Rückkehr nach Cerriv

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

꧁꧂

          Jemand musste Adriels Onkel verboten haben, sie in ihrer Zelle zu besuchen. Vermutlich, weil er bisher immer seinen Schlüsselbund hier unten verloren hatte. Oder- und dieser Gedanke hätte Ana noch viel weniger gefallen- er wollte sie nicht sehen.

So wie die Dinge lagen, gefielen Ana einige Dinge nicht. Zeit verschwamm für sie in einer Form von undenkbarer Folter, die nur für sie erleichtert wurde durch den Gedanken, dass Adriel sie ebenfalls durchleben musste. Ihr Körper befand sich in einer dauerhaften Fight-or-Flight-Modus, der Puls schnell, die Handflächen schweißnass.
Anfangs lief sie ständig ihre winzige Zelle ab, auf der Flucht vor Bildern, die niemals kamen. Das Essen vergessen auf der obersten Stufe. Im Mondlicht und bei Sonnenschein.

Sie lauschte nach oben. Kletterte die Treppe hinauf und polterte gegen die Luke. Oder presste ihr Gesicht gegen das Bullauge. Doch irgendwann wurden ihre Kreise kleiner. Die Schritte schlurfender. Ihre Fingernägel waren blutig abgewetzt und ihre Füße nackt und wund.

Adriel fand sie wie eine fortgeworfene Puppe im Eck sitzend, die Arme schlaff an ihren Seiten und die Beine ausgestreckt. Sie erinnerte ihn an den Tag, da er sie das erste Mal gesehen hatte. Aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, Mitleid mit ihr zu empfinden.
Stattdessen stemmte er die Luke vollständig auf, bis das Licht der Deckluke auf ihr Gesicht fiel.
„Wir haben Cerriv erreicht."

Sie sah ihn nicht an. Entweder weil es sie nicht interessierte oder- und er vermutete stark, dass es das letztere war- aus Trotz. Denn obwohl sie es sicherlich erwartete und beinahe selbst angetan hätte, war sie dort unten nicht verrückt geworden. Sie hatte ein Problem mit geschlossenen Räumen. Adriel hatte das gewusst, als er sie hier unten reingebracht hatte. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie sie zu dieser Angst kam. Aber schlussendlich hatte sie nicht den Verstand verloren und ihre Angst war umsonst gewesen. Und er war sich sicher, dass sie ihn dafür hasste.

Sie sprach nicht mit ihm, als sie ihm auf wackeligen Beinen hoch auf Deck folgte. Aber sie streckte ihre Nase den ersten winterlichen Sonnenstrahlen entgegen und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

Im Vorbeigehen bot ihm jemand einen Flachmann gegen die Kälte an, doch mit einem Seitenblick auf sie, lehnte er ab. Stattdessen nahm er sie am Ellenbogen und schob sie zum Bug des Schiffes, vor dem sich langsam die schwarzen Felsen Cerrivs aus dem Wasser hoben.

Er spürte ihren Ärger und den Versuch, ihn abzuschütteln. Doch als sie ihren Blick von seiner Hand loseiste und endlich in die richtige Richtung sah, spürte er sein eigenes Herz mit ihrem stocken. Sie blieb so abrupt stehen, dass er sie beinahe umgeworfen hätte.

Ähnlich irritiert blieb er neben ihr stehen, mehrere Blicke von ihr zu der Inselgruppe werfend, die Cerriv als Stadt ausmachten. Sie waren beeindruckend, wie sie sich mehrere dutzend Meter horizontal aus dem Wasser erhoben. Schwarze Felsen zeichneten sich wie eine dunkle Kronenzacken gegen die aufgehende Sonne am Horizont ab. Es waren bestimmt zwanzig Stück, kluftig, hoch und zusammengehalten durch eine Vielzahl an steinernen und hölzernen Brücken, Leinen und Leitern. Beeindruckend, sicherlich. Aber Anas Gefühle erinnerten ihn mehr an einen bodenlosen Fall.

Sie starrte wie in Trance hoch zu den Häusern auf den abgeflachten Spitzen, ihn und das gesamte Schiff vollkommen vergessen. Ihre nassen Dächer reflektierten das Licht der aufgehenden Sonne und tauchten die Stadt in silbriges Licht. Mehrere Schiffe ankerten um die unterschiedlichen Felsen herum, friedlich in der Morgendämmerung.

Ana blinzelte heftig und mehr als einmal wünschte Adriel sich, nicht nur ihre Emotionen lesen zu können. Sie wusste etwas. Aber er war nicht so dumm, dass er eine Antwort von ihr erwartete.

„Dein Mund steht offen, Kind." Sir Ranwic tauchte neben ihnen auf und entließ Adriel von der Pflicht, auf Ana aufzupassen, während sie alles für den Landgang vorbereiteten. Seine Hände waren in den Ärmeln seines Morgenmantels verschwunden und er sah genau wie sie zur Stadt, doch sein Blick war weit entfernt.

Ana traute sich unterdessen nicht, ein einziges Wort zu formulieren.

Unmöglich.

Das Wort lief in einer unaufhaltsamen Dauerschleife durch ihren Kopf. Die Leere, die sie erwartet hätte, füllte sich unaufhaltsam. Sie konnte nicht nichts fühlen. Sie versuchte es. Sie bemühte sich darum, dass es ihr egal war, dass sie sich distanzieren konnte...Stattdessen wusste sie nicht, was sie fühlte.

Es war unmöglich. Die Worte geisterten durch ihren Kopf- versuchten das Schlimmste zu verhindern. Sie musste träumen. Es gab eigentlich keine andere Erklärung.

„Cerrivs Anblick hat schon deutlich weiter gereiste Seemänner sprachlos gemacht", schmunzelte Sir Ranwic und nahm einem herbeieilenden Matrosen eine Decke ab, die er behutsam über Anas Schultern legte. „Es ist eine wirklich schöne Stadt, wenn man noch nie dort war."

Un-mög-lich.
Ana wollte widersprechen, zumindest öffnete sie den Mund. Stattdessen entwischte ihr ein Geräusch, das sie entfernt an kranke Papageien erinnerte. Das befremdliche Gefühl, laut schreien zu wollen, sammelte sich in ihrer Kehle und sie musste sich entschieden wegdrehen, um es zu stoppen.

Neben ihr sah Sir Ranwic aus, als habe ihn der Anblick der Stadt altern lassen. Seine Schultern hingen schlaff, die Augen nur halb geöffnet, als würde er etwas anderes sehen als Ana.
Und Ana kannte diesen Ausdruck. Hatte ihn hundert Male in den nachtdunklen Fensterscheiben von Dr. Neills Office gespiegelt gesehen.

War sie schuld daran? Hatte sie ihm die Hoffnung genommen? Oder lag ihr Instinkt richtig und etwas an der Stadt saugte ihn vor ihren Augen leer.
„Wart Ihr...", sie sich räuspern, nach Tagen des Stillschweigens, ihre eigenen Emotionen ein Kloß in ihrem Hals, „Habt Ihr Cerriv schon oft besucht?"

Sir Ranwics Miene zuckte nur für einen Lidschlag, als bereite ihm die geweckte Erinnerung physische Schmerzen. Doch als er Ana ansah hatte er sich bereits wieder um Griff.
„Nur zwei Mal, bevor es mir verboten wurde. Cerriv ist eine freie Stadt. Beinahe gesetzlos. Leider nur beinahe."

Etwas in seinen Worten fand sein Echo in Ana und zog ihre Aufmerksamkeit wieder zu dem wachsenden Anblick im Meer hinaus. Wie eine Schlafwandlerin setzte sie sich in Bewegung, an der Reling entlang, bis sie den besten Aussichtspunkt fand.

Adriel beobachtete sie von dem Tisch aus, auf dem zwischen ihm und Marteel ein Stapel Karten ausgebreitet lag. Dieses Mal prallte seine Sorge von ihr ab. Glitt an ihrem schneller schlagenden Herzen ab. Es ergab keinen Sinn. Sie musste es sehen.

Adriels Onkel folgte ihr mit bedächtigen Schritten, die Arme hinter dem Rücken verschränkt wie Großeltern, die ihre Enkel auf einem Spielplatz beobachteten.
„Mein Neffe sollte dich lieber auf seine Reisen mitnehmen. Es gibt Orte, die sehe selbst ich noch in meinen Träumen."

Etwas an seinem Satz ließ Ana wieder nüchterner werden.
'Du warst schon halb Tod, als ich dich auf dem Marktplatz das erste Mal getroffen habe.' Aber er lag falsch. Es war einfach nur ein schlechter Abend gewesen. Mehr nicht.
„Adriel wird mich nicht aus Cerriv zurückholen, nicht wahr?"

„Nun...", mit einer Hand fuhr Sir Ranwic sich über das Gesicht und unterbrach seinen Satz, um von vorne zu beginnen, „... er kann immer noch seine Meinung ändern...", er räusperte sich, mit jedem Wort hadernd, „Hoffen wir, dass es dieses Mal funktioniert."

Ana sah ihn musternd von der Seite an, doch in diesem Augenblick verkündete Adriel, dass sie gleich ankern würden. Sir Ranwic drehte sich zu ihr, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, „Das heißt für uns also Abschied nehmen. Vorerst nur natürlich."

„Ihr werdet nicht mit an Land kommen?"

Ein tiefes Seufzen entrang sich dem älteren Herrn und er griff Anas Hände.
„Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich zu den Inseln schwimmen, aber alas..."

Nur beinahe gesetzlos. Ana wollte etwas sagen. Sich für ihre Befreiung Mika'ils entschuldigen, die ihm seine Freiheit genommen hatte. Doch es wäre eine Lüge gewesen. Sie würde Mika'il wieder befreien, wenn es darauf ankäme.

Und Sir Ranwic verstand sie auch so.
„Ich habe meine Erinnerungen." Er fummelte an einer seiner Morgenmanteltaschen und holte etwas heraus, das auf den ersten Blick wie das kleine Fernrohr der Welt der Welt aussah. Als er es Ana hinhielt, erkannte sie jedoch eine Art Lupe, die in ihrer Heimatwelt Juweliere verwendet hätten, um Diamanten zu untersuchen.

„Ein Monokular", erklärte Sir Ranwic mit einem sanften Lächeln.

Sehr vorsichtig nahm Ana es ihm aus der Hand und betrachtete es genauer. Es war aus dunklem Holz, verziert durch die goldenen Initialen A.R. Das Glas an beiden Enden schimmerte selbst um dumpfen Licht auf See. Und es erweckte in ihr definitiv das Gefühl, als versuche es, sich von ihr wegzudrehen.

„Es ist kaputt", räumte Sir Ranwic mit einem betretenen Räuspern ein, die Hände wieder vor seinem Bauch verschränkt, „Es zeigt kaum noch Erinnerungen und sein Magiedetektor muss verschoben sein..."

„Es zeigt Erinnerungen?", Anas Augen wurden riesig und bevor er sie aufhalten konnte, hob sie es ans Auge.

Es zeigte keine Erinnerungen, wie Sir Ranwic bereits erwähnt hatte. Für einen ganzen Moment sah sie erst einmal gar nichts, als habe sie das Gerät so sehr überrumpelt, dass es sich erst fangen musste. Aber als es ihr dann schließlich doch ein Bild anbot, stolperte sie erschrocken mehrere Schritte zurück, bis sie auf ihrem Hintern landete.

Leuchten.

In mehreren Farben. Manche wechselnd. Manche gleichbleibend. Pulsierend. Wabernd.

Sie erinnerten an winzige Galaxien, die sich um einzelne Gegenstände herumwoben. Glitzernd und leuchtend. Wunderschön.

Eine ganze Farbenexplosion umgab einen der Ringe von Sir Ranwic. Sie zogen Schweife hinter sich her, spielten wie die Nixen im Hafen.

Das Segel ihres Schiffes pulsierte golden, immer wieder kleine Funken abgebend, die sofort verschwanden, als Ana panisch das Glas herunternahm.

„Magie ist für viele von uns unsichtbar. Und dennoch wunderschön", sagte Sir Ranwic mit einem Lächeln, während Ana das Glas auf Adriel richtete.

Während an Sir Ranwic einzelne Gegenstände ihren eigenen Schein hatten, leuchtete Adriel von innen heraus in unterschiedlichen Grüntönen. Sie zirkulierten um ihn herum wie eine Aura, wuchsen und sammelten sich wieder, wie ein eigenes Lebewesen.

„Wunderschön." Sie hatte das Wort so leise geflüstert, dass es niemand gehört haben konnte. Nur das Monokular begann zwischen ihren Fingern zufrieden zu brummen und verdoppelte noch einmal seine Anstrengung ihr selbst die kleinsten Funken Magie in großem Detail zu zeigen.

Sehr behutsam ließ Ana das Monokular sinken und wollte es bereits Sir Ranwic zurückgeben, doch dieser schüttelte den Kopf.
„Ich denke, es wird dir mehr Freude bereiten als mir, auch wenn es am Anfang ein wenig schüchtern ist. Und wer weiß...", seine Augen verdüsterten sich für einen Herzschlag und Ana fragte sich unwillkürlich, wohin er verschwand, „... vielleicht zeigt es dir ja doch eine Erinnerung in der Stadt, in der ich vorkomme."

Ana wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Und so drückte sie seine Hände zum Abschied und sah noch lange auf dem Beiboot zu ihm zurück, während die Matrosen sie und Adriel zu einem kleinen schwarzen Vorsprung auf Wasserspiegelhöhe ruderten. Das Monokular hatte sich befremdlich aktiv in ihre Rocktasche gekuschelt.

Irgendetwas machte es Ana schwer zu atmen. Ihre Hand zitterte, als Adriel ihr aus dem Boot auf den glatten Vorsprung half. Wäre sie nicht vollkommen mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte sie vielleicht die Adriels lange Blicke bemerkt. Die Fragen in seinen Augen, die er nicht aussprach. Aber er und seine Männer kamen kaum hinterher, als sie die in den Stein geschlagene Treppe hinauflief.

Der Prinz blieb immer einen Schritt hinter ihr, eine Hand stets an ihrem Rücken und besorgte Blicke die Klippen hinunterwerfend, die zu ihrer Rechten abfielen. Jemand hatte eiserne Pfosten alle paar Stufen platziert, doch das Tau, das als Geländer dienen sollte, war von den Wellen zerfressen worden und hing teilweise lose zu Boden.

Die Treppe führte sie hinauf zu der Hafenanlage, die sich direkt an der Kante des Abgrundes entlang zog. Sie hörte die Stimmen der vielen Menschen weit, bevor sie jemanden sah.
Es war ein voller Ort, belebt durch Matrosen, Händler und Aufseher, die dem steilen Abgrund so wenig Aufmerksamkeit schenkten, wie es jeder andere nicht getan hätten. Mehrere Aufzüge mit riesigen Rädern und Kurbeln standen wie Kräne an der Kante und wurden be- und entladen.

Morgendliche Kastenverkäufer priesen in bellenden Stimmen ein mehr oder minder frisches Frühstück an und Gruppen aus Matrosen warteten auf ihre Arbeitgeber, die um eine Tonne herum auf einen dicklichen Aufseher einredeten.

„Bleib dicht bei mir." Adriels Stimme so dicht neben ihrem Ohr ließ Ana zusammenzucken, doch er schob sie mit einer Hand auf ihrem Rücken sanft weiter, während er sich seinen Weg durch die Menge suchte. Es war eine weite Fläche, die nur von einzelnen tief geduckten Gebäuden gesäumt wurde.

Hatte Adriel gehofft unerkannt zu bleiben, so wurde er enttäuscht. Ana spürte die Blicke sofort und wäre sie mehr sie selbst gewesen, wären sie ihr unangenehm gewesen.
Vielleicht waren es die sechs Matrosen mit den gut sichtbaren Waffen, die ihnen über den Hafen folgten und die Bewohner allein mit Blicken auf Abstand hielten.

Oder es war die Tatsache, dass jeder in Anderthal inzwischen von dem Prinzen gehört hatte, der auf den Thron des Caraids verzichtet hatte, um Weltenwandler zu jagen.

Doch niemand von ihnen stellte sich ihnen in den Weg. Die Hafenarbeiter nicht, die keinen Hehl aus ihrer Neugierde machten und sogar in ihrer Arbeit innehielten, bis ihr Aufseher sie zur Ordnung rief. Die Verkäufer, die ein wenig langsamer vor ihren noch geschlossenen Läden kehrten und verstohlen unter tiefsitzenden Mützen nach oben blickten.

Nicht die Küchenmädchen, deren schwere Körbe mit den Einkäufen hinter dem Tross hastig abgesetzt wurden, um sich in kleinen Gruppen zusammenzufinden. Ihr Flüstern hätte unschöne Erinnerungen in Ana geweckt.

Doch sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Fingerspitzen nach moosigen, glattgespülten Hauswänden auszustrecken, während die Hafenanlage breiten Straßen aus unebenem Kopfsteinpflaster Platz machte. Jeden Atemzug der salzigen Seeluft hielt sie tief in ihrer Lunge gefangen. Mit der anderen Hand hielt sie das Monokular in ihrer Rocktasche fest. Es wehrte sich leicht gegen die Spannung ihrer Fingerspitzen.

Adriel führte sie zu der großen Steinbrücke. Sie verband das Gebiet um die Hafenanlage mit der nächstgelegenen Insel, ein klein wenig höher als diese. Sah man von hier oben nur die Dächer, erwartete man nicht, dass die Stadt durch metertiefe Kluften voneinander getrennt war. Sie hob und senkte sich, wie die Wellen darunter.

Jede Straße fiel leicht zu den Kanten ab und tausend kleine Rohre leiteten das Wasser in winzigen Wasserfällen zurück ins Meer. Das Wasser des morgendlichen Schauers erzeugte in ihnen eine gleichmäßige Melodie, die sie durch die eng stehenden, verwinkelten Straßen verfolgte. Aber Anas Herz galoppierte nicht mehr, denn es hatte jeden Takt verloren.

Je mehr Brücken sie passierten, desto aufwendiger wurden die Häuser. Farbe, die kein ganzes Jahr auf dem nassen Stein hielt, wurde hier in regelmäßigen Abständen neu aufgetragen. Die Straßen wurden leerer, dafür die getragenen Sänften häufiger. Auch hier drehte Adriel noch Köpfe. Flüstern hinter Fächern. Lange Blicke, anerkennend und abschätzend. Doch er kümmerte sich nicht darum, bis er vor einem breiten Stadthaus innehielt.

Ein schmiedeeisernes Gartentor trennte sie von einer kurzen Auffahrt, wenigen Treppenstufen und einer weißen Haustür. Obwohl links und rechts Nachbarn wohnten, sah das Haus aus wie auf einem Thron. Mit gebührlichem Abstand zu beiden Seiten, als erwarte es von niemand anderem als dem Kronprinzen betreten zu werden.

Widerwillig löste Adriel sich von seinem sehnsüchtigen Anblick und drehte sich zu Ana um, beide Hände auf ihre Schultern legend, damit sie ihn ansehen musste.
„Ich weiß, du kannst mich nicht leiden und damit kann ich gut leben", er räusperte sich und griff in seine Hosentasche, um eine kleine Walnuss hervorzuholen, die er Ana auffordernd hinhielt.

Ana starrte ihn einfach nur an. Alle sagten immer, dass sie verrückt sei, aber manchmal...Wo bei allen Welten hatte er eine Nuss auf hoher See gefunden?

Adriel beantwortete ihr diese Frage nicht, sondern drückte ihr stattdessen die Nuss in die Hand. „Magier nutzen Konzentrationsübungen, um ihre Magie besser zu kontrollieren. Ich denke, ein paar von ihnen würden auch dir nicht schaden."

„Du denkst, dass ich magisch bin?", Ana kämpfte gegen die Skepsis in ihrer Stimme, aber irgendwas musste sie trotzdem verraten haben, „In meiner Welt gibt es keine Magie. In meiner Welt ist das eine Nuss."

Sie kostete ihn sichtlich Nerven. Mit einer Hand fuhr er über sein Gesicht, ehe er sich ein Stück von ihr weglehnte, als könne er sie so besser überzeugen.
„Du bist auf jeden Fall anders-... das...", er hob abrupt die Hände, als er die Panik in ihr explodieren spürte, „... ist nicht immer etwas Schlimmes. Wenn man es kontrollieren kann."

Ana blinzelte. Schluckte. Und sah wieder die Nuss an.
„Und wie werde ich normal, wenn ich mich jeden Abend auf eine Nuss konzentriere?"

Nur auf die Nuss. Solange du kannst", korrigierte Adriel, der sich sichtlich fühlte, als erkläre er einem kleinen Kind Mathematik, „Keine schweifenden Gedanken. Keine Träumerei. Nur die Nuss."

Bevor Ana antworten konnte, quetschte eine korpulente Dame ihren massiven Hut aus dem Fronteingang, mehrere Flüche ausstoßend, die jedoch je versiegten, als ihr Blick auf Adriel, Ana und die kleine Leibgarde aus Matrosen fiel.

Sie stoppte vor dem Stadthaus, verschränkte die Arme und klopfte ungeduldig mit einem violetten Fächer auf ihren Oberarm, als hätte sie den Prinzen dabei ertappt, sich mitten in der Nacht nach Hause zu stehlen.
„Du solltest nicht hier sein."

Es war keine Anschuldigung. Es war ein Fakt. Das Statement hätte genauso gut die blau gestrichene Haustür wieder schließen können. Die Fassade des Hauses war überwuchert von einer violett blühenden Schlingpflanze, die offensichtlich von Wasser und blankem Stein lebte. Und das so gut, dass sich die Farbe des Gebäudes dahinter nur erahnen ließ. Allein die weiße Tür und die Fenster waren freigeschnitten worden.

Anas Herz blieb stehen.
Sie konnte unmö-... das konnte nicht sein. Wusste sie etwa...?

Adriel sah sie noch für einen Herzschlag länger an, ehe er sich mit einem Lächeln zu der Hausdame umdrehte und Ana vorsichtig am Ellenbogen die winzige Auffahrt hoch zu den weißen Treppenstufen führte.
„Ich freue mich, Euch zu sehen Lady DeCries."

Lady DeCries hatte weniger Ähnlichkeiten mit einer dicklichen Dame als mit alten Darstellungen von Walküren, hätte jemand den enormen Hut gegen einen Helm mit Hörnern ausgetauscht. Und sie musterte Adriel für einen Augenblick, als wolle sie jeden Moment ihr Schwert ziehen. Das sie nicht dabei hatte.
Schließlich rang sie sich zu einem nicht unehrlichen Lächeln durch, das ihre folgenden Worte deutlich milderte, auch wenn sie sich Mühe gab, ihre Freude dem Prinzen nicht zu zeigen.
„Ich freue mich überhaupt nicht, Adriel. Alle erzählen sich, dass du Weltenwandler durch die Geschichte jagst, und jetzt tauchst du auch noch auf meiner Türschwelle auf."

Ihr Fächer klopfte einen warnenden Rhythmus auf ihren Oberarm.

Ihre Vorwürfe hatten ähnlich viel Effekt auf den Prinzen, wie Wassertropfen in der Wüste. Vor der Treppe ließ er Ana los, erklomm die wenigen Stufen alleine und beugte sich höflich über die Hand der Dame. „Ich habe Euch geschrieben, dass ich kommen würde. Ihr solltet nicht überrascht sein."

Lady DeCries schnalzte missbilligend, doch ihre Augen straften sie Lügen. Sie freute sich immens den Prinzen zu sehen, auch wenn sie ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Und sie verschwendete auch keinen Atem, ihre Gründe vorzutragen.
„Du bist vom Orakel berufen worden, Adriel. Du solltest mir keine Briefe schreiben, es sei denn es ist eine Einladung zu deiner Krönung."

Adriels Schultern verspannten sich, doch er hielt an seiner Höflichkeit fest.
„Ich habe Anderthal in den besten Händen zurückgelassen."

Die Pause, die folgte war mehr Vorwurf als irgendjemand hätte in Worte fassen können. Aber da Adriel der König des Schweigens war und gegen derlei Effekte Immunität aufgebaut hatte, griff die Dame zu handgreiflicheren Mitteln: Sie faltete ihren Fächern zusammen und schlug ihm gegen den Oberarm.
Deine Hände sind die besten Hände. Deshalb hat dich das Orakel berufen. Ich verstehe, dass du meinen nutzlosen Mann retten möchtest, aber dein Land braucht dich. Nicht deinen kleinen Bruder."

Die Schwerkraft tat Anas Unterkiefer merkwürdige Dinge an und ihr Gesicht gefror mitten im Ausdruck wie ein überlasteter Computer. Doch bevor Ana sich von der Erkenntnis erholen konnte, dass dies Sir Ranwics Frau sein musste oder Adriel eine längere Debatte über seine Meinung zu Orakeln starten konnte, fiel ihr Blick auf Ana.

Ihr Gesicht wurde sofort weicher und sehr altes Mitleid verdunkelte ihre grauen Augen. Mitleid, das eine Geschichte erzählen wollte.
„Du musst das arme Wesen sein, dass er mit sich über das Meer geschleift hat. Komm ruhig näher und lass uns Hände schütteln." Sie winkte Ana so entschieden zu sich, dass diese sich nicht traute, zu zögern.

„Ich bin Lady DeCries. Unglückliche Tante dieses Rumtreibers." Sie steckte sich den Fächer unter einen Arm und nahm Anas Hände in ihre. War sie laut und hart mit Adriel gewesen, wurde jedes Wort an Ana zu Butter zwischen ihnen.

Ana brauchte einen Moment, bis sie die Worte fand. Erinnerungen überschwemmten jeden klaren Gedanken in ihrem Kopf. Erinnerungen an Träume. An eine andere Art von zuhause. Sie drückten auf ihre Brust, bis sie kaum noch Luft für eine vernünftige Antwort hatte.
„Es freut mich, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen."

Etwas in ihrer Stimme ließ Lady DeCries ihre Hände noch fester drücken, ehe sie sich wieder an Adriel wandte.
„Ich werde nicht noch einmal versagen. Darauf hast du mein Wort." Sie blinzelte eine einzige Träne weg, die in ihrem faltigen Gesicht voll Strenge sowieso vollkommen fehl am Platz gewesen wäre, „Aber ich erwarte, dass du deine Entscheidungen noch einmal überdenkst."

Während sie weiter mit dem Prinzen schimpfte, starrte Ana sie einfach nur an. Etwas nistete sich neben ihrem Herzen ein. Etwas, das so vehement schlug, dass sie es nicht vertreiben konnte. Nicht leugnen konnte.
Sie war hier.

Sie sollte hier sein.

Das war Lady DeCries. Und sie konnte sie sehen- hatte mit ihr gesprochen.

Es war all das, was sie sich immer gewünscht hatte und gleichzeitig so sehr fürchtete. Sie war zurück. Nach all den Jahren war sie endlich zurück in der gespaltenen Stadt. Und sie würde herausfinden warum. 

꧁꧂

Sehr langes Montags-Update :D
Aber ich konnte nicht wirklich aufhören.
Ich kann euch bereits jetzt sagen: Ich liebe Cerriv.
Die Stadt hat ihre eigene Spotify-Playlist bei mir xD und das will was heißen.

Meistens will ich meine Träume nicht noch mal erleben :D
Kennt ihr das, wenn man seinen ganzen Traum gejagt wird, ohne wirklich eingefangen zu werden... und morgens ist man eher gestresst als ausgeruht?
Puh...


Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro