Jetzt musste ich doch tatsächlich meinen Zeigefinger auspacken

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Lieber D,

Was ich dir noch sagen wollte: "Jetzt musste ich doch tatsächlich meinen Zeigefinger auspacken."

Du bist schon seit ein paar Tagen nicht so gut drauf. Eigentlich trifft sich das sehr ungut, weil du nächste Woche entlassen wirst. Dir ging es jetzt lange gut, aber seit du dein Entlassdatum kennst, geht es bergab.

Zu gehen, nicht mehr zu uns zu kommen, macht dir Angst. Veränderungen findest du sowieso doof, egal um was es geht. Als ich neulich beim Friseur war, warst du tagelang irritiert. Und, wenn wir mal ehrlich sind, meine Frisur hat für dein Leben nur eine untergeordnete Bewandtnis.

Die Entlassung ist für dein Leben wichtig. Vielleicht nicht lebensverändernd oder unwiderruflich zukunftsweisend, aber dein Alltag ändert sich auf alle Fälle. Keine Gleichaltrigen mehr, mit denen du den ganzen Tag spielen kannst. Keine Erwachsenen mehr, die sich mit dir beschäftigen und dich einfangen, wenn deine Launen mit dir durchgehen. Keine Lehrer mehr, die mit dir Einzelunterricht machen und sich danach richten, was dich gerade interessiert.

So ist das richtige Leben nun mal nicht. Im richtigen Leben musst du deine Klassenkameraden davon überzeugen mit dir zu spielen, indem du nett zu ihnen bist. Deine Eltern kümmern sich natürlich um dich und beschäftigen sich mit dir, aber eben nicht rund um die Uhr. Und die Lehrer haben noch 15 andere Kinder zu unterrichten und einen Lehrplan, der ihnen im Nacken sitzt.

Natürlich macht das richtige Leben dir Angst.

Wir haben dich vorbereitet. Du bist vorbereitet. Du kannst das schaffen. Du glaubst nur selbst noch nicht daran. Und deswegen bist du gerade so gestresst. Ich verstehe das.

Heute war ein speziell schlechter Tag. Und dann kam auch noch die Sache mit den Bauklötzen dazu: Jemand hatte in deiner Abwesenheit mit deinen Bauklötzen weitergespielt. In deinen Augen ein unverzeihliches Verbrechen. Vorher war der Turm nämlich perfekt - hinterher sah es nach deiner Aussage schrecklich aus.

Du hattest schon auf Station geflucht, gezetert, bittere Tränen vergossen und mehreren Personen Schläge angedroht. Deine Schreie waren wahrscheinlich im ganzen Haus zu hören. Deine Stimmlage wird leider sehr hoch und quietschig, wenn du dich aufregst. Du ähnelst dann sehr einer Fledermaus. Leider bist du dann auch nur noch für Fledermausohren verständlich.

Deshalb wurdest du zu mir geschickt. Um über das Ganze zu reden und dich idealerweise zu beruhigen. Und so lächerlich der Vorfall mit dem zerstörten Bauklötzchenturm auch klingen mag - ich habe selten ein so verzweifeltes Kind gesehen. Denn es ging eben nicht um den Bauklötzchenturm, sondern um alles: deine Angst, deine Trauer, deine Wut. Wut, dass wir dich wegschicken, Trauer, dass du uns vermissen wirst, und Angst vor dem, was da alles auf dich zukommen mag.

Aus deiner Sicht habe ich wohl deine Empörung über die Bauklötzchen nicht genug gewürdigt. Dann habe ich dir gemeinerweise auch noch unterstellt, traurig zu sein. "Ich bin nicht traurig, ich bin genervt!" Und dann ging es los, alles brach aus dir raus: Ich würde dich sowieso nie verstehen, weil ich einfach dumm bin, nie irgendetwas kapiere, und ich soll mich doch einfach verpissen.

Ich habe dich ungefähr zehn Sekunden zetern lassen, in der Hoffnung, dass du von alleine runterkommst. Leider vergeblich. Deshalb musste ich dann doch meinen Zeigefinger auspacken. Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut der gepaart mit einem etwas bestimmteren Tonfall und den Worten "So redest du nicht mit mir!" wirkt. Dabei benutze ich ihn so gut wie nie.

Danach konnten wir uns wieder normal unterhalten, und du hast es sogar wieder zurück auf Station geschafft. Ohne jemanden zu schlagen. Du konntest dich sogar entschuldigen. Und morgen wirst du wieder zu uns kommen.

Das Ganze hat für uns beide etwas Gutes gebracht. Ich weiß, dass mein Zeigefinger noch funktioniert. Und du hast das Angebot, am Ende der Sommerferien für ein paar Wochen wiederzukommen, egal wie es dir zu dem Zeitpunkt geht, dankbar angenommen. Denn was bei deinem ganzen Gezeter und Gekreische trotzdem klar und deutlich ankam, war "Mir geht es schlecht. Helft mir!"

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro