Mutmaßungen

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„Was glaubst du eigentlich, wo du hingehst?" Ich habe Krotos' Zimmer noch nicht ganz verlassen, da steht bereits eine erzürnte Pasiphae vor mir.

„Ich habe genug vom Liegen, vor allem da das nur auf dem Bauch geht", protestiere ich.

„Nichts da!" Pasiphae schubst mich zurück. Obwohl sie ein gutes Stück kleiner ist als ich – was eigentlich auf die meisten Zodiaks, Wächter und Ratsmitglieder zutrifft – bewirkt allein ihre Energie, dass ich brav zurückweiche.

„Dreh dich um", kommandiert Pasiphae, schiebt mir dann ohne weitere Umstände das T-Shirt hoch und begutachtet meinen Rücken. „Hm, sieht besser aus, aber ..." Sie langt nach dem Salbentopf und trägt eine neue Lage auf. „Das hilft schließlich nicht nur beim Heilen, sondern schützt auch. Okay, jetzt darfst du mit mir in die Küche kommen."

„Wo sind die anderen?"

„Melete ist in die Grotte gezappt, die Jungs schlafen." Nur Pasiphae, die einstige Königin von Kreta und Tochter des Sonnentitans, kann zwei der rein körperlich beeindruckendsten Zodiaks einfach als „Jungs" abtun.

„Ich habe mir gerade Tee gemacht; willst du auch einen?"

Tee kommt mir eigentlich immer recht. Die meisten von uns, die noch aus dem antiken Griechenland stammen, können mit Kaffee weniger anfangen. Kräutertees hingegen hat unser Volk bereits in der Steinzeit zu sich genommen.

„Was hast du da?" Ich schnuppere in die Kanne hinein.

„Malve und Hagebutte. Und dazu Graubrot mit wahlweise Käse, Schinken und Salat."

„Lecker, wobei ich am liebsten Käse und Salat zusammen mag."

„Ist auch dabei. Die nur mit Salat sind für Stier."

Richtig, der ist reiner Veganer, während Krotos' auch Milchprodukte und Eier isst. Und Fisch. Pferdekörper hin oder her, ein Grieche, der keine Meeresprodukte mag, hat für mich etwas Unnatürliches.

„Wohnzimmer?", frage ich und nehme schon mal die Kanne auf. Pasiphae nickt. „Aber leise!"

Also schiebe ich die Tür behutsam auf und schließe sie ebenso vorsichtig wieder, nachdem Pasiphae mit den Tablett hindurchgetrippelt ist. Während die Königin den Tisch deckt, sehe ich mir die über zweitausend Jahre alten „Jungs" im Stallteil an.

Stier liegt auf der Seite, die Beine lang ausgestreckt, den Kopf gemütlich auf einen Strohhaufen gebettet und brummt im Schlaf leise vor sich hin. Krotos lehnt an der Wand, die Pferdebeine eingeknickt, die Kissen zu einem Haufen zwischen sich und der Wand aufgeschichtet, der bis zu seinem Kopf reicht und eine Decke um die Schultern gezogen. Offenbar benötigt sein Pferdekörper keine weitere Wärme, sein menschlicher Teil aber schon.

In diesem Moment zappt Melete herein. Sofort steht Krotos auf den Beinen, noch ehe er richtig wach ist. Die Decke rutscht dabei Stier über die Augen, der unwillig muht und das Teil mit der Schnauze fortschiebt, dann aber in aller Ruhe weiterschläft.

Ich finde diese Verbindung interessant. Ich selbst habe Astraia nur sehr selten alleine gelassen und schon gar nicht während ihres Schlafes. Aber ich bin sicher, dass sie wie Krotos' bei meiner Ankunft auf der Stelle aufgeschreckt wäre. Das Band zwischen den Zodiaks und ihren Wächtern ist extrem stark.

Krotos setzt die Hufe vorsichtig auf, als er zu uns an den Tisch kommt, um Stier nicht zu stören. Seine Augen leuchten auf, als er Pasiphaes vorbereitete Schnitten sieht und ohne weitere Präliminarien greift er nach einem Käsebrot mit Salatblatt. Das gleiche, das ich mir gerade nehmen wollte. Unsere Blicke begegnen sich, dann lächelt er und greift sich eine andere Scheibe, gerade als ich meine Hand zurückziehe. Na gut, dann bekomme ich die eben doch. Ausdiskutiert wird hier nichts, solange Stier noch schläft.

Auch Melete bleibt still, lächelt mir aber beruhigend zu. Demnach ist mit dem Ei alles in Ordnung. Wir haben beschlossen, dass Melete einmal am Tag danach sieht, weil ich zwar in die Grotte, nicht aber in das Haus des Schützen zappen kann und Krotos zu groß ist für die niedrige Decke und den schmalen Gang. Zudem hat der Kentaur Angst, versehentlich auf das Nest und das darin befindliche Ei zu treten. Melete könnte das beim Zappen natürlich auch passieren, aber sie wiegt etwa siebenhundert Kilo weniger als Krotos. Selbst in seiner menschlichen Form ist Krotos noch fast dreimal so schwer wie die zierliche Muse.

Das Krachen des Salatblatts unter Krotos' Zähnen weckt den Stier auf. Er rollt sich herum, schüttelt sich und trottet dann zum Podest, welches Krotos für ihn gezimmert hat. Wenn Stier die Vorderbeine draufstellt, kann er gut an Teller und Trinkschale kommen, die Pasiphae ihm hingestellt hat.

„Wenn du eh wach bist, kann ich ja reden." Melete wendet sich an mich. „Dem Ei geht's gut. Es ist schon viel durchsichtiger und ich habe ein bisschen das Baby durchschimmern sehen. Es zappelt."

„Das tun alle Babys." Pasiphae hat neun Kinder geboren und sollte sich auskennen. „Das ist ein gutes Zeichen."

„Sagte Astraia nicht einige Wochen?", erkundigt sich Krotos. „Es scheint schneller zu gehen als sie glaubte."

„Sie hatte ja auch keine Erfahrung damit", verteidige ich meine tote Freundin.

„War ja kein Vorwurf. Das bedeutet nur, dass du Michel vielleicht jetzt schon aufsuchen solltest wegen der Kräuter."

Recht hat er. „Kann ich mich denn schon beim Rat sehen lassen?"

Melete zuckt die Achseln. „Ich habe nichts von neuen Erkenntnissen gehört. Wie geht es dir denn inzwischen, Keto?"

„Mein Rücken schmerzt kaum noch." Immerhin waren es keine tiefen oder schweren Wunden, nur sehr viele; und es ist jetzt schon acht Tage her.

„Ich meinte deine psychische Verfassung. Du siehst weniger verheult aus heute. Meinst du, du bist schon in der Lage, Ermittlungen anzustellen?"

„Natürlich! Ich brenne drauf, dem Mörder eins überzubraten!"

„Ey, überlass das Nemesis, die kann das besser", mampft Stier um Brot und Salat in seinem Maul herum. „Und sie sagt doch dauernd, dass die Rache ihr ist. Wieso gibt es eigentlich zwei Göttinnen der Gerechtigkeit, das habe ich nie verstanden."

Melete hebt die Schultern. „Keine Ahnung, aber die Erde könnte noch wesentlich mehr davon brauchen."

Ich weiß Bescheid. „Astraia war die Göttin der persönlichen Gerechtigkeit, sie trat vor allem für rechtschaffenes Handeln und unparteiische Gesetze ein. Nemesis hingegen ist eher eine Rachegöttin; sie tritt in Aktion, wenn das Unrecht bereits geschehen ist und bestraft die Übeltäter."

„Das erklärt auch, warum Astraia so sanft und Nemesis so wehrhaft ist", meint Krotos.

„Könnte Astraia der Nemesis auf die Nerven gegangen sein?" Stiers blaue Augen fixieren mich. „Ich meine, es gibt zwei Göttinnen der Gerechtigkeit, Nemesis wird bei den Astrologen nicht einmal als Person anerkannt, sondern als Gegenstand, eben die Waage, und Astraia jammerte zwar, dass alle Leute gut sein sollten, aber Nemesis hat sie zu strafen, muss also sozusagen die Arbeit tun."

Der weiße Stier hat da eine Idee aufgebracht, über die es sich nachzudenken lohnt. Ich schiebe energisch alle trübsinnigen Gedanken fort und gehe analytisch vor, wie Astraia es mir beigebracht hat. So lieb und wirrköpfig sie oft erschienen ist, hat sie doch so klar und strukturiert abwägen können, wie ich es bei keinem anderen aus unserem Kreis erlebt habe.

„Vorstellen könnte ich mir das. Es gibt allerdings mindestens zwei Gründe, die dagegen sprechen. Zum einen wäre diese Tat eine Ungerechtigkeit, Nemesis müsste danach also sich selbst bestrafen. Zum anderen benutzt sie ein Schwert; Krebs erwähnte aber, Astraia sei zerfleischt worden."

„So hat es ausgesehen", bestätigt Pasiphae, die wohl genauer hingesehen hat. Krotos und Melete schweigen dazu. Krotos hat sich als erstes um mich gekümmert und Astraias Körper keinen Blick geschenkt, Melete ist später angekommen als die meisten.

Stier denkt nach: „Heißt das, es muss jemand mit Reißzähnen und Krallen gewesen sein? Aber das trifft nur auf zwei zu – auf Löwe und auf Keto. Und Keto war es schonmal nicht."

Stimmt. Mein angeblich hübscher Mund verbirgt kein normales Gebiss, sondern lange Zähne, die jenen eines Anglerfisches ähneln und als Nixe kann ich auch ordentliche Krallen ausfahren.

„Was macht dich so sicher, dass ich es nicht war?" Meine Stimme zittert und allmählich verstehe ich Astraia, die ständig bestätigt werden musste. Bisher hat mein Leben im Wesentlichen aus Gewissheiten bestanden; jetzt stelle ich immer wieder alles in Frage, was ich gerade noch für sicher gehalten habe. Vor allem die Überzeugung meiner Freunde, dass ich unschuldig bin, muss ich immer wieder hinterfragen.

Wie die anderen wird auch Stier nicht müde, es mir zu beteuern: „Du bist nicht so, Keto. Du magst ein Ungeheuer sein, aber das bin ich ja auch, der Sage nach. Unser Sohn ebenfalls", er wirft Pasiphae einen Blick zu, der mich überlegen lässt – ach, egal, das gehört jetzt nicht zur Sache! „Gerade er ist als eines der grausamsten Monster verschrien und das nur seiner Gestalt wegen. Ich bin der Meinung, zum Ungeheuer macht die Gesinnung eine Person, nicht die Körperform."

Ich kann nicht umhin, ihm recht zu geben. Ich bin seinem Sohn Asterios nur einmal begegnet; aber er ist eine der liebenswertesten und freundlichsten Personen, die ich je kennengelernt habe.

„Durchdrehen kann doch jeder mal", protestiere ich dennoch. „Löwe hat unzählige Menschen in Nemea umgebracht, dabei ist er eigentlich gar nicht blutrünstig. Hera hatte ihn in ihrer Gewalt, bis Herakles ihn davon befreite."

„Das ist es!", ruft Krotos. Wir alle sehen ihn verwirrt an und er erklärt: „Baba Wanga meinte, der Mörder sei unter uns gewesen. Es ist aber möglich, dass sie damit denjenigen meinte, der die Tat ausgeführt hat – und jemand anders sie befohlen hat!"

„Dann müsste es sich um jemanden handeln, der selbst nicht die Körperkraft zum Töten hat, aber die Gabe, andere unter seine Kontrolle zu bringen?", überlegt Melete.

„Nicht unbedingt", gibt Pasiphae zu bedenken. „Es kann auch jemand dahinterstecken, der sich Astraia nicht nähern konnte, ohne dass sie Verdacht geschöpft hätte."

„Zu dem Schluss sind wir auch gekommen!" Auf einmal steht Apollon hinter mir.

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