Zwei

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Insgeheim war ich mehr als erleichtert, die Einkaufsstraße Gloamwoods fast vollkommen leer vorzufinden, als ich am kommenden Montagvormittag in Richtung meines neuen Arbeitsplatzes steuerte. Ich war nicht überrascht, festzustellen, dass sich seit meinem letzten Besuch nichts, aber auch gar nichts verändert hatte. Die Läden waren noch immer nicht renoviert worden und versprühten dadurch den typisch englischen Kleinstadtflair. Das Tagesgericht im Restaurant war seit Jahren jeden Montag dasselbe und auch der Metzger hatte seinen Kilopreis wohl noch nie geändert.

Die Mittagssonne stand bereits hoch am Himmel und warf mit ihren ersten Strahlen ein warmes Licht auf das bunte Laub an den Bäumen. Zum Teil lag die Sonne hinter einer dichten, dunkelblauen Wolkenbank versteckt. In ihren Lichtkegeln tanzte der Staub auf und ab. Erst in der Helligkeit konnten die Bewegungen der winzigen Punkte enttarnt werden; deshalb setzte ich noch immer auf die Dunkelheit. Sie war schwarz und undurchschaubar und machte die Menschen blind für das, was sie nicht an mir sehen sollten. Zurzeit war sie mein bester und wohl einziger Freund.

Als hätte man auf einen Schalter gedrückt, beschleunigte sich mein Herzschlag, sobald das Café in Sichtweite kam. Auch dieses war keinerlei Veränderung unterzogen worden. Noch immer schmückte das gleiche verwitterte Ladenschild mit der Aufschrift TEA UpTEAll 10 die Häuserwand. Die blau-weiß gestreifte Markise war eingefahren, die Stühle vor dem Gebäude übereinandergestapelt und aneinander gekettet worden, um sie vor Diebstahl zu schützen. Tau glitzerte auf den Tischplatten. Ich lehnte das verrostete Fahrrad an die Hauswand, schloss es ab und nahm meine Handtasche aus dem Korb vor dem Lenker. Währenddessen warf ich so unauffällig wie möglich einen Blick durchs Fenster. Schemen bewegten sich im Inneren des Cafés, doch viel mehr konnte ich nicht erkennen.

Kurz schloss ich die Augen, um mich zu sammeln und die kühle Herbstluft in meine Lungen aufzunehmen. Ich wusste nicht, was mich erwarten und wie ich auf fremde Menschen reagieren würde. Ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mich ausgerechnet bei einem Café zu bewerben – dort, wo ich dem Kontakt zu Menschen nicht entgehen konnte? Dabei war meine Psychologin der Meinung gewesen, dass es das beste für mich sei. Und vielleicht hatte sie Recht. Selbst wenn es am Anfang schwer war, ich musste mein Sozialleben wiederherstellen und endlich meine Angst überwinden. Der einzige Weg dafür war, unter Leute zu gehen; mich meiner Angst zu stellen; aus meinem Schneckenhaus zu kriechen. Ich wollte wenigstens den Kopf hinausstrecken und spüren, wie der Geruch der Freiheit in meiner Nase kitzelte.

Gestern Nachmittag hatten meine Vorbereitungen auf diesen Tag lediglich daraus bestanden, einen Teil der neuen Folgen meiner Lieblingsserien nachzuholen, die ich in den letzten Monaten nicht hatte schauen können. Außerdem hatte ich mit meinem Bruder und meiner Mutter und anschließend meinem Dad telefoniert, die sich vergewissern wollten, dass ich mich wohl fühlte bei meiner Cousine. Auf alles weitere hatte ich meiner Psyche und meinem Schlafrhythmus zuliebe verzichtet.

Die Tür öffnete sich und ich zuckte erschrocken zusammen. Ein Mann in Anzug kam mit einem Kaffeebecher in der einen und einem Aktenkoffer in der anderen Hand heraus und rauschte an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Das konnte ja lustig werden.

Ehe die Tür ins Schloss fallen konnte, machte ich einen Satz auf den Eingang zu und trat über die Schwelle. Das allseits bekannte Bimmeln, das ich von meinen bisherigen Besuchen gewohnt war, blieb zum ersten Mal in meinem Leben aus, da ich die Tür nicht selbst geöffnet hatte. Ein mulmiges Gefühl überkam mich. Ob das ein böses Omen war? Ein Zeichen für Veränderung? Fast hätte ich über mich selbst die Augen verdreht. Samantha hatte allein durch den kurzen Kontakt zu mir schon viel zu viel Einfluss auf mich.

Unsicher huschten meine Augen von links nach rechts – von den Sitzbänken, Stühlen und Tischen aus hellem Buchenholz, die im Raum verteilt standen, zu der Theke und der schwarzen Tafel, die darüber an der Wand hing und die Besucher über die Getränkeauswahl informierte. Am Fenster entdeckte ich einen Mann mittleren Alters, der sich mit einem Glas Cappuccino in den Händen auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und konzentriert auf seinen Laptop starrte. Weiter hinten saß eine alte Dame. Das Kreisen ihres Löffels in der Teetasse mischte sich unter das Rauschen einer Kaffeemaschine, doch das Blättern ihres Klatschmagazins ging gänzlich im Geplänkel der leisen Popmusik unter, die aus den Lautsprechern an der Decke drang.

Hinter der Theke stand mit dem Rücken zu mir ein junger Mann und hantierte an einer Gerätschaft, aus der an sämtlichen Stellen eine braune Flüssigkeit sickerte. Er fluchte und zog den Stecker, wodurch er zwar das Zischen zum Verstummen brachte, nicht aber verhinderte, dass der Kaffee unablässig aus der Maschine floss. Inzwischen hatte sich eine braune Pfütze auf der Arbeitsplatte gebildet. Der Typ drehte sich um und riss einige Tücher von einer Küchenrolle ab. Dabei erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht. Obgleich es auf jeden Fall einen zweiten Blick wert gewesen wäre, sah ich schnell weg, aus Angst, er könnte es bemerken.

Unentschlossen blieb ich inmitten des Raumes stehen. Mein Instinkt war, die Flucht zu ergreifen. Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür; nur wenige Schritte zurück in meine Komfortzone, mein Schneckenhaus.

Der Typ war noch immer mit der Theke beschäftigt. Niemand würde es bemerken, wenn ich sang- und klanglos wieder verschwand. Nicht er, nicht die Dame in der Ecke, nicht der Mann, der permanent auf seinen Laptop starrte. Aber mein Problem war die Psychologin. Was sollte ich ihr erzählen?

Kalter Schweiß trat aus den Poren auf meinem Rücken, als ich mich vorsichtig auf die Theke zubewegte. Etwa einen halben Meter davor kam ich zum Stehen und atmete einmal tief ein und aus. Der junge Mann nahm noch immer keinerlei Notiz von mir. Das Malheur, das die Kaffeemaschine verursacht hatte, schien seine Aufmerksamkeit voll und ganz zu beanspruchen.

Ich warf einen letzten verzweifelten Blick auf die kleine Silberkette mit dem Schlangenanhänger, der an meinem linken Fußgelenk baumelte, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass das kleine Reptil mir Glück bringen würde.

Mein Puls beschleunigte sich, als ich mich räusperte. »Hallo.«

Endlich blickte er überrascht auf. »Hi!«

Einen Moment lang starrte ich ihn perplex an und musste feststellen, dass all die Gedanken, die ich mir über meine nächsten Worte und die darauf folgenden potenziellen Antworten gemacht hatte, völlig umsonst gewesen waren. Mein Kopf war leer. Blackout.

»Hast du dich schon entschieden, was du haben möchtest?«, half er mir auf die Sprünge. Seine tiefe, irgendwie angenehme Stimme riss mich aus meiner Starre.

Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Nicht auf seine Worte, aber noch weniger auf den intensiven Blick aus seinen bernsteinfarbenen, hinter dichten Wimpern verborgenen Augen. Beides brachte mich derart aus den Konzept, dass ich nur stottern konnte.

»Ich ... nein ...« Ich stockte, da mir bereits nach zwei Wörtern die Luft ausging, und zwang mich, einmal tief durchzuatmen, um nicht das gesamte Gespräch lang zu reden wie eine Siebenjährige mit Sprachstörungen und Lampenfieber beim Vorlesen vor der Klasse.

Der Kellner vor mir wartete geduldig auf meine Antwort, doch die Verwirrung spiegelte sich in jedem seiner Gesichtszüge wider.

»Ich - «, setzte ich ein weiteres Mal an.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. »Du...?«

Mein armes Herz, das gerade dabei gewesen war, sich wieder ein wenig zu beruhigen, begann erneut zu rasen. Schweiß bildete sich in meinen Handflächen.

Ich bin neu hier.

Ich bin neu hier.

Ich bin neu hier und fange heute mit der Arbeit an.

Ich bin neu hier und fange heute mit der Arbeit an.

Ich bin neu hier und fange heute mit der Arbeit an.

Verdammt, sag es doch einfach. Sag es. Es ist nur ein Satz. Sag es doch einfach.

»Ich bin neu hier.«, brachte ich schließlich heraus. Der zweite Teil blieb mir im Hals stecken.

Der Typ starrte mich verständnislos an, den Mund halb geöffnet.

»Ich habe mich auf eine Stelle beworben und sollte heute anfangen«, beeilte ich mich zu sagen. Ein tiefes Loch, in dem ich versinken konnte, wäre jetzt mehr als hilfreich.

Er öffnete die Lippen zu einem stummen »Aaah!« und nickte. »Okay, warte kurz, ich mache das nur noch sauber.« Sein Kinn deutete in Richtung der Kaffeemaschine.

Irgendwie brachte ich ein zustimmendes »Mhm« heraus. Ich sah zu, wie er einige Lappen auf den Boden drückte, um die Flüssigkeit einzusaugen. Dabei kam ich nicht umhin, ihn genauer zu mustern. Sein kurzes dunkelbraunes Haar war an den Seiten kaum merklich kürzer, hing ihm dafür aber von oben ein wenig in die Stirn. Obwohl es Herbst war, war seine Haut sonnengebräunt, und er trug ein kurzärmliges T-Shirt mit dem Logo des Cafés zu einer Jeans. Ich ließ meinen Blick weiter zu seinen sehnigen Unterarmen wandern. Welchen Sport machte er wohl, dass er solche Arme hatte? Tennis? Nein, wahrscheinlich ging er einfach ins Fitnessstudio. Bevor meine Aufmerksamkeit auch von seinen Oberarmen eingenommen werden konnte, zwang ich mich, wieder nach oben zu schauen.

Dort erwartete mich ein Paar bernsteinfarbener Augen. »Ich bin fertig.«

Die Hitze schoss mir ins Gesicht. Hatte er etwa bemerkt, dass ich ihn angestarrt hatte? Wenn dem so war, verriet ihn sein Gesichtsausdruck jedenfalls nicht.

»Kommst du mit?«, riss er mich aus meinen Gedanken.

»Wohin?« Meine Finger krallten sich um das Armband an meinem linken Handgelenk. Es war aus Wolle. Pink, lila, blau. Ich hatte es selbst geknüpft.

»In den Mitarbeiterraum?«, schlug er vor.

»Oh. Klar.« Innerlich stieß ich ein nervöses Lachen aus, das glücklicherweise nur in meinem Kopf existierte. Eilig folgte ich dem jungen Mann hinter die Theke und durch eine angelehnte Tür mit der Aufschrift Eintritt nur für Mitarbeiter. Das Zimmer dahinter war relativ klein, bot jedoch genug Platz für eine kleine Eckbank und einen Tisch sowie eine Reihe hellblauer Schließfächer.

Mein Mitarbeiter öffnete einen der Spinde. »Das hier ist deiner. Dort kannst du deine Tasche und deine Wechselkleidung lagern.« Aus einer Kiste, die in der Ecke stand, nahm er einen in Plastik eingeschweißten Stapel Kleidung und reichte ihn mir mitsamt des Schlüssels. »Während deiner Arbeit solltest du eines der Oberteile tragen«, wies er mich an und ging zur Tür. »Zieh dich gleich um und binde dir am besten die Haare zurück. Ich kümmere mich solange um die Kaffeemaschine.«

»Klar, bis gleich!« Irgendwie klang meine Stimme ein wenig zu laut, aber vielleicht hörte sich das in meinen Ohren auch nur so an.

»Bis gleich.« Er lächelte mich freundlich an. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, steckte er seinen Kopf noch einmal ins Zimmer. »Ich bin übrigens Duncan.«

»Ah.«

Sei höflich, befahl ich mir. Lächle!

Aber ich lächelte nicht. Es gelang mir einfach nicht, sosehr ich es auch versuchte. Vielleicht hatte ich vor lauter Angst vergessen, wie es ging. »Ich heiße Jules.«

»Ich weiß.«

Was?

Er schien meine Verwirrung zu bemerken, denn er setzte schief grinsend hinzu: »Dein Name stand in deiner Bewerbung, schon vergessen?«

Als er das Zimmer verlassen hatte, fragte ich mich unwillkürlich, ob es auf dieser Welt noch eine Person gab, die sich auch nur annähernd so bescheuert verhielt wie ich. Ich bezweifelte es.

Zumindest die Auswahl meiner Kleidung gestaltete sich als ziemlich einfach. Das T-Shirt wog ich einen Moment lang in den Händen und starrte es nachdenklich an. Wie hätte ich mich vor einem Jahr entschieden? Für das kurzärmlige Oberteil? Wahrscheinlich.

Der Gedanke schmerzte.

Jetzt war alles anders. Jetzt landete das T-Shirt in meinem Spind. Ich würde es nie wieder auch nur anrühren.

Die Plastikfolie, in die der Hoodie des Cafés eingeschweißt war, folgte. Ich schlug die Spindtür zu und schloss ab. Das Klacken des Schlüssels hatte etwas Endgültiges.

***

Ich hatte mir den Kontakt mit Menschen definitiv leichter vorgestellt. Auch wenn ich gewusst hatte, dass die Arbeit im Café kein Zuckerschlecken werden würde, hatte ich doch gehofft, dass ich nach einiger Zeit auftaute.

Das Gegenteil war der Fall. Den ganzen Tag über versteckte ich mich hinter der Theke, passte auf das störrische Sorgenkind namens Kaffeemaschine auf und gab vor, schwer mit dem Aufschneiden des Kuchens beschäftigt zu sein, sobald jemand den Laden betrat.

Als Duncan aus dem Nichts hinter mir auftauchte, erlitt ich beinahe einen Herzstillstand. Die ganze Zeit über war er mit den Gästen beschäftigt gewesen, hatte mir aufgetragen, Tee und Kaffee zu kochen, doch jetzt stand er auf einmal da, ohne etwas zu sagen.

»Brauchst du noch etwas?«, fragte ich und spürte die Nervosität in meiner Magengegend aufkommen. Ich hob den Kopf, um in sein Gesicht sehen zu können. Seine Miene war völlig ausdruckslos, bis auf die Augenbrauen, die skeptisch immer weiter nach oben wanderten.

Ich blinzelte ihn verwirrt an. »Was ist?«

Sein Blick glitt von mir zum Kuchen. »Wie klein willst du die Stücke noch schneiden?« Aus seiner Stimme war keinerlei Gefühlsregung herauszuhören, weshalb ich mir erst nicht sicher war, ob er die Frage ernst oder ironisch meinte.

»Ähm.« Ich starrte auf das Kuchenmesser in meinen Händen. »Ich weiß nicht...?«

»Okay...?«, ahmte er meinen Tonfall nach.

Vielleicht war es ein Fehler, aber seine Antwort animierte mich dazu, mitzuspielen. »Okay...?«

»Warum machst du mich nach?«, fragte er stirnrunzelnd. Ich registrierte, dass er meinen Blick suchte, doch ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihm in die Augen zu schauen.

Ich war sprachlos. »Vielleicht ... vielleicht, weil du damit angefangen hast?«

»Habe ich das? Ich glaube nicht...?« Ein amüsierter Zug umspielte seine Mundwinkel.

Ich ließ das Messer sinken. »Kannst du bitte aufhören, in Fragen mit mir zu reden?«

»Nein...?« Er grinste. »Du hast schließlich angefangen, oder nicht?«

Na toll. Ich hatte wirklich ein Talent dafür, mich in die peinlichsten Situationen zu verfahren. »Schön. Wenn wir das jetzt auch geklärt haben, kannst du mir ja verraten, was an diesen Kuchenstücken so falsch ist.«

Duncan hob die Schultern. »Na ja, die Gäste bezahlen nicht für Kuchenkrümel.«

»Das ist ja wohl ein bisschen mehr, als nur ein Krümel«, empörte ich mich.

»Wie auch immer. Jedenfalls solltest du nicht den ganzen Tag hinter der Theke stehen und Kuchen zerhacken, sondern anfangen, Kunden zu bedienen.«

Seine Worte schnürten mir die Kehle zu. Der naive Teil in mir hatte gehofft, diesen Moment noch ein wenig hinauszögern zu können.

»Der Chef kommt in einer Stunde und ich weiß nicht, wie er es findet, wenn die neue Mitarbeiterin jedem sozialen Kontakt aus dem Weg geht.«

»Ich gehe nicht jedem sozialen Kontakt aus dem Weg. Ich mache mich nur an der Theke nützlich«, stellte ich richtig.

»Gut. Dann lass uns die Rollen tauschen«, schlug er vor.

»Klar. Kein Problem«, entgegnete ich lässig. Doch meine Stimme zitterte und mein Blick ging ins Leere.

***

Mein Puls raste und mein Bauch krampfte, als ich mich dem älteren Pärchen in der Mitte des Cafés näherte. Duncan war schwer zu durchschauen und ich konnte nicht sagen, ob er mir angeordnet hatte, eine Bestellung aufzunehmen, um meine nicht vorhandenen sozialen Fähigkeiten aufs Äußerste zu testen, oder ob er sich keinerlei Gedanken über den Schwierigkeitsgrad meiner Aufgabe gemacht hatte. Da er ein Mann war und zudem nichts von meiner Gefühlslage wusste, nahm ich letzteres an.

Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und zwang mich, geradewegs und mit möglichst sicheren Schritten auf den mir zugewiesenen Tisch zuzusteuern. Dabei konnte ich nicht verhindern, dass meine Knie zu zittern begannen.

Der ältere Herr blickte von seiner Getränkekarte auf und bedachte mich bereits mit einem offenherzigen Lächeln, ehe ich den Tisch überhaupt erreicht hatte.

Er war mir absolut freundlich gesinnt. Noch.

Aber egal. Er lächelte. Kein Grund zur Panik.

Meine Mundwinkel zuckten, doch ein richtiges Lächeln wollte mir nicht gelingen. »Guten Tag«, begrüßte ich die beiden mit bebender Stimme.

Die alte Dame musterte mich mit sichtlichem Interesse. »Sind Sie neu hier?«

Ich zwang mich zu einem stummen Nicken. »Ja.« Als mir auffiel, dass es unhöflich war, so einsilbig zu antworten, fügte ich schnell hinzu: »Heute ist mein erster Tag.«

»Und was verschlägt Sie in ein kleines Städtchen wie dieses hier?«, erkundigte sich der Mann. Seine linke Augenbraue schoss überrascht, aber freundlich nach oben. Das war die falsche Frage. Definitiv die falsche Frage. Er konnte mich alles fragen, nur das nicht. Und als wäre das noch nicht genug, wanderte sein Blick zu meinem Handgelenk. Zu dem Armband, das unter meinem Hoodie hervorlugte. Wusste er etwa, was es bedeutete? Pink, lila, blau.

Meine Finger krampften sich fester um das kleine Smartphone, mit dem ich die Bestellung aufnehmen sollte. Ich brachte kein einziges Wort über die Lippen. Nicht etwa, weil ich das Sprechen verlernt hatte, sondern weil in meinem Kopf auf einmal gähnende Leere herrschte.

Blackout.

Wie früher in der Schule, als mir alles zu viel geworden war. Nur diesmal war die Situation eine andere. Eine weitaus ernstere als eine belanglose Klausur.

Übelkeit überkam mich, dann Schwindel. Die Angst knisterte in jeder meiner Zellen wie ein loderndes Feuer, das mich zu verschlingen drohte. Mit geweiteten Augen suchte ich nach einem Rettungsanker, doch mein Blick glitt erfolglos über Stühle, Tische, Fenster, Kaffeetassen, Menschen. Menschen, die es einen Dreck scherte, was gerade in mir vorging. Von keinem von ihnen brauchte ich zu erwarten, dass sie ihre Maske abwerfen und sich als Seeretter entpuppen würden. Sie alle waren zu sehr auf sich selbst fokussiert.

»Alles in Ordnung mit dir, Schätzchen?« Die Stimme der Frau drang wie durch eine dicke Watteschicht an mein Ohr. Ich hörte, aber verstand nicht. Es ging nicht.

Adrenalin schoss durch meine Adern, durchflutete meinen Körper und schien mir das Hirn zu vernebeln, bis mir alles so surreal erschien, dass ich nicht mehr sagen konnte, ob all das der Wirklichkeit oder doch meiner Fantasie entsprang.

Nach und nach schoben sich Bilder vor mein inneres Auge und längst verklungene Stimmen drangen an mein Ohr. Gehässiges Gelächter mischte sich unter den Chor aus wüsten Beschimpfungen und widerlichen Bemerkungen. Eine Erinnerung jagte die nächste; ihr Tempo nahm immer weiter zu, wie eine Diashow, die so schnell vor meinen Augen ablief, dass die Bilder nur noch als Flimmern zu erkennen waren.

»Ekelhaft.«

»Ich hasse sie.«

»Diese widerliche -«

Die Stimmen wurden von einem Piepsen unterbrochen. Erst war es nur ganz schwach, doch mit den Sekunden gewann es immer mehr an Lautstärke und drängte alle anderen Geräusche in den Hintergrund. Mein Blickfeld verschleierte sich, weiße Punkte tanzten vor meinen Augen und nahmen mir die Sicht. Mit dem Piepsen wuchs auch meine Panik. So etwas war noch nie passiert. Noch nie. Die Luft in meinen Lungen schien immer knapper zu werden, als würde der plötzliche Druck, der in meinen Venen pulsierte, jeden Sauerstoff verdrängen. Ich brauchte Platz. Als sich der Schleier vor meinen Augen wieder lichtete, drang ein lautes Scheppern an meine Ohren. Mein Blick schoss durch den Raum und blieb an den freien Stühlen in meiner näheren Umgebung hängen. Sie waren zur Seite geschlittert, weg von mir; einige waren umgekippt. Sie hatten mir Platz gemacht, dabei hatte ich sie gar nicht berührt. Niemand hatte sie berührt. Niemand. Es war von selbst passiert.

Jemand trat an meine Seite. Es war Duncan. Er musste mich beobachtet und meine Panik bemerkt haben, denn er legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter und deutete hinter mich. Doch seine Geste erzielte genau den gegenteiligen Effekt. Meine Angst stieg ins Unermessliche, seine Berührung war unerträglich. Es schien immer lauter um mich herum zu werden. Die Kaffeemaschine rauschte nicht mehr länger gemütlich vor sich hin, sondern glich einem Flugzeug, das direkt über meinen Kopf hinweg flog. Auch die Stimmen der anderen Menschen schmerzten in meinen Ohren und das Klappern des Bestecks hatte die Wucht einer Kirchturmglocke, die neben mir geläutet wurde. Wohin auch immer Duncan gezeigt hatte, er hatte recht. Ich musste hier weg. Ich brauchte Luft. Ganz schnell Luft.

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