060 ** Achtsamkeit ** Sa. 5.10.2019

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Am Samstag Mittag kriege ich eine SMS von Frau Süß, dass sie ein paar Tage nicht da sein wird und ich erst am Freitag wieder zu ihr kommen soll. Ich antworte ihr, dass ich jetzt zu einem Therapeuten gehe, dass sie da auch Thema sein wird, dass das aber der Schweigepflicht unterliegt und uns nicht gefährden kann.
Auch gut. Vielleicht hilft uns ein bisschen Abstand, und ich muss ja eh meine Facharbeit fertig schreiben.
Die beiden Termine werden mir zwar für Mathe fehlen, aber ändern kann ich es nicht.

Ich nutze also das Wochenende dazu, meine Facharbeit so weit fertig zu bekommen, dass ich Onkel Uwe am Montag bereits was Brauchbares zur Beurteilung abgeben kann. Am Sonntag lässt Luis mich früher in die Tanzschule rein. Ich gehe in den kleinen Probenraum im Keller, sortiere meine Stichpunkte zu den praxisbezogenen Anteilen meiner Facharbeit, schaue mir nochmal die Handyaufnahme von mir an, die Frau Süß im Sportunterricht gemacht hat, und versuche, aus all dem etwas zu basteln, das am Ende für die praktische Abiturprüfung taugt. Atemübungen fürs Warming Up, Bewusstmachungs- und Achtsamkeitsübungen, Bewegungsfragmente.

Am spannendsten ist natürlich die Frage: wie bringe ich mich oder mein Gegenüber dazu, die Kopfkontrolle über den Körper los und der Seele freie Bahn zu lassen? Seit ich auf das Thema gestoßen bin, beobachte ich mich selbst wie von außen. Und ich habe festgestellt, dass ich selbst da gar nicht so viel tun muss. Denn wenn es wirklich brennt, dann übernimmt die Seele von alleine die Führung.
Egal, ob ich sitze, laufe oder tanze – mein Körper zeigt immer, wie es der Seele geht, ich kann es gar nicht verhindern. Meine Tränen, mein Lachen, meine Bedürfnisse wollen einfach wahrgenommen werden. Je mehr ich meinem Körper und meiner Seele zutraue, dass sie richtig liegen und mich gut führen können, desto stabiler, freier und kreativer kann ich leben und im Alltag bestehen.
Aber wenn ich die Berichte von Therapeuten so anschaue – wenn ein Patient aufgrund seiner Geschichte große Probleme mit seinem eigenen Körper hat. Oder zum Beispiel Angst vor Kontrollverlust hat. Dann ist es extrem schwierig, den Kopf auszuschalten und einfach loszutanzen. Das erfordert dann wahrscheinlich gaaaaanz viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl vom Therapeuten, den Patienten aus der Reserve zu locken.

Das Wetter ist inzwischen endgültig auf Herbst umgeschlagen, und so muss ich mich schon ziemlich einmummeln, wenn ich Fahrrad fahre. Trotzdem bin ich wild entschlossen, den ganzen Winter bei egal welchem Wetter mit dem Rad unterwegs zu sein, damit ich einen Ausgleich zu dem viel zu vielen Sitzen habe.

Als ich am Montag Morgen bei Onkel Uwe in seinem Praxiszimmer sitze, bin ich mit meinem Thema schon ein gutes Stück weiter – und auch für mich selbst hat sich wieder viel ergeben. Er nimmt sich viel Zeit für mich, wir gehen gemeinsam die Facharbeit durch, er klebt viele kleine Post Its an die Ränder, wo er gerne einhaken möchte. Er wirkt sehr interessiert, und zweimal murmelt er vor sich hin.
"Ich bin in meiner Arbeit viel zu verkopft, wenn ich mir das hier so anschaue."
Und: "Bei dir wäre ich auch gerne Patient."

Dann lässt er alles einen Moment sacken, bevor er sich an mich wendet.
„Ich sehe schon, dass du selbst kaum zwischen deiner momentanen persönlichen Geschichte und deiner Facharbeit trennst. Aber du machst das so geschickt, dass es trotzdem sehr sachlich ist. Ich möchte das allerdings für deine eigene Therapie gerne trennen. Hier bist du nicht der Therapeut, du musst nicht gedanklich neben dir selbst stehen und dich von außen beobachten. Bleib bitte ganz bei und in dir. Das heißt, dass wir hier jetzt reden über die Anteile der Arbeit, die dich selbst ausmachen. Wir nutzen das, um weiter für dich zu verarbeiten, was alles passiert ist. Und für die sachliche Richtigkeit lese ich mir das zu Hause durch. Ich komme dann morgen oder spätestens Mittwoch abends zu dir, und wir korrigieren das gemeinsam durch."

Erst jetzt machen wir uns an die therapeutische Arbeit für heute. Wir reden sehr viel über Mama, über ihren Tanz, darüber, wie Mama und Papa sich kennengelernt haben, was sie aneinander fasziniert hat, woran er spüren konnte, was das ist, was Mama da bewegt. Behutsam erzählt er mir von der Zeit ihrer Krankheit, ihren Ängsten und Hoffnungen, seinen eigenen Bemühungen, seinen Bruder zu stabilisieren, der Zeit, in der er Tanta Jana und Onkel Thorsten intensiv begleitet hat bei der Verarbeitung und dabei, wie sie mir helfen können.

„Davon wusste ich ja gar nichts! Du hast ein Jahr lang mit ihnen und mir gearbeitet?"
„Ja, Jana hat einfach auch ganz viel Hilfe gebraucht. Aber ich habe auch mit dir gearbeitet. Mit dir sogar drei Jahre, weil ich sicher gehen wollte, dass du das alles gut wegsteckst. Wir haben anfangs viel ohne dich geredet, einfach, damit sie dich gut verstehen und dir altersgerecht zur Seite stehen können. Manchmal warst du dabei. Das war dann bei euch im Wohnzimmer, wir haben auf dem Teppich gesessen und miteinander gespielt, das ganze wurde gefilmt. Und anschließend habe ich sie auf bestimmte Haltungen, Reaktionen, Worte von dir aufmerksam gemacht und ihnen das erklärt. Das Prinzip heißt nach seiner Gründerin Marthe-Meo. Es hat euch allen dreien damals sehr geholfen."

„Ach – ja, ich erinnere mich. Du warst öfter da, und wir haben mit Bauklötzen gebaut oder mit Plüschtieren Geschichten ausgedacht."
„Genau. Daran, wie du mit uns beim Bauen interagiert hast oder wie du deinen Schwan behandelt hast, konnten wir ganz viel erkennen, was du brauchst."
„Dann hat ... Frau Süß damit, dass sie mich in der Turnhalle gefilmt hat, im Grunde auch sowas gemacht. Sie hat mir ermöglicht, dass ich mich selbst von außen sehen und die Signale meines Körpers und meiner Seele besser verstehen konnte."
Onkel Uwe nickt.

„Was ganz anderes. Ich habe nochmal über deinen Antoine nachgedacht und mit meinen Kollegen hier in der Praxis darüber gesprochen. Eigentlich müsste Antoine nach Hause gehen und dort eine Therapie machen, weil das alles dort passiert ist. Allerdings wäre er dann seinen Eltern ausgeliefert, die wahrscheinlich alles daran setzen würden, eine Aufarbeitung zu verhindern. Außerdem meinte mein belgischer Kollege, dass für seinen Fall deutsche Therapiemethoden geeigneter seien und der Abstand sowieso. Da er auch fließend französisch spricht, hat er angeboten, mit Antoine zu arbeiten. Dann kann der nämlich frei zwischen den beiden Sprachen schwimmen und wird immer verstanden. Könntest du den Kontakt herstellen und ihn beim ersten Mal begleiten? Du solltest dich dann zügig rausziehen, weil du selbst mit deinen Kräften haushalten musst. Aber wenn Antoine das Gefühl hat, dass er auf dich als treuen Freund zählen kann, dann kann er eine echte Aufarbeitung auch hier in Deutschland schaffen."
„Klar mache ich das. Wir chatten ab und zu. Er schreibt ja auch an seiner Facharbeit."
„Gut, dann ist hier ein Zettel mit Terminvorschlägen von Hugo Berg. Gib den einfach weiter. Und dann sehen wir, wie es läuft."

Ich denke einen Moment lang nach. Wieder ist jemand in das stützende Netzwerk um mich drumrum eingestiegen, um mir zu helfen.
„Danke, Onkel Uwe. Ich bin unglaublich froh, dass du mit im Boot bist."
„Von Herzen gern, Max. Wir sehen uns spätestens Mittwoch Abend, ich kündige mich aber auch noch genauer an."

Voller neuer Gedanken und Gefühle und irgendwie etwas befreit radele ich wieder nach Hause. Mir schwirrt der Kopf.
Vielleicht wirklich ganz gut, wenn ich in den Cocktail nicht auch noch Mathe rühre in dieser Woche.
Nach dem Abendessen bimmele ich Antoine an. Der sitzt in einer kleinen Einliegerwohnung zur Untermiete, in einem der alten Häuser im Mädelsviertel. Ich war noch nicht dort, aber da er Zeit hat, hole ich das gleich heute Abend nach. Ein bisschen verlegen zeigt er mir sein kleines Reich, und wir machen es uns gemütlich.

Ich rede gar nicht lange um den heißen Brei und spreche das Thema Therapie gleich an.
„Wie geht es dir jetzt, eine Woche nach diesen aufwühlenden Tagen? Hast du das wieder ganz weit weggesteckt, oder willst du weiter daran arbeiten, damit du irgendwann davon frei wirst?"
Kurz überlegt er.
„Ich ... schlafe beschissen. Aber im Grunde ist das alleine ja schon ein Zeichen, dass ich dranbleiben sollte. Solange mir eure Rückendeckung noch den Mut gibt. Weißt du – ehrlich gesagt habe ich total viel drüber nachgedacht. Aber ich weiß nicht, wie ich das organisiert kriegen soll. Meine Eltern zahlen diese Wohnung. Wenn ich jetzt komme und sage:'Ich schmeiß mal eben das Abi, damit ich eine Therapie machen kann, weil ihr damals ...' Ich möchte weder mich noch jemand anderen belügen, ich möchte nicht mehr belogen werden. Ich möchte gesund werden. Und ich möchte dafür von ihnen in Ruhe gelassen werden. Aber leider bin ich noch von ihnen abhängig."
„Sie zahlen die Wohnung. Und den Rest? Lebensmittel? Schulmaterial?"
„Ich hab ein Stipendium, weil mein Baccalaureat so gut war. Keine Ahnung, aber ich befürchte, dass ich das verliere, wenn ich Therapie statt Schule mache."
„Aber du hast einen deutschen Pass und hier jetzt auch eine Krankenversicherung, oder?"
„Ja, klar."
"Dann wirst du doch krank geschrieben, wenn dir eine Therapie verordnet wird. Das reicht der Schule, um dich freizustellen. Du hast völlig die Wahl, ob du neben der Schule ambulant oder statt der Schule stationär eine Therapie machen willst. Im letzten Falle könntest du diese Wohnung auch einfach aufgeben. Deinen Kram kriegen wir schon unter."

Antoine steht auf und starrt nachdenklich aus dem Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ich warte einfach ab.
„Aber dann kommt die nächste Hürde: wie finde ich einen Therapeuten, der sich mit sowas wie mir auskennt, der sofort Zeit hat und dann auch noch menschlich zu mir passt?"
„Ich hatte gesagt, bei der Suche helfe ich dir. Und es ging schneller als erwartet. Mein Onkel ist Psychotherapeut und arbeitet in einer größeren Praxis zusammen mit fünf Kollegen, die alle ein bisschen anders arbeiten und deshalb ein großes Spektrum abdecken können. Ich gehe im Moment zu ihm, um meine Probleme mit meinem Vater abzuarbeiten. In meiner Erzählung der letzten Monate kamst du auch vor. Er hat sich mit seinen Kollegen besprochen. Da ist ein Belgier dabei, wohl ein Flame Hugo keineAhnungwie. Der kann sich vorstellen, mit dir zu arbeiten."

Ich fische den Zettel aus der Tasche meiner Jeans und halte ihm den hin. Zögernd nimmt er ihn entgegen und schaut auf die Telefonnummer und die Termine.
„Keine Sorge, es ist nur ein Angebot, und ich habe auch nicht zu viel erzählt. In deinem Leben ist schon viel zu oft über dich verfügt worden. Das ist jetzt dein Leben, deine Angst, deine Entscheidung. Ich helfe dir weiter, gehe gerne beim ersten Mal mit dir mit. Aber du steuerst das. Du telefonierst. Du ziehst das dann durch. Denk drüber nach."

Eine ganze Weile geht Antoine unruhig in seinem kleinen Zimmer auf und ab. Schaut immer wieder auf den Zettel.
„Es ist seltsam. Vor einer Woche habe ich da gesessen mit dir und mir nichts sehnlicher gewünscht, als genau das hier endlich machen zu können. Jetzt habe ich diesen Zettel mit dieser einmaligen Chance in der Hand – und zögere. Die konkrete Vorstellung, an all das Furchtbare von damals wirklich dranzugehen, lässt mich innerlich erzittern."

Einen Moment starrt er noch auf den Zettel, dann gibt er sich einen Ruck, greift sich sein Handy und spricht dem Psychologen aufs Band, dass er gerne den Termin am Donnerstag Vormittag wahrnehmen würde.
„Kommst du mit, Max? Ich ... hab echt Schiss. Aber ich will nicht so weiter leben."
„Klar komm ich mit. Ich kenn ja auch den Weg."
„Danke!"

Auf dem Heimweg muss ich echt aufpassen, dass ich Antoine nicht gedanklich auch noch in meine Facharbeit einarbeite. Ich bin zwar überzeugt, dass ihm eine wie auch immer geartete Bewegungstherapie sicher gut helfen würde, an all das Vergrabene heranzukommen. Aber das wäre Verrat, und ich bin ja nicht ausgebildet. Ich muss ihn völlig rauslassen. Zur Irritation einiger Passanten rede ich plötzlich laut mit mir selbst.
„Das muss ich sauber trennen!"

Ich hab Schule – bis auf Frau Hartmann und Mathe – nie richtig furchtbar gefunden. Aber sich so intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen und sich zu Präzision zu zwingen wie jetzt bei dieser Facharbeit – das macht einfach irre Spaß. Das genaue Hinschauen, Hinspüren, Zusammenhänge erfassen und verständlich darstellen liegt mir offensichtlich. Und es macht mich glücklich, dass ich das im Zusammenhang mit meiner Leidenschaft, dem Tanzen, erleben darf.

Am Mittwoch Abend kommt wie versprochen Onkel Uwe zu mir rüber, nachdem er wieder eine Weile nebenan bei Papa war. Auch wenn wir uns in den letzten Jahren gegenseitig sehr gequält haben – ich bin froh, dass Papa mit all dem nicht alleine ist. Ich hoffe ganz heimlich, still und leise, dass Onkel Uwe zu ihm durchdringen und ihn zu einer Aufarbeitung bringen kann.

Wir sitzen lange an der Arbeit. Onkel Uwe zeigt mir ein paar Stellen, wo ich mangels tieferer Kenntnisse ein Zitat falsch verstanden und dargestellt habe. Und dann reden wir jeweils gleich auch darüber, wie ich die Veränderung in meinem Gesamtkonzept einzuordnen habe. Aber im großen und ganzen ist er sehr zufrieden mit meiner Arbeit und feilt nur an Kleinigkeiten.

Und dann sagt er etwas, was mich total verblüfft. Weil es so simpel und irgendwie doch noch ganz weit weg von mir ist.
„Willst du eigentlich mal Startänzer werden? Schwanensee und Co.? Oder mit einer Noname-Contemporary-Truppe über Kunstfestivals tingeln? Oder kannst du dir vorstellen, aus deiner Leidenschaft fürs Tanzen auch was anderes zu machen als deine Mutter?"
„Äh – najaaaa, eigentlich ... wieso?"
Onkel Uwe lächelt.
„Weil du ein blutjunger Mensch bist, der mit ganz viel Verstand und Empathie genau des Wesentliche erfasst hat. Viel früher als andere. Du hast nicht nur das Prinzip von Bewegungstherapie verstanden. Du hast das Prinzip von Therapie ansich und die zugrunde liegenden modernen Erkenntnisse über unsere Seele verstanden. Du hast das durchdrungen, am eigenen Leibe erlebt und ... Ich hab den Film gesehen. Ich bin zutiefst beeindruckt, was für eine Ausstrahlung du hast, wenn du dich bewegst. Und wie deine Freunde sich auf dich eingestellt haben, um dich sanft in die Gegenwart zu holen, das hatte auch was mit dir zu tun. Kannst ... könntest du dir vorstellen, Tanz zu studieren und dann eine therapeutische Ausbildung draufzusatteln? Tanztherapeut zu werden?"

Ich muss wohl ziemlich verblüfft aus der Wäsche kucken, denn Onkel Uwe fängt leise an zu lachen.
„Auf die Idee bin ich echt noch nie gekommen. Aber wenn du das so sagst ... An die Spitze kommen nur die allerbesten, und die sind mit spääääätestens 35 kaputt. Alle anderen verhungern an ihrer Leidenschaft. Wenn ich ... du hast recht. Das Zusammenwirken, das ... ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Die Menschen um mich drumrum sind mir so unglaublich wichtig. Mir geht es glaube ich gar nicht um das Tanzen ansich. Es hat immer etwas mit mir und mit den anderen Tänzern zu tun. Ich will nicht 'schön' tanzen. Sondern ich will etwas vermitteln – ein Gefühl, einen Traum, ein Ziel, ein ... Es ist nicht das Tanzen – sondern das Glück darüber, etwas zu haben und zu verschenken, dass so viel bedeutet wie für mich das Tanzen, das in Bewegungsein."

Ich bin ganz außer Puste, weil das alles vor lauter Begeisterung nur so aus mir herausgesprudelt ist. Onkel Uwe lächelt.
„Na dann – mach dich auf den Weg. Ich freue mich jetzt schon darauf, von dir zu lernen. Und ich will dich auftreten sehen. Vergiss bitte nicht, mir Termine zu sagen, wenn da mal was ist – in der Tanzschule oder in der Schule."
Ich glaube, ich werde grade ein „bisschen" rot ...
„Klar, mach ich."

............................................................

13.11.2020

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro