-(••÷[ Kapitel 1 ]÷••)-

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Oktober, 1896
China
Provinz Jilin
Baihe-Town



Ohrenbetäubender Lärm riss mich schweratmend aus meinen Träumen, gepaart von dem angsterfüllten Geschrei und Geheule meiner neunjährigen Schwester, die neben mir lag. Sofort schlang ich meine Arme um sie und drückte sie fest an mich, während mein Blick auf die Wanduhr fiel, die gerade mal zehn Uhr in der Nacht schlug. Lange hatten wir also noch nicht geschlafen.

„Sht ... ich bin ja hier", versuchte ich sie leise zur Ruhe zu bringen, so wie mich selbst, doch das half nicht. Sie schrie und weinte immer weiter, während mein Herz wie wild gegen meine Brust hämmerte. Das gefährlich flackernde Licht und die laute Kulisse machten es nicht gerade einfach sich zu beruhigen, weswegen ich die Baumwolldecke um sie zog und vorsichtig mit ihr auf dem Arm aufstand. Noch einmal presste ich Miga fester an mich, bevor ich langsam auf das Fenster zutrat und es nervös einen kleinen Spalt öffnete. Ich hatte Angst vor dem was mich dort draußen erwartete und doch brauchte ich Gewissheit.

Fest biss ich mir auf die Unterlippe, als ich das Feuer sah, welches das Gebäude gegenüber zu großen Teilen einhüllte und fragte mich zeitgleich, ob es nicht bereits zu spät war. Doch statt mir darüber weitere Gedanken zu machen, drückte ich Migas Gesicht gegen meine Brust, so dass sie nicht sehen konnte, was dort draußen geschah. Es war schlimm genug, dass sie die angsterfüllten Schreie hören konnte, die durch die Nacht hallten und ihre Angst schürten. Ich konnte es deutlich spüren, da sie fest ihre dünnen Ärmchen um mich geklammert hielt und ihre Finger in meinen Rücken bohrte. Sie suchte Halt und fand ihn bei mir – zumindest hoffte ich das inständig, während ich selbst drohte, meinen zu verlieren.

Im Gegensatz zu Miga konnte ich meinen Blick nämlich nicht von dem grauenvollen Geschehen wenden. Auch nicht, als ich noch einen Schritt vom Fenster wegging. Stattdessen zogen mich die schaurigen Gestalten, die draußen unschuldige Menschen abschlachteten, in ihren Bann. Die Angst hielt mich gefangen, während die wild um sich schlagenden Flammen alles um mich herum verschlangen. Sie ließen mich in das Gesicht des Teufels blicken und eine Welt sehen, die dem Untergang geweiht war.

Seit Monaten lebten wir bereits in der Angst, dass sich die Befürchtungen meiner Mutter bewahrheiteten, weswegen wir uns in China versteckt hielten. Doch heute war der Tag gekommen, an dem sie uns gefunden hatten. Vermutlich war meine Mutter bereits ermordet worden. Brutal abgeschlachtet und dann verbrannt. Sie legten alles in Schutt und Asche – vernichteten Spuren und das Feuer zog sich über den ganzen Platz, griff auf andere Gebäude über und entriss wehrlosen Familien ihr Zuhause. Es war grausam und doch musste ich nur an das Flehen meiner Mutter denken, die mich schon seit Wochen darauf vorbereitet hatte, dass wenn sie den Attentätern erlag, ich mich um Miga kümmern, dass ich einen klaren Kopf behalten musste.

Ich hatte bis zum Ende gehofft, dass es niemals so weit kommen würde, doch wir hatten in einer trügerischen Seifenblase gelebt, die in diesem Augenblick platzte, als ein abgetrennter Kopf gegen das halboffene Fenster schlug. Etwas Warmes spritzte mir dabei ins Gesicht und ließ mich erschrocken zurückweichen. Ich stolperte, verlor mein Gleichgewicht und fiel zu Boden, wobei mir ein erschrockener Laut entfloh. Sofort presste ich mir meine Hand über den Mund, starrte auf die Öffnung und betete zu den Göttern, dass mich niemand gehört, dass uns niemand entdeckt hatte. Die Zeit schien stillzustehen und mein Herz schlug wild in meiner Brust.

Ich schluckte schwer, sah zu meiner Schwester, die still an meiner Brust lag und sah wieder zu dem Fenster. Wir mussten hier verschwinden und zwar so schnell wie möglich. Ich setzte mich auf, schob Miga ein Stück von mir und sah sie fest an. Meine Hände hatte ich auf ihre Wangen gelegt, um ihr behutsam die Tränen wegzustreichen und selbst etwas Mut in ihrem Blick zu finden.

„Du musst jetzt stark sein, Schwester. Zieh dich schnell an... und versprich mir, dass du so leise wie nur möglich bist. Wir müssen heute das umsetzen, was uns Mutter beigebracht hat", flüsterte ich ihr zu. Sie nickte zaghaft mit fest aufeinandergepressten Lippen und ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor ich von ihr abließ und sie zitternd von mir krabbelte. Noch einmal atmete ich tief durch und versuchte mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es war okay Angst zu haben, aber es half uns nicht, wenn ich starr vor Entsetzen verharrte.

Fest biss ich mir auf die Unterlippe, krallte zusätzlich meine Finger in meine Oberschenkel und zwang mich dazu mich zu erheben. Meine Beine fühlten sich zittrig an und ich wusste nicht so recht, wo mir der Kopf stand, trotzdem schaffte ich es endlich das Fenster leise zu schließen. Es gab mir etwas Sicherheit zurück und trotzdem spürte ich deutlich die Panik in meinem Nacken sitzen.

Mit hastigen Handgriffen zog ich meine Baumwollhose über meine langbeinige Unterwäsche, blieb prompt mit dem Zeh an der Verengung des einen Beines hängen und fluchte leise. Mir wurde heiß und kalt zugleich und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Das musste schneller gehen! Ich zerrte noch einmal an dem Stoff, zog sie endlich hoch auf meine Hüfte und knotete sie mit dem Band fest. Mit zittrigen Fingern klaubte ich den Rest meiner Kleidung vom Boden und zog mich fertig an. Anschließend griff ich nach dem Bündel, welches seit Wochen für die Flucht bereitlag. Es befanden sich einige Unterlagen, unser königliches Siegel, Kleidung zum Wechseln, und Proviant in dem fest zusammengeschnürten Paket. Der Dolch hingegen, der unter dem Bündel versteckt gelegen hatte, verschwand unter den Stofflagen meines Hanboks, sicher verstaut und griffbereit.

Ich schlüpfte noch in die schwarzen Lederschuhe und half auch meiner Schwester beim Fertigmachen, bevor ich die Falltür öffnete, die sich unmittelbar neben unserem Schlafbereich befand. Miga kletterte vorsichtig hinunter und nahm unser Gepäck entgegen sowie eine kleine Laterne, die ich ihr noch reichte. Erst dann rutschte ich zu ihr nach unten in den Graben und schloss die Falltür leise über uns. Das Gefühl, welches sich dabei in mir breitmachte, ähnelte Erleichterung, denn hier würde man uns nicht so schnell finden.

Es war stockfinster, weswegen ich in meinen weiten Ärmel griff, indem man durchaus ein paar kleine nützliche Dinge aufbewahren konnte, und ein Zündholz hervorzog. Dieses strich ich mit zitternden Fingern an meiner Schuhsohle entlang und sofort flackerte eine kleine Flamme auf, die mich aufjaulen ließ.

„Mist ...", fluchte ich zusätzlich, während mir der Holzstab aus den Fingern glitt und mit einem leisen Zischen auf dem Boden ausging. Ich schloss meine Augen, spürte Migas Hand an meiner, die sie leicht drückte und atmete tief durch, bevor ich einen zweiten Versuch wagte und die Kerze entzündete. Auch das zweite Zündholz landete auf dem Boden, während ich zeitgleich die Laterne entgegennahm und Miga ein leises „danke" entgegenhauchte. Sie nickte mir nur zu und ich konnte deutlich erkennen wie schwer ihr das alles fiel. Mir ging es aber auch nicht besser, trotz der Trockenübungen, die uns unsere Mutter hatte machen lassen.

Durch ihre berechtigten Ängste, hatte sie immer dafür gesorgt, dass wir nicht in ihrer unmittelbaren Nähe waren und es bei jedem Versteck eine Fluchtroute für uns gab, die meistens aus einem unterirdischen Tunnel bestand. Sie hatte immer betont, dass ihr eigenes Leben sowieso verloren war, weswegen sie zumindest uns eine Chance zur Flucht gewährleisten wollte. Und daran hatte sie festgehalten, uns immerzu Mut zugesprochen und uns eingetrichtert, dass wir stark bleiben mussten, egal was passierte.

Das versuchten wir nun beide in die Tat umzusetzen, indem wir uns gegenseitig fest an der Hand hielten und vorsichtig dem unebenen Pfad folgten. Ich musste sogar leicht gebückt gehen, weil der Geheimgang nicht besonders hoch war. Überall lagen Steine oder wuchsen Wurzeln aus dem Boden und manchmal ragte auch ein Stück Holz aus der Decke, weswegen wir verdammt vorsichtig sein mussten und nur langsam vorrankamen. Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, doch als wir das Ende des Tunnels erreichten, machte sich eine weitere Spur Erleichterung in mir breit und ich ließ mich zu Miga in die Hocke sinken. Sanft legte ich meine Hand an ihre Wange, strich mit meinem Daumen darüber und legte anschließend meinen Zeigefinger über ihre Lippen.

„Ich klettere jetzt nach oben und sehe nach, ob wir in Sicherheit sind. Bleib hier, beweg dich nicht und sei leise", hauchte ich ihr zu, bekam wieder ein zaghaftes Nicken zur Antwort und wandte mich dann der morschen Holzleiter zu, die mir ein mulmiges Gefühl bescherte. Trotzdem kletterte ich hinauf, drückte die Falltür nach oben auf und lugte durch den kleinen Spalt hindurch. In der Scheune war es dunkel, aber still. Ich konnte keine Gefahr erkennen, weswegen ich vorsichtig und darauf bedacht keinen Lärm zu erzeugen, herauskletterte und die Falltür ganz öffnete. Ich hockte mich an den Rand, hielt meine Hand Miga entgegen und nahm die Laterne an, die ich auf dem Boden abstellte. Danach nahm ich das Bündel, welches Miga mir reichte und legte es neben mich. Erst dann kletterte Miga die wenigen Sprossen nach oben und ich half ihr heraus, bevor ich sie in eine feste Umarmung zog.

„Das hast du sehr gut gemacht. Jetzt müssen wir weiter. Wir dürfen uns noch nicht ausruhen", wisperte ich ihr zu, woraufhin wir uns voneinander lösten. Miga jedoch stoppte in ihrer Bewegung und beugte sich erneut zu mir, hob ihre Hand und begann mit ihrem Ärmel vorsichtig über mein Gesicht zu streichen. Überrascht sah ich sie an, fasste an ihre Hüfte und wollte sie von ihrem Vorhaben abhalten, doch als ich ihren warmen Ausdruck in den Augen sah, wurde mir ganz anders. Mein ganzer Körper begann sich auf einmal zu entspannen, bevor ich langsam begriff, was sie da eigentlich tat und mit welcher Inbrunst sie versuche das halbgetrocknete Blut aus meinem Gesicht zu reiben. Sie hatte dafür sogar ihren Ärmel mit Spucke befeuchtet und hörte erst auf, als sie zufrieden schien.

„Danke", murmelte ich und bekam dafür einen feuchten Kuss auf die Wange gedrückt. Ich lachte leise, zog sie noch einmal in eine feste Umarmung und griff erst danach nach unserem Hab und Gut, während Miga die Laterne nahm und wir uns wieder an der Hand hielten. Auf leisen Sohlen schlichen wir uns aus der Scheune und sahen uns immer wieder besorgt um. Es war mitten in der Nacht und man konnte in der Ferne noch den Tumult und den warnenden Gong vernehmen, der immer noch vor dem Feuer und dem Angriff warnte. Deutlich waren die Rauchschwaden und das lodernde Rot zu sehen, welches sich gefährlich am Horizont abbildete.

„Komm Schwester ... sieh nicht hin ...", flüsterte ich ihr zu, und zog leicht an ihrer Hand. Wir gingen in die entgegengesetzte Richtung, fort von diesem Ort und in eine ungewisse Zukunft.

⊱ ──── ⋅🐾⋅ ──── ⊰

Wir schafften es, ohne bemerkt zu werden, zu unserem ersten Ziel – eine abgelegene Lichtung. Hier konnten wir uns einen Moment ausruhen, realisieren was passiert war und uns von unserem Schock erholen. Sofort ließ ich mich in das feuchte Gras sinken, streckte meine Beine aus und legte das Paket neben mich. Miga hingegen machte es sich auf meinem Schoß bequem, nachdem sie die Laterne zu dem Bündel gestellt hatte und rollte sich müde auf meinen Beinen zusammen. Ich ließ sie, legte meine Hand in ihr Haar und begann ihren Kopf liebevoll zu streicheln. Mein Blick lag derweil auf dem Dorf, in dem wir die letzten Tage verbracht hatten und welches wegen uns niederbrannte.

In meinem Inneren breiteten sich Schuldgefühle aus und sorgten dafür, dass ich mich seufzend nach hinten ins Gras stützte und meinen Kopf in den Nacken fallen ließ. Mein Blick glitt über den düsteren Himmel, wo es nur wenige Leuchtpunkte durch die Rauchschwaden schafften, die unentwegt über das Firmament waberten und mir somit auch den letzten Halt nahmen. Der Damm brach und ich konnte deutlich die ersten Tränen spüren, die sich langsam aus meinen Augenwinkeln lösten und über meine Schläfen in mein Haar sickerten.

Trauern ist wichtig – hatte meine Mutter beim Tod meiner Katze gesagt – ich war acht gewesen - und dabei eine Hand auf meine Schulter gelegt, mich mit einem sanften Lächeln angesehen und mir danach einen Kuss auf die Stirn gedrückt.

Und dann stehst du wieder auf, klopfst dir den Dreck von dem Gewand, erhebst deinen Kopf und machst weiter – Ihr Blick bei diesen Worten war fest, kontrolliert und ein wenig streng, doch ihre Gesten waren immer liebevoll gewesen. Ich hatte meine Mutter über alles geliebt und nun war sie tot. Sie hatte uns verlassen und mich mit meiner Aufgabe in einer Zeit des Krieges allein zurückgelassen. Ich sollte unser Land von den Japanern befreien und diesem zu neuer Größe verhelfen. Ich? Ich lachte freudlos auf, krallte mich mit meinen Fingern in die Erde und unterdrückte ein frustriertes Schluchzen. Ich war 16 Jahre alt und ich hatte absolut keine Ahnung wie ich diese Aufgabe erfüllen sollte, vor allem, weil meine Chancen sehr schlecht standen, dass ich meinen Anspruch auf den Thorn zurückerlangen konnte.

Ich seufzte schwer, fasste mir mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und begann diese zu massieren. Nur langsam stellte sich etwas Entspannung ein, doch an Ruhe war weiterhin nicht zu denken. Wir brauchten ein Pferd und noch mehr Proviant, vielleicht lieber eine kleine Kutsche ... ein kleiner Transportwaagen, getragen von einem Pferd, würde schon ausreichen ... nein das war zu auffällig. Wir durften nicht entdeckt, nicht gefunden werden.

Unruhig zog ich das zusammengeschnürte Paket zu mir und öffnete den Knoten, um die Landkarte von China herauszuholen. Ich entfaltete sie auf dem Boden und fuhr die einzelnen Zeichnungen nach, die Mutter auf dieser hinterlassen hatte. Der feine Kreis, der die Stadt Yanbian umkreiste und der akkurat geschriebene Name der Frau, die wir aufsuchen sollten, erinnerten mich an ihre Worte. An ihre Vorbereitung, die sie schon Monate zuvor jeden Tag mit mir besprochen hatte. Alles war so klar in meinem Kopf und ich wusste auch, dass ich dem Plan folgen musste, doch irgendetwas hielt mich zurück. Ob es die Angst vor dem Versagen war, oder doch die Trauer, die mich an Ort und Stelle band, konnte ich nicht genau sagen. Ich wusste nur, dass ich noch nicht bereit war.

⊱ ──── ⋅🐾⋅ ──── ⊰

Letztendlich überwand ich mich nach einiger Zeit doch und weckte Miga, indem ich behutsam an ihrem Körper ruckelte. Es tat mir in der Seele weh, als sie erschrocken zusammenzuckte und mich danach aus ihren großen, jedoch verquollenen Augen ansah.

„Wir müssen weiter", hauchte ich ihr zu, strich sanft mit meinem Daumen über ihre Wange und somit die Tränenspuren weg. Da fasste Miga nach meiner Hand, hielt sie fest und umfasste sie mit ihren eigenen. Fest zog sie meine an sich und drehte sich zu mir um, so dass sie mich in den Arm nehmen konnte. Sofort breitete sich eine unglaubliche Wärme in meinem Inneren aus und ließ mich eine Spur mehr Mut fassen. Ich flüsterte ihr ein leises „danke" zu und raffte mich mit ihr auf. Sie griff bereits nach der Laterne, während ich noch damit beschäftigt war mir das Bündel auf die Brust zu schnüren und mit dem Kompass, der in meinem Ärmel griffbereit gewesen war, die Richtung zu überprüfen, in die wir gehen mussten.

„Bereit?", fragte ich Miga, die leicht nickte, jedoch zeitgleich nach meiner Hand griff und sie fest mit ihrer umschloss. Schnell verstaute ich die Karte und den Kompass in meinem Hanbok und betrat mit Miga den Pfad, der in den tiefsten Wald führte. In eine ungewisse Zukunft, aber eine, die wir bestreiten mussten, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob Miga das wirklich verstand. Anderseits war sie seit dem Überfall so still und bedacht, dass ich keinen Zweifel daran hegte, dass sie durchaus wusste in was für einer brenzligen Situation wir uns befanden und was alles davon abhing. Letztendlich spielte es jedoch keine Rolle. Ich musste es schaffen uns beide aus dieser misslichen Lage zu befreien und das war leichter gesagt als getan.

⊱ ──── ⋅🐾⋅ ──── ⊰

Als wir zum nächsten Morgengrauen beim nächstgelegenen Dorf ankamen, trug ich Miga auf meinem Rücken und war verdammt erschöpft. Ich war nicht einmal in der Lage die Situation richtig einzuschätzen, als einfache Bürger auf uns zukamen und uns ihre Hilfe anboten. Eigentlich hätten alle meine Sinne Alarm schlagen müssen, doch stattdessen machte sich eine gewisse Erleichterung in meiner Brust breit und ich nahm das verlockende Angebot an, ohne weitere Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. So ließ ich mir Miga von zwei Frauen abnehmen und sank selbst erschöpft in die Arme einer anderen. Mein Blick ruhte trotzdem noch auf meiner Schwester, bis ich sie in einem der Häuser verschwinden sah.

„Na komm mein Junge ...", hörte ich eine der Frauen sagen, die mich hielt und nun etwas hochhievte, so dass ich ihr auf trägen Beinen folgen konnte. Im Grunde schlief ich schon fast im Stehen ein und war erleichtert, als ich weichen Untergrund unter mir spürte. Beinahe augenblicklich fiel ich in tiefen Schlaf.

⊱ ──── ⋅🐾⋅ ──── ⊰

Nur wenige Stunden später schreckte ich hoch und starrte wie gebannt auf die Decke, die über meinen Beinen lag. Mein Herz pochte wild, während mein Körper zitterte und der kalte Schweiß auf meiner Stirn stand. Was war geschehen? Wo war ich? Aber noch viel wichtiger war – wo war meine kleine Schwester? Denn neben mir lag sie nicht, so wie es eigentlich der Fall sein sollte.

Hastig sah ich mich um, während ich versuchte mich daran zu erinnern was passiert war. Etliche Bilder schossen mir in den Kopf, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Feuer, Verderben, Angst, Geschrei – eine weinende Miga. Instinktiv griff ich nach dem Dolch, den ich deutlich an meiner Brust spüren konnte und schlug die Decke beiseite. Ich musste sie finden!

„Herr, wir haben Euch ein Pferd gesattelt", riss mich eine fremde Stimme aus der Irritation. Ruckartig drehte ich mich zu der älteren Chinesin um und hatte dabei bereits aus Reflex den Dolch gezogen. Das ließ die Frau erschrocken und mit einem dumpfen Laut zurückweichen. Mit erhobenen und aneinandergepressten Händen ging sie vor mir in die Knie, was mich schwer schlucken ließ. Ich begriff sofort, dass sie Angst vor mir haben musste und schob deswegen den Dolch wieder zurück. Trotzdem behielt ich die Frau genau im Auge, da ich ihr nicht wirklich traute. Wie könnte ich auch nach alldem was passiert war?

„Verzeiht, aber wo ist meine Schwester?", fragte ich auf chinesisch – meine Mutter lehrte es uns, genauso wie Japanisch und Russisch. Es war wichtig seine Gegner und Verbündete zu verstehen.

„Ich werde sie zu Euch bringen, Herr." Die Frau rappelte sich umständlich auf, behielt jedoch ihre gebeugte Haltung bei und schob sich langsam rückwärts aus ihrem Haus, wobei mir jetzt erst auffiel, wie unhöflich und egoistisch ich mich verhalten hatte. Diese Menschen hatten mich einfach in ihr Haus gelassen und mir einen Platz zum Schlafen gegeben. Sie hätten das nicht tun müssen und was tat ich? Ich bedrohte sie und verlangte sofort meine Schwester zu sehen?

Tief atmete ich durch, fuhr mir mit meinen Händen durch das lange Haar und zwang mich zur Ruhe. Ich musste einen klaren Gedanken fassen, bevor ich einen weiteren Schritt wagen konnte. Doch bevor ich so weit war, knurrte mein Magen und mir wurde jetzt erst bewusst, wie durstig und hungrig ich eigentlich war. Erneut war ein lautes Rumoren zu hören, weswegen ich meine Hand auf meinen Bauch legte und mich ein zweites Mal in dem kleinen Raum umsah.

Ich entdeckte ein kleines Tablett auf dem Podest, auf dem ich saß, und erkannte auf diesem einen Becher mit dampfendem Inhalt und etwas Reis. Ohne darüber nachzudenken, zog ich das Servierbrett zu mir heran, nachdem ich die Decke von meinem Körper geschoben hatte, und griff nach der Reisschüssel. Sofort begann ich alles zu verschlingen und verschluckte mich sogar beim Trinken, so dass ich mir selbst hustend auf die Brust klopfte und mich zur Mäßigung zwang. Mutter hatte mir definitiv ein anderes Benehmen beigebracht, also setzte ich mich aufrecht hin, strich meine Kleidung glatt und aß anständig zu Ende.

Meine Gedanken jedoch konnte ich nicht aufhalten. Sie begannen die Situation zu analysieren und nur langsam sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass die Frau wusste, dass ich kein normaler Bürger war, aber woher? Sofort glitt mein Blick zu dem Bündel, welches neben dem Podest auf dem Boden lag. Mein Mantel lag über der Kante und die Karte, sowie der Kompass lagen obendrauf. Es war alles feinsäuberlich abgelegt worden und es gab kein Indiz dafür, dass es durchwühlt worden war, und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie etwas gesehen haben musste, was ihr einen Hinweis gegeben hatte, dass ich kein normaler Junge war. Wahrscheinlich war ich auch nur paranoid und wurde wahnsinnig.

Tief atmete ich durch, während ich zeitgleich meine Augen schloss und mich erneut zur Ruhe zwang. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren und das funktionierte nicht, wenn ich begann durchzudrehen, weswegen ich mir noch einen Moment gab, bevor ich meine Beine über die Kante schwang und mich erhob. Mit geübten Handgriffen richtete ich meine Kleidung, griff nach meinem Mantel und zog ihn über, bevor ich mich wieder auf das Podest sinken ließ und nach dem Kamm griff, der auf der Ablage lag. Wir sollten keine weitere Zeit verlieren.

„Bruder ... Darf ich?"

Ich sah überrascht zu meiner Schwester, welche so plötzlich den Raum betreten hatte, dass sie mich völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Trotzdem lächelte ich jetzt. Sie sah deutlich gesünder und munterer aus als noch am Abend zuvor und sie wirkte lockerer. Hatte sie vergessen was geschehen war? Hatte sie es verdrängt oder überspielte sie es deutlich erfolgreicher als ich?

Erschrocken zuckte ich zusammen, als sie mir den Kamm aus der Hand nahm und mich somit schon wieder aus meinen Gedanken riss. Was war nur los mit mir? Jetzt jedoch schloss ich erst einmal meine Augen, da Miga mit ihrem Vorhaben begonnen hatte und mir liebevoll mit dem Kamm durch das Haar fuhr. Es war ein kleines Ritual zwischen uns, welches Miga seit ihrem fünften Lebensjahr so oft wie nur möglich bei mir vollzog. Sie hatte Spaß daran und sie mochte es, dass meine Haare sogar länger als ihre eigenen waren. Doch heute konnte ich es nicht richtig genießen, da es in meinem Hinterkopf laut pochte. Wir hatten keine Zeit für solche Dinge. Wir mussten weiter... wir konnten nicht~

„Sht ...", begann Miga leise, drückte meine Schulter und begann leise zu singen. Ihre sanfte Stimme beruhigte mich und gab mir das Gefühl schwerelos zu sein, während ich völlig verdrängte, was passiert war. Die Anspannung fiel von mir ab und ich hatte das erste Mal seit langem wieder das Gefühl anständig atmen zu können. Wir nahmen uns die Zeit, die wir brauchten, die vor allem ich brauchte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Deswegen war ich Miga unglaublich dankbar für diesen Moment und war erstaunt darüber, dass sie so stark blieb und nicht die Nerven verlor. Trotzdem wusste ich, dass diese Situation auch an ihr nicht spurlos vorüberging, denn sonst würde sie mehr reden und auch lächeln, doch dieses zeigte sie nur noch selten, was mich unglaublich traurig machte.

Ich war erleichtert, dass sich am Ende herausstellte, dass die Dorfbewohner uns wirklich wohlgesonnen waren und uns in unserem Vorhaben unterstützten. Warum sie dies taten, wussten wir nicht, aber ich stellte es auch nicht weiter in Frage. Stattdessen waren wir ihnen unglaublich dankbar, da sie uns mit allem ausstatteten, was wir für unsere Weiterreise brauchten.

Es war bereits Mittag, als wir endlich auf das Pferd stiegen. Miga saß vor mir, während ich die Zügel hielt und das Pferd sanft antrieb, damit es sich in Bewegung setzte. Wir hatten noch eine lange Reise vor uns.

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