Übermut

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„Jaaaa! Schneller, Keto, schneller! Und tiefer, noch viel tiefer!" Astraia klammert sich fest an meine Rückenflosse und feuert mich an. Und ich gehorche ihr lächelnd. Der Ausflug ins Meer war eine gute Idee. Astraia ist in den letzten Tagen sehr still gewesen und ich spüre, dass sie etwas bedrückt. Aber ich frage nicht nach; wenn sie bereit ist, wird sie sich mir anvertrauen. Bis dahin kann ich nur versuchen, sie aufzuheitern.

Wir rasen mal wieder mit Höchstgeschwindigkeit – meiner Höchstgeschwindigkeit – durch den Ozean. Astraia ist zwar im Moment selbst ein Wasserwesen, aber mit meiner Kraft und Schnelligkeit kann sie nicht mithalten. Aber sie liebt es, auf mir zu reiten, wenn ich durch die Wellen pflüge oder tiefer tauche als sie es aus eigener Kraft kann.

„Halt dich gut fest!", warne ich sie und neige meinen Kopf nach unten. Astraia krallt sich fester in meine Flosse und wickelt sich meine Haare um den Schwanz. So gesichert ruft sie mir zu: „Los jetzt!"

Ich lächele vor mich hin. Es klingt wie ein Befehl einer Herrin an die Dienerin, aber wir wissen beide nicht, wer von uns wem befehlen soll und wechseln uns daher ab. Ich bin ihre Beschützerin, ihre Wärterin und Pflegerin. Sie ist diejenige mit der göttlichen Kraft der Weissagung. Beide haben wir nie gefragt, wie sich der Rat unser Verhältnis zueinander vorgestellt hat. Wir sind ganz einfach beste Freundinnen und das ist gut so.

Ich bewege meinen schlangenartigen Körper nun immer schneller, in Richtung auf den Meeresboden, der sich einige Kilometer unter uns befindet. Dabei bemerke ich über uns eine Schule Orcas, die gerade die Jungen das sogenannte Karussell lehrt. Bei dieser Jagdtechnik umkreisen die Schwertwale einen Heringsschwarm, fangen ihn in einem „Netz" aus Blubberblasen ein und brauchen dann nur noch mit geöffnetem Maul in die Mitte zu schwimmen.

„Bereit?", frage ich nach hinten. Astraia weiß sofort, was ich meine. "JA! Mach's!"

Ich beginne, mich um meine Achse zu drehen, bis ich ein Tempo erreicht habe, bei dem sterblichen Wesen schwindelig werden würde. Dann richte ich mich wieder auf und wirble senkrecht nach oben, mitten zwischen die Heringe.

Kleine Schwarmfische und riesige Orcas spritzen erschreckt auseinander und bringen sich außer Reichweite der von mir erzeugten Turbulenzen. Astraia und ich lachen voller Übermut; es ist immer wieder aufs Neue erheiternd, die gewaltigen Raubfische sich wie panische Kleinfische verhalten zu sehen. Und wir wissen ja, dass sich Heringsschwarm und Orcaschule bald wieder zusammenfinden werden und den Schrecken rasch vergessen.

„Das reicht", dämpft mich Astraia. Wie immer achtet sie streng darauf, dass ich es mit den Späßen nicht übertreibe. Sie ist nun einmal ein sehr gerechtes und ausgewogenes Geschöpf. Was mich auch nicht wundert, immerhin ist sie die Personifikation der Gerechtigkeit. Als diese hat sie vor Jahrtausenden die Erde verlassen, weil sie das durch die Menschen verursachte Unrecht nicht mehr mitansehen konnte. Und wurde so zum Sternzeichen der Jungfrau.

Ohne mit dem Wirbeln aufzuhören senke ich nun wieder den Kopf und tauche tief ins Meer hinab, wobei ich immer schneller werde. Astraias Jubeln treibt mich nur noch mehr an und ich schieße mit der Geschwindigkeit einer Revolverkugel durch immer schwerer und kälter werdendes Wasser.

„Schau, Laternenhaie", ruft Astraia mir zu. „Sie sind so schön."

Schön ist was anderes, denke ich. Aber das sanfte, grünliche Schimmern, welches von ihren Unterseiten ausgeht, gefällt mir auch. Es gibt dem dunklen Wasser etwas Geheimnisvolles und lässt alle Wesen, welche dieses schwache Leuchten passieren, wie Feen des Meeres erscheinen.

Ich bremse ab und steuere im weitem Bogen um die Laternenhaie. Astraia würde traurig werden, wenn ich das Leuchten und die schemenhaften Gestalten darin verwirble. Sehr behutsam ziehe ich einen weiten Kreis darum, um meiner Freundin diesen Anblick zu gönnen, dann, als sie mich ungeduldig an der Flosse zieht, gehe ich wieder in den Tauchgang.

Wie alle Okeaniden kann ich bestens im Wasser sehen und auch Farben unterscheiden. Der Meeresboden kommt immer näher und ich kann bereits Tangfelder, Felsen und mit Schwämmen, Weichkorallen und Seeanemonen besetzte Areale erkennen. Ich wähle letzteres und stelle beim Runtergehen fest, dass ich mich nicht getäuscht habe. Etliche Wobbegongs und Hornhaie bewegen sich über den Boden, stets auf der Suche nach Muscheln, Seesternen und Krebschen, die sich zwischen den Hohltierchen verbergen. Während die buntgefleckten, auch als Teppichhaie bekannten Wobbegongs dicht über dem Boden schweben, spazieren die Hornhaie auf ihren starken Flossen direkt auf der felsigen Oberfläche. Beide Haiarten bewegen sich sacht und wie in Zeitlupe, um ihre Beute nicht zu früh aufzuschrecken. Nur wenn ein Seestern dicht vor das Maul eines Wobbegongs krabbelt, schnappt dieser blitzartig zu.

„Wie wunderbar", haucht Astraia, die wie ich auch in der Tiefsee deutlich sehen kann. Diesmal stimme ich zu. Die bunten, meist hell gefärbten Wobbegongs bilden ein sich allmählich bewegendes Muster, in das sich immer die dunklen Hornhaie mischen. Der Effekt ähnelt einen sich langsam drehenden Kaleidoskop; es entstehen immer neue Muster, die den Betrachter in den Bann ziehen.

Eine ganze Weile sehen wir nur zu. Ich bekomme zwar Hunger, gehe aber mit Rücksicht auf Astraia nicht auf die Jagd. Zudem wartet in unserer Unterkunft eine gute Mahlzeit, die ich mit menschlichen Geschmacksknospen mehr genießen werde als einen noch so leckeren Tiefseefisch.

„Oh!" Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir mit Schauen verbracht haben, als Astraia zusammenzuckt. „Ich muss bald wieder meinen Platz einnehmen. Und ich wollte dir zuvor ein Geheimnis verraten."

„Dann mach's doch." Ich bin sofort bereit, ihr zuzuhören. Wir haben nur sehr selten Geheimnisse voreinander und es hat mich ziemlich getroffen, dass Astraia in den letzten Wochen über etwas gegrübelt hat, was sie nicht einmal mir anvertrauen konnte. Es geht mir weniger darum, alles zu erfahren; ich mag es vor allem nicht, wenn Astraia sich alleine mit einem Problem herumschlägt. Sie neigt dazu, ihre innen Konflikte zu schwer zu nehmen und will dann alles selbst bewältigen, um  niemanden sonst zu belasten, auch wenn es ihre Kraft übersteigt. Als wäre ich nicht da, um zu beizustehen. Dazu bin ich doch überhaupt an ihrer Seite.

„Nein, nicht hier. Wir sollten schleunigst auftauchen."

Damit bin ich einverstanden. Noch ein letzter Blick auf das Idyll unter uns, dann ... Plötzlich packt mich erneut der Übermut. Ich strecke meinen Seeschlangenkörper lang aus und lasse mich etwas absinken. Dann flitze ich ohne Vorwarnung los – dass Astraia mich noch eisern festhält, spüre ich ja – und wedele in seitlichen Windungen dicht über den Boden hinweg.

Der „Teppich" wird auf einmal sehr lebendig. Die Wobbegongs steigen hastig auf und schwimmen eilends fort. Etliche versuchen zuvor, mich zu beißen, aber durch meine Haut dringen nicht einmal Haizähne. In meiner Monstergestalt, wie Astraia meine Meerschlangenform nennt, bin ich nahezu unverwundbar und praktisch unangreifbar. Und meine Reiterin ist in meinen wirren, langen Haarsträhnen, die Tang ähneln, kaum auszumachen.

Auch einige der Hornhaie schwimmen auf und suchen sich Verstecke. Die meisten aber setzen ihre kurzen Flossenbeinchen in überaus schnelle Bewegungen und trippeln in Windeseile über den Meeresboden. Das sieht so komisch aus, dass Astraia mitten in der bereits angesetzten Strafrede innehält und sich vor Lachen ausschütten will. Ich grinse verhalten. Das hatte ich beabsichtigt.

Nachdem sich die Welt unter uns wieder beruhigt hat, steige ich wieder auf. Erst langsam, dann erneut mit großer Geschwindigkeit, denn ich spüre, dass Astraia es nun eilig hat.

Als wir die Wasseroberfläche durchstoßen, werfe ich einen raschen Blick zum Himmel, um abzuschätzen, wie viel Zeit uns noch bleibt. Astraia fühlt das Verstreichen der Zeit einfach, ich brauche Indizien dafür; eine Uhr, den Stand der Sonne oder wie jetzt die Sterne.

Am östlichen Horizont steht gerade der Krebs. Vom Löwen ist noch nichts zu sehen. Also sollten wir zwei Stunden Zeit haben. Das reicht, um nach Hause zu kommen, zu essen und für Astraia, sich auf ihren Aufgang vorzubereiten.

„Nein, nicht dahin", Astraia zieht an meinen Haaren, als ich den Weg zu unserer Unterkunft einschlage. „Dorthin!" Sie zeigt vermutlich irgendwohin, aber ich habe im Hinterkopf keine Augen. Schließlich bin ich Keto, die Seeschlange und nicht der hundertäugige Argos.

„Was genau meinst du?"

„Zu den Grotten am Strand, die wir letztes Jahr gefunden haben."

Mit der Auskunft kann ich mehr anfangen. „Also gut." Ich setze mich in Bewegung. Offenbar will mir Astraia dort erzählen, was sie in letzter Zeit so beschäftigt hat.

Als wir die Grotten erreichen, die jetzt halb unter, halb über Wasser liegen, hören wir beide als erstes das Klappern und Scharren, dann ein Klacken von einer zuschnappenden Schere.

„Skorpion!" Für keine von uns gibt es einen Zweifel, wer da über die Felsen krabbelt und nach Beute sucht. Ich sehe mich um. „Wo ist Phaeton?"

Hinter einem Felsblock taucht Skorpion auf, ein menschengroßes Spinnentier mit einem Panzer von einem herrlichen Bronzeton, wie ich ihn für meine Haare wünsche. Aber eigentlich wäre jede Farbe besser, als das helle Grünbraun, welches zumindest in meinen Augen einfach nur dreckig aussieht.

„Schläft!" Skorpion mümmelt an einer handgroßen Krabbe herum.

„Er sollte bei dir sein!" Ich kann es nicht leiden, wenn ein Wächter seinen Zodiak unbeschützt herumlaufen lässt.

„Pah!" Skorpion spuckt das Wort mitsamt dem Krabbenpanzer aus. „Ich bin nicht so wehrlos wie dein Schützling da!" Er fixiert die sehr still gewordene Astraia. „Hast du's ihr schon gesagt?"

„Das wollte ich gerade tun."

„Gut. Die Wärter sollten Bescheid wissen. Phaeton ist ganz schön sauer. Der Rat hat da einfach über unsere Köpfe hinweg entschieden."

„Der Rat?" Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es irgendwelche Probleme gegeben hätte, die das Eingreifen der Ratsmitglieder erfordert hätten.

„Naja, man könnte auch sagen Apollon", schränkt Skorpion ein. „Der hat entschieden und die meisten haben in seinem Sinne abgestimmt. Ich halte nichts davon."

„Ich finde es nicht schlecht." Astraia richtet sich auf, soweit das auf meinem Rücken sitzend und in Nixenform möglich ist. „Und er hat es verdient."

„Wenn du meinst", murmelt Skorpion, bereits wieder abgelenkt. Eine Welle hat einige Garnelen an Land gespült und Skorpion stürzt sich darauf. Uns hat er bereits wieder vergessen.

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