uns funktionieren könnte."

Im Gegensatz zu Mile bin ich misstrauisch. Da ich aber keinen besseren Plan habe, seufze ich und stimme ihm notgedrungen zu. „Okay. Dann lass uns mal von App zu App hüpfen!"

Und hoffen, dass wir uns dabei nicht gegenseitig umbringen!

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