020 * klärendes Gewitter * Mo. 12.8.2019

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Zum Mittagessen erwartet mich Jenny schon zu Hause.
„Hei, du lebst ja noch! Haben dich die Frechdachse verschont?"
„Ja, und Lennart auch. Wort dieser Stunde war: unsicher. Der Stoff kam gut rüber, die Teenies haben auch einigermaßen mitgemacht. Aber bei der Nachbereitung haben wir sehr viel über Unsicherheit, natürliche Autorität und übergeordnete Ziele im Unterricht geredet. Wie muss ich auftreten, dass die Schüler mich ernst nehmen, mich respektieren, ohne sich vor mir zu fürchten? Wie halte ich die Balance zwischen professioneller Distanz und persönlicher Nähe, zwischen Humor und ernsthaftem Arbeiten? Was muss ich – unabhängig vom Stoff – über mich und über Gruppendynamik, über Leistungsgefälle und über die zusammengewürfelten Kulturen und noch einiges mehr wissen, damit ich das Schülerverhalten gut einschätzen und versiert darauf reagieren kann? Das Fach ist das eine. Glaubwürdigkeit, Fingerspitzengefühl, Intuition, pädagogisches und psychologisches Wissen sind aber eigentlich genauso wichtig, wenn ich eine gute Bindung zu einer Klasse aufbauen will."

„Jaaaaa, das ist Lennart."
Ich muss zurückdenken an meine ersten Wochen.
„Ich ... musste an dich und Max denken. Ich verstehe jetzt vielleicht ein bisschen besser, warum es dir so schwerfällt, das zu trennen. Weil es nämlich nicht so leicht ist, eine gute Beziehung zu den Schülern aufzubauen, die eigene Persönlichkeit dabei aber auszuklammern. Wenn das überhaupt geht. Da braucht man wahrscheinlich sehr viel Berufserfahrung oder ein dickes Fell. Und das haben wir beide noch nicht."
„Stimmt. Lennart übrigens auch nicht. Er ist hochsensibel und gleichzeitig unglaublich kontrolliert. Man merkt es ihm nur an, dass ihn was so richtig mitnimmt, wenn man ihn gut und lange kennt."

Inzwischen sitzen wir mit einer faulen Tiefkühlpizza auf dem Balkon und schwitzen erstmal den anstrengenden Vormittag aus. Anschließend gehen wir beide an unsere Schreibtische, denn die nächsten beiden Tage Unterricht wollen vorbereitet werden. Ich starre allerdings die meiste Zeit aus dem Fenster, denn innerlich nehme ich Anlauf für das Gespräch mit Max.

Um 16.00 Uhr klingelt es, und ich bitte Jenny aufzumachen, weil ich glaube, dass es Max dann leichter fällt reinzukommen. Ich höre die beiden im Flur sich begrüßen, und dann klopft Jenny bei mir.
„Toni? Max ist da."
Ich komme aus meinem Zimmer und habe erstmal bewusst gar nichts dabei.
„Hallo, Max. Schön, dass du da bist. Möchtest du was Bestimmtes zu trinken?"
„Wasser oder Saft passt schon."
Ausweichende Augen und Eiszeit.
Ich öffne die Wohnzimmertür, zeige auf unseren aufgeräumten Esstisch und laufe los zur Küche.
„Setz dich ruhig schon. Ich bin gleich wieder da."

Als ich mit Flaschen und Gläsern hereinkomme, sitzt Max auf seiner Stuhlkante, Beine eingeklappt unterm Stuhl, reibt nervös seine Hände an der Hose und sieht aus, als wollte er am liebsten sofort schreiend rausrennen. Sein Blick gleitet irritiert über den leeren Tisch. Ruhig setze ich mich daneben und warte.
Das ist fies, aber ich darf mich nicht rechtfertigen müssen.

Nach mehreren Minuten blickt Max auf und mir direkt ins Gesicht.
„Na los! Sagen sie mir schon ins Gesicht, dass mein Vater sie beleidigt hat, und dass das Wegrennen 'ne kindische Aktion war. Dass ich vor meinem Vater kusche, dass ich eine Heulsuse bin, und ..."
„Stop! ... Ach, Max. Nichts, wirklich nichts von alledem wird mir jemals über die Lippen kommen. Warum sollte ich DIR vorwerfen, dass dein Vater sich nicht benehmen kann? Bitte, glaube mir, dass ich ganz bestimmt nicht vorhatte, dich zu ärgern oder vorzuführen. Ich habe mal wieder zu zielorientiert gedacht und dich dabei nicht mitgenommen."

„Es ... war demütigend ... Ich hab große Lücken, aber ich bin doch nicht doof!"
Armer Kerl. Seine Stimmungen, seine Lautstärke und seine Mimik wechseln schneller, als ich sprechen kann. Wut, Trauer, Angst, Einsamkeit, Anspannung, Resignation – so viel huscht über sein Gesicht, und auch seine Stimmlage ändert sich ständig.
„Wenn ich nicht wirklich dran glauben würde, dass du das schaffst, hätte ich die Nachhilfe nicht übernommen. Ich weiß, dass du das schaffst. Ich bin sogar bereit, für dich mit dran zu glauben, wenn du vor lauter Überarbeitung nicht mehr dran glauben kannst."

Vorsichtige Hoffnung glimmt in seinen Augen auf.
„Ich hab keine Ahnung, ob ich tatsächlich eine Chance habe."
„Das ist mir klar. Dein Vater hat sehr gründlich dafür gesorgt, dass dein Selbstbewusstsein so richtig im Keller ist. Und deshalb ist es mir ganz wichtig, dass du dich sicher fühlst in Mathe. Und darum hab ich ganz unten angefangen – damit ich nichts übersehe. Nicht, um dich zu demütigen. Das tut mir sehr leid. Du bist nicht kindisch. Du bist keine Heulsuse. Du bist stark und tapfer und manchmal schon viel erwachsener, als es nötig und normal für dein Alter ist."

Plötzlich blitzt er mich an und legt nochmal los.
„Ach ja? Und warum packen Sie mich dann in Watte und rollen mir den roten Teppich aus und rufen meine Lehrer zusammen zur großen Streichelverschwörung? Ich will das nicht! Dann schaff ich das vielleicht, aber dann hab nicht ich das geschafft! Ich will keine Extrawurst!!!"

Jetzt bin ich doch etwas verblüfft.
Wattepackung? Streichelverschwörung? Erstens hat da wohl jemand gesungen, und zweitens würde ich nie für ihn mogeln und Vorschriften umgehen. Und drittens: ach du je, ich hab ihn wohl noch tiefer getroffen, als ich gedacht hab.
„Max, ich merke, dass ich dich sehr, sehr verletzt haben muss. Aber ich verstehe noch nicht ganz, womit oder wie. Erklärst du es mir bitte? Sei so wütend auf mich, wie du willst. Hauptsache, ich verstehe dich, und wir finden unsere Vertrauensbasis wieder."

Jetzt senkt er wieder den Kopf und sagt gar nichts mehr.
Hilfe, ist der durch!
„Max, bitte rede mit mir."
Er schnauft, als müsste er á la Sisyphos einen Stein auf einen Berg rollen.
„Sie haben mir gesagt, dass sie mit Tanja reden und ein Korsett um mich bauen wollen. Sie haben mindestens Herrn Erdmann gesagt, dass ich Schwierigkeiten mit meinem Vater habe. Ich WILL nicht, dass das jeder weiß. Es ist schlimm genug, dass es so ist. Aber Mitleid hilft mir nicht weiter. Ich muss selber erwachsen werden. Ich muss selbst für mich einstehen können. Ich muss selbst meine Grenzen austesten und mein Päckchen tragen. Ich brauche Hilfe in Mathe. Aber keine Lebenshilfe!!!"

Wo er recht hat, hat er recht. Tja, Toni, selbstgestellte Falle ...
„O.K. Das verstehe ich vollkommen. Und ich gebe zu, dass ich dich mehr fragen und nicht einfach machen sollte. So, wie es sich für dich anfühlt, ist es einfach nicht in Ordnung. Entschuldige bitte."

„Sie machen sich echte Sorgen um mich, oder?"
Uff. Was'n Themenwechsel!
„Ja, leider. Auch deine Freunde und der Rest deiner Familie macht sich Sorgen. Dein Vater ist eine tickende Zeitbombe. Das war nur ein Etappensieg. Ja, ich mache mir wirklich Sorgen, dass du unter allem zusammenbrichst, wenn diese Bombe hochgeht."
„Ich ..."
„Und zwar nicht, weil du zu doof oder zu kindisch dazu bist, sondern weil ... Ich kenne nur die Spitze vom Eisberg deiner Familiengeschichte, und ich werde dich auch nie aushorchen nach mehr. Das verspreche ich. Aber ich sage dir von nun an ehrlich, was ich sehe und was für Schlüsse ich daraus ziehe. Du steuerst!
Du hast mir am Donnerstag vom Parkplatz aus deine Stiefmutter angekündigt. Und dein Vater hat sie dann ausdrücklich als deine Mutter vorgestellt. Da ich weiß, dass DU keinen Sockenschuss hast, muss es wohl dein Vater sein, der hier nicht rund läuft. Und dass da der Sohn den Vater erziehen muss statt umgekehrt. Das sollte aber nicht deine Aufgabe sein. Du solltest den Kopf frei haben."

Jetzt laufen auch noch Tränen, die er krampfhaft zu unterdrücken versucht.
„Schön wärs ..."
„Lass laufen. In unserer Gesellschaft ist es unüblich, dass man vor Publikum weint, und ganz besonders für Männer. Auch noch in deiner Generation. Ich halte das für ausgemachten Unsinn und brandgefährlich. Jede Seele braucht ein Ventil. Für mich sind Menschen nicht schwächer sondern stärker, wenn sie ihrer Seele dieses Ventil gönnen. Und die, die es unterdrücken, werden krank und bauen dann so richtig Mist. Versteck dich nicht."

Max sackt in sich zusammen und schlägt die Hände vors Gesicht. Aber er unterdrückt die Tränen nicht mehr. Er lässt tatsächlich laufen. Ein paar Minuten ist es gespenstisch still. Dann schaut er mir wieder in die Augen.
„Sie ... sie finden, dass jemand, der heult, der eigentlich Starke ist???"
Ich lächele ihn an und nicke.
„Und das Schreien am Donnerstag? War das auch so was? Ich weiß immer noch nicht, was das war und wie ich das finden soll. Haben Sie mich da manipuliert, oder war es einfach Zeit dafür, oder ... was???"

„Du hast es selbst vorher noch im Scherz gesagt. Das war wohl tatsächlich – unbeabsichtigt von mir, aber durchaus sofort genutzt von deiner Seele – Schreitherapie. Ich war selbst sehr angespannt an dem Tag und sehr mit dir beschäftigt. Darum habe ich gespürt, dass ich dir irgendein Ventil schaffen muss, damit du diesen Tag durchhältst. Erst war es ja auch 'nur' ein Ventil. Aber du hast dich zwischen deinen Freunden sicher gefühlt, und dann hat deine verletzte Seele das Ruder übernommen. Ja, Max, ganz unbedingt. Du darfst dich an deine Mutter erinnern! Das war das einzige, was ich verstanden habe. Niemand darf dir DAS verbieten."

Einmal noch holt er tief Luft.
„Gut. Denn ... ich habs zwar nicht kapiert, aber ... es war gut. Ich möchte nur einfach, dass nicht Sie beschließen, dass ich jetzt ein Ventil brauche. Fragen Sie mich doch einfach! Wie Sie vorhin gesagt haben – nehmen Sie mich mit! Sonst hilft mir das nichts."
„Du bist der Kapitän. Und der Steuermann. Ich werde mir Mühe geben, erst zu merken und dann zu reagieren. Denn das oberste Ziel muss für uns alle sein ... Mecker nicht, ja, für UNS ALLE! Dass du DEINEN Weg gehst und DEIN Selbstbewusstsein wiederfindest und DEINE Selbstachtung nicht verlierst."

Eeeeeendlich, endlich entspannt er sich und lächelt mich an.
„Klingt gut. Damit kann ich leben. Und wie hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ich das hinkriege?"
„Das, lieber Max, kannst du im nächsten Juni schön für dich allein ausrechnen. Vorher nicht! Und jetzt hol ich die Unterlagen. Ein bisschen Mathe sollten wir heute noch machen."
Ich stehe auf und bin schon halb aus der Tür.

„Moooooment! Ich hab mir Arbeiten fürs 5. und 6. Schuljahr aus dem Netz gesucht und schon gemacht. Langsam kommt es in Bereiche, wo ich mehr nachdenken muss. Hier sind sie."
„Siehst du? Das ist einer der Gründe, warum ich dich so mag und dich siegen sehen will. Du gibst nicht auf. Du warst sauer. Sehr sauer. Und sehr verletzt. Aber du hast die Herausforderung angenommen. Klasse! Zeig mal, wir gehen das einfach zusammen durch."
Heimlich, still und leise fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen, als ich mich wieder neben ihn setze und mit ihm gemeinsam die Klassenarbeiten bespreche.

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4.10.2020    -    9.4.2021

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