146 ** zerrissene Leben ** Fr. 22.5.2020

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Heute bin ich vor Anni wach, und darum sorge diesmal auch ich für unser Frühstück. Als der Teewagen hoch gebracht wird, schiebe ich ihn gaaaaanz leise zur Terrasse und decke draußen schon mal den Tisch. Dann setze ich mich auf mein Bett und warte einfach ab. Es ist etwas Besonderes, meiner Freundin beim Schlafen und beim Wachwerden zuzusehen. Wie anderes sehen die Gesichter der Menschen aus, wenn sie schlafen! Gar nicht unbedingt friedlich und entspannt. Denn der Kopf kann unser Gesicht nicht beeinflussen, wenn wir schlafen. Da gibt es kein Pokerface. Alles ist zu sehen: der Traum, die Situation, Ängste oder andere Gefühle zeigen sich auf den Mienen von Schlafenden. Manchen Menschen kann man fast vom Gesicht ablesen, was sie grade träumen. Anni hingegen liegt heute butterweich und entspannt in ihrem Bett. Und wenn sie etwas träumen sollte, dann muss es etwas Schönes sein, denn sie lächelt. Ich lasse sie einfach schlafen, bis sie von alleine aufwacht, und gehe in der Zwischenzeit schon mal ins Bad.

Als ich wieder rauskomme, ist Anni grade aufgewacht und reckt sich ganz ausgiebig.
„Guten Morgen, meine Süße! Hast du gut geschlafen?"
„Ja, sehr. Ich könnte glatt zur nächsten Runde durchstarten."
Äh. War das eine Aufforderung zum Frechwerden? Bestimmt!
Lächelnd gehe ich auf sie zu und beuge mich über sie.
„Was müsste ich tun, damit du nicht wieder einschläfst?"
Annis Augen weiten sich. Ich höre es förmlich rattern hinter ihrer Stirn. Sie hat sofort kapiert, was sie sich da grade eingebrockt hat.
„Och, nichts. Ich steh schon auf."
Denkste!
Ich küsse sie intensiv und ausdauernd.
„Wohin so eilig?"
„Bäh! Weg von deinen tropfenden Haaren!"
Sie schlüpft zwischen meinen Armen hindurch und flüchtet sich ins Bad. Mein Lachen hört sie wahrscheinlich noch unter der Dusche. Ich wappne mich vorsichtshalber für den Fall, dass sie sich gleich an mir rächen will, denn natürlich kann sie mich mit ihrer Wuschelmähne sehr viel effektiver nassspritzen als ich sie mit meinen paar kurzen Haaren. Zum Glück bleibt sie dann jedoch friedlich, als sie wieder aus dem Bad rauskommt. Der Hunger treibt sie direkt auf die Terrasse an den Frühstückstisch, da bleibt keine Zeit für kleine Racheaktionen.

Für den Vormittag haben wir einen Gang durch die alten Straßen zum jüdischen Friedhof und zum Holocaust-Mahnmal geplant. Außerdem muss irgendwo da in der Nähe auch das Alchemisten-Museum versteckt sein.
Das jüdische Viertel ist leider vor etwa hundert Jahren komplett geräumt worden, um neuer Bebauung zu weichen. Nur sehr wenig ist von der alten Bausubstanz erhalten, und die Atmosphäre des historischen Judenviertels ist dadurch vollständig verloren gegangen. Aber mehrere Synagogen, die die Nazis und den zweiten Weltkrieg überstanden haben, liegen noch heute nahe beieinander und können zum Teil besucht werden. Nach dem ausgiebigen Frühstück bunkern wir die Reste in unserem kleinen Kühlschrank und machen uns zu Fuß auf, diesen Teil Prags zu erkunden. Die Wetter-App hat einen richtig heißen Tag angekündigt.

Je näher wir dem Friedhof kommen, desto öfter sind dicke Messing"steine" ins Pflaster vor den Häusern eingelassen. Sogenannte Stolpersteine. Auf jedem von ihnen steht der Name eines jüdischen Menschen, der hier gewohnt hat, bevor er von den Nazis quer durch Europa und schließlich in den Tod geschickt wurde. Trotz der Wärme läuft mir immer wieder eine Gänsehaut den Rücken runter. Wir lesen ein paar der Namen. Manchmal sind ganze Familien verschleppt worden. Niemand wurde verschont. Ganz alte und ganz junge Menschen, Kinder! Man kommt in Deutschland ja gar nicht drumrum, von diesem schlimmsten Verbrechen in der Geschichte des deutschen Volkes zu erfahren. Aber diese Namen vor den Häusern machen sprachlos. Den Gequälten wird auf diese Weise ihr Name, ihre Würde zurück gegeben. Es dauert eine ganze Weile, bis wir unser eigentliches Ziel erreichen. An diesen Steinen kann man einfach nicht vorbeirennen.

Um der Mittagshitze zu entgehen, starten wir mit dem Friedhof draußen und bewundern die alten und noch älteren Grabsteine, die über-, unter- und nebeneinander liegen. Das ganze Gelände ist irgendwie wellig. Auf einer Infotafel erfahren wir, dass das jüdische Viertel wie überall in Europa ummauert war und nicht wachsen konnte, weil die Stadt Prag drumrum wuchs. Also mussten im Laufe der Jahrhunderte die Toten eben übereinander begraben werden. So entstanden die Hügel, und darum sind auch so unglaublich viele Grabsteine da.


Trotz des Wissens, dass dies ein Ort der Toten ist, wirkt das Gelände mit den verwitterten Steinen, den hohen Mauern und den riesigen alten Bäumen ein bisschen wie ein verwunschener Garten, der zum Spazieren einlädt. Manchmal bleiben wir stehen und versuchen, die Namen und Daten auf einem Stein zu entziffern. Es ist erstaunlich. Der älteste Stein, den wir finden, ist von Vierzehnhundert-Irgendwas. So lange schon hat jüdisches Leben in dieser Stadt geblüht.
Bis ... Bloß nicht nachrechnen!

Nach einer Weile treibt uns jedoch die für Mai ungewöhnliche Wärme ins Innere der Pinkassynagoge direkt neben dem Friedhof. Dort tauchen wir ein in eine ganz andere Dimension des Grauens. Wieder habe ich Gänsehaut – und zwar nicht, weil es drinnen kühler als draußen ist. Sondern weil in einem Raum rundum auf den nackten Steinwänden die Namen von 78.000 ermordeten Menschen hintereinander weg von Hand aufgeschrieben worden sind. Intuitiv lege ich meinen Arm um Anni, die sich grade ihre Strickjacke angezogen hat. Auch ihr ist schlagartig kalt geworden. Stumm starren wir diese schier endlose Abfolge von Namen an.

Ich kann nur flüstern.
„78.000 Menschen. Nur aus diesem einen Land. Der Willkür eines Irren zum Opfer gefallen. Das ist so, als würde man jeden siebten Einwohner von Essen erschlagen. Wie grauenvoll!"
Anni schluckt, und ihr stehen Tränen in den Augen.
„Warst du mal in einem der Konzentrationslager, Max?"
Ich schüttele den Kopf.
„Aber ich. Ich war in Buchenwald. Mit meinem Abiturjahrgang in der Zwölften damals. Mir war den ganzen Tag lang schlecht, und hinterher habe ich drei Tage lang geheult. Ich wusste vorher nicht, wie sich echte Scham anfühlt. 78.000 Namen stehen für 78.000 Menschen, die geboren wurden, um zu leben, zu glauben und zu hoffen. Stattdessen wurden sie gejagt, um zu sterben."

Ich stutze und verstumme. Das Stichwort „Scham" hat in mir etwas zum Klingen gebracht. Es dauert aber eine Weile, bis ich begreife, was. Dann erschrecke ich sehr. Denn auch ich empfinde an diesem Ort eine tief erschütternde Scham gegenüber dem Leben. So intensiv und zum Anfassen konkret habe ich noch nie Scham empfunden. Ich bin ein „Nachgeborener". Aber angesichts dieser Namen kann ich mich nicht freisprechen davon, dass alle Menschen, wir Menschen und damit auch ich Mensch in uns einen Teil habe, der zu solcher Grausamkeit in der Lage ist. Jeder Mensch ist verführbar – auch ich.

Meine Gedanken gehen weiter. Nach Hause. Zu Papa. Erst jetzt kann ich nachfühlen, was er fühlen muss, wenn er so unsicher ist und sich so oft entschuldigt. Welche Scham, welche Qual er empfinden muss – gegenüber mir, gegenüber Tante Jana, gegenüber Tanja. Gegenüber Mama. Keiner dieser 78.000 Menschen durfte sein Leben natürlich zu Ende leben. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Abgebrochene, zerrissene Leben. Mamas Tod hat nicht nur ihr sondern auch Papas Leben zerrissen, in Fetzen gerissen, ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Und die Scham, die er dafür, wie er mit diesem Verlust umgegangen ist, wie schwere Steine mit sich herumschleppt, die kann ihm keiner nehmen. Diese Last muss er selbst abgeben.

Für diese 78.000 Menschen kam jede Hilfe zu spät. Aber für Papa, Tanja, Tante Jana und mich ist es nicht zu spät!
Wie nur kann ich ihm helfen, sich selbst zu vergeben? Wie kann ich diesem Mann, meinem Vater von meinem Osterverstehen erzählen, der längst jedes Vertrauen ins Leben und in sich selbst verloren hat?
Mir schießen die Tränen in die Augen.
„Anni, halt mich mal ganz fest."
Erstaunt dreht sie sich um, sieht die plötzliche Trauer in meinem Gesicht und nimmt mich sehr fest und ganz lange in den Arm.
„Was ist denn, Max?"
„Erzähl ich dir nachher. Ich muss hier erstmal raus."

Schweigend suchen wir uns einen Weg zum Fluss und laufen eine Weile am Ufer entlang. Anni hält meine Hand fest, gibt mir ihre Nähe und wartet einfach ab. Ich habe die ganze Zeit nicht auf den Weg geachtet, war in mich gekehrt, bin immer dem Fluss gefolgt. Doch jetzt brauche ich Ruhe. Ich orientiere ich mich kurz auf dem Handy und dirigiere uns zurück zum Hotel. Ich habe keinen Hunger, der Appetit ist mir vergangen, und Anni geht es ähnlich. Wir wollen nur noch in unser klimatisiertes Apartment und alleine für uns sortieren, was da eben grade passiert ist.

Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, breche ich in Tränen aus. Erst nach einer ganzen Weile kann ich Anni erzählen, was für eine Gedankenkette mich da vorhin so aus der Bahn geworfen hat. Wir reden lange, lange. Ostern fällt uns wieder ein. Unsere Kreuze, das Feuer, das Angebot der Erlösung. Und die Hoffnung, dass mein Vater bald den Weg aus seiner selbst gestellten Falle finden möge.

Erschöpft vom vielen Denken und Fühlen machen wir einen kleinen Mittagsschlaf. Aber irgendwann weckt uns dann doch der Hunger wieder auf. Wir holen die paar Reste vom Frühstück aus unserem Kühlschrank. Daraus improvisieren wir nun ein Mittagessen. Erst jetzt finden wir allmählich zurück in eine Ruhe und Gelassenheit, können normal miteinander und über alles Mögliche reden.

Das Alchemisten Museum haben wir auf diese Weise natürlich nicht gesehen, aber dieses Gedenken, diese Tränen und Scham und diese Hoffnung für uns waren heute wichtiger, mussten ihren Raum bekommen. Vielleicht können wir das ja morgen oder am Sonntag Vormittag noch nachholen.

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8.2.2021

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