(18/8) Falltüren

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Die Leibwachen. Er erkannte sie an ihrem forschen und regelmäßigen Gang. Wie sie beide zugleich in der Zelle stehen blieben und die Stangen ihrer Hellebarden auf dem Boden absetzten, unterschieden sie sich deutlich von denen, die nach ihnen den Kerker betraten. Er merkte sich den Standplatz der bewaffneten Männer an der Wand zu seinen Füßen. In der Nähe der Tür.

In seiner Dunkelheit nahm er nun wechselnde Schatten und das Zucken von Feuer wahr; Zugluft strömte über den Boden, es wurde unruhig im Raum. Raschelnde Kleidung, dazu unterschiedlich ausgeprägte Schritte...

Der Kardinal war nicht allein gekommen. Die Aura des unheimlichen Mannes mit der hageren Statur hätte Valerio jederzeit blind wiedererkannt: Es war der alte Medicus, der den Inquisitor begleitete. Durch halb geöffnete Augenlider und unter dem Wirrwar feuchter Haare hinweg wagte er einen kurzen Blick und fing in diesem Moment die suchende Haltung des Medicus, die Kopfwendung in Richtung seines Lagers auf. Er spürte die berechnende Kälte des Mannes, den Blick, der sofort zu ihm hinüber ging, aufmerksam, scharf prüfend, selbst über die Meter hinweg, die zwischen ihnen lagen. Allein bei dem Gedanken an den emotionslosen Mann mit dem knochigen grauen Gesicht gaukelten ihm seine Sinne vor, ein übelriechender Hauch von Belladonna läge in der Luft. Er hatte Mühe still zu liegen.

"Eure Eminenz..."

Crispino. Hellwach lauschte Valerio dem beginnenden Wortwechsel.

"Hochwürden... Wir sind Euch zu tiefem Dank verpflichtet. Euer Delinquent hier, er ist..."

"Erklärungen sind unnötig, Mönch. Dein Prior hat mich ausführlich unterrichtet."

Vincenzo Grassi. Beim Klang seiner Stimme spürte er erneut jeden einzelnen Peitschenhieb, jede tiefe Furche auf seinem Rücken, die Ketten, an denen man seine zertrümmerte Hand über das Kohlebecken gezerrt hatte.

"Es stinkt in diesem Keller. Lasst uns beginnen und keine Zeit verschwenden. Geh zur Seite, alter Mann. Mach meinem Medicus Platz."

Alter Mann. Er nannte Crispino einen alten Mann.

"Hochwürden... der Kranke... der Delinquent. Er hat eine angebrochene Rippe, er kann kaum liegen oder atmen, darum mussten wir ihn mit entsprechenden Mitteln ruhigstellen, die Hiebe am Rücken sind sehr tief geraten, sie heilen nicht gut. Und seine Hand.. vor allem die Hand, wir müssten sie dringend..."

 Vincenzos Stimme kratzte über die Wände. "Rede nicht ungefragt, Mönch, sonst wartest du oben in der Abtei auf unsere Entscheidung. Ich weiß, was er erlitten hat. "


Oh ja. Er wusste es. Nichts von alldem war ohne seinen Willen und Befehl geschehen. Und doch wusste er nicht genug. Was ihm fehlte, war die Erkenntnis, wie es sich anfühlte. Er hatte es nicht am eigenen Körper erlitten. Valerio wünschte es ihm so sehr, dass es schmerzte. 

Das Beben und Zittern, das er in Gegenwart des Inquisitors nicht mehr unterdrücken konnte, passte zum Zustand eines Kranken, man würde es dem Fieber zuschreiben. Aber es änderte nichts daran, dass der Heilungsprozess an seinen Wunden unnatürlich schnell voran ging. Nur noch wenige Augenblicke und sie würden es entdecken. Hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Wut, dazu seinen Peinigern hilflos ausgeliefert am Boden liegend, konnte Valerio keinen klaren Gedanken fassen. Flucht schien noch unmöglich - Aber er konnte sich nicht schlafend stellen und abwarten, was geschah, während ihm die Kontrolle über die Situation schon wieder entglitt, ausgerechnet jetzt und hier, wo die Möglichkeit seiner Rettung so nahe lag. Ein Tag mehr, eine einzige Nacht länger, und ihm hätte die Ewigkeit gehört. Warum war der Prior so übereifrig... Es war zu früh! Die Zeit, diese verdammte Illusion, geschaffen zur Täuschung menschlicher Gehirne... sie spielte ihr grausames Spiel mit ihm.

"Schließlich war ich es, der befohlen hat, ihm diese Wunden zuzufügen", setzte der Inquisitor seinen Tadel fort und sprach damit laut aus, was Valerio gerade gedacht hatte. Aus den Worten hörte er den selbstgefälligen Spott heraus, der dem Kirchenmann zu eigen war, in seiner Vorstellung sah er die zum Bogen angehobenen Augenbrauen des Inquisitors vor sich und ihm wurde übel von dem Hass, den er an diesen inneren Bildern entwickelte. Eine einzelne klingenartige Kralle kreischte neben seinem Ohr über den steinernen Boden. Die Bestie. Sie rief sich in Erinnerung. Er schüttelte den Eindruck ab, ignorierte sie, konzentrierte sich auf die Worte des Kardinals.

"...und ich habe zugesehen. Von Anfang bis Ende, ebenso wie mein Medicus. Du wirst uns zutrauen, dass wir selbst die Stellen finden, deren Zustand beurteilt werden muss... Nun, du kannst dich aber nützlich machen. Gib dem Medicus mehr Licht, Mönch. Halte ihm die Fackel."

Er verweigerte Crispino wiederholt den Respekt. Nannte ihn Mönch, als besäße der Heiler keinen Rang und Titel in der Welt... Schritte auf dem steinernen Boden, jemand ließ sich neben Valerio nieder, beugte sich über ihn. Eine knochige kalte Hand legte sich auf seine Stirn. Alle Kräfte der Welt musste er mobilisieren, um ihr nicht auszuweichen.

"Fieber. Ein wenig. Das ist üblich nach der Tortur."

Valerio lauschte den Worten, fühlte sich in ihren Klang hinein und spürte... nichts. Dieser Mann, der Leibmedicus des Kardinals, schien völlig entleert, ohne Leben, Leidenschaft und Seele. Eine tote Hülle, angefüllt mit etwas, das wie feine Asche in einem lichtlosen Vakuum stand, unbeweglich und ohne eigene Energie. Die einzige Kraft, die ihn zu bewegen schien, waren die morbiden Fantasien seines Herrn.

"Erlaubt mir... die letzte Tortur ist Tage her", hörte er Crispino zögernd einwenden. "Das Fieber kommt von der Hand. Es ist der Wundbrand."

Bereits Mauro hatte er nicht vor den Manipulationen des Inquisitors bewahren können, und jetzt Crispino... Der Heiler sollte sich besser nicht provozieren lassen, nicht jetzt. Die demonstrative Ignoranz seines Ranges hatte ihm offenbar das Ehrgefühl angekratzt. Wenn er sich nicht endlich zurück hielt, machte er es nur noch schlimmer; der Kardinal schien seit seiner Ankunft gefährlich angespannt, auch hatte er sich bereits seit der ersten Minute auf seinen Zynismus zurück gezogen; Valerio kannte ihn gut genug um zu wissen, er war zu Grausamkeiten aufgelegt. Crispino agierte blind und ahnungslos vor ihm, er wusste nicht, in welcher Gefahr sie sich befanden.
Und Vincenzos Leibarzt... Fieber von der Tortur, hatte er gesagt. Wenn Crispino die Nachrichten des Priors korrekt an Valerio weiter gegeben hatte, musste Vincenzo hier seinem Leibarzt seine eigentlichen Absichten vorenthalten. Der Heilkundige schien den Wundbrand ad absurdum führen zu wollen in dem Glauben, damit den Interessen seines Herrn zu dienen; Vincenzo dagegen konnte nach allem, was sie von Prior Geronimo wussten, nur lieb sein, wenn die Hand Schwierigkeiten machte - denn so konnte er seinem Delinquenten oben im Kloster eine Pflege zukommen lassen, die ihn schnell wieder verhörfähig machen würde, und dies, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Brandige Körperteile schlug man ab. Er wusste, Valerio war Heiler und Musicus. Er nahm ihm einen Teil seiner Seele, wenn er ihm eine seiner Hände abschnitt - und er sicherte damit zugleich seine schnelle Genesung für weitere Verhöre und verhinderte seinen verfrühten Tod.

"Fieber... von der Hand? Das glaube ich nicht."

Der Medicus. Was hätte er dafür gegeben, hätte er die Augen öffnen und die Anwesenden sehen können. Er wünschte es sich - und war doch froh, dass er es nicht musste. Vincenzos verschlagener Komplize, dieser Leibarzt... sicher wollte er nicht ernsthaft in Zweifel stellen, dass die verletzte Hand ein Fieber bewirken konnte... Es war das erste Mal, dass er ihn sprechen hörte. Die Stimme des Mannes wirkte ebenso teilnahmslos und grau wie seine Augen in dem Moment, als er ihn gefragt hatte, ob man ihn für seine dreckige Arbeit in der Folterkammer wenigstens gut bezahlte. Dass die Welt sich solche Schergen hielt... Ihr Charakter verriet, was von ihren Herren zu halten war.

"Dann gebt mir Euer eigenes Urteil, Medicus."

Vincenzo. Er verfolgte eine Strategie. Alles war pure Berechnung und sollte schnell vorbei sein, er wollte sich damit nicht länger als nötig aufhalten. Sein einziges Interesse: dass sein Medicus den Zustand absegnete, den es brauchte, um seinem Gefangenen intensivere Pflege angedeihen zu lassen. Auch ein Kardinalinquisitor musste eine solche Maßnahme schließlich im Protokoll ausführlich begründen für den Fall, dass man die Vorgänge und Entscheidungen überprüfen wollte. Er würde toben, wenn nun die Wunden nicht hergaben, was der Prior ihm in Aussicht gestellt hatte.

"Euer Gutachten soll entscheiden... Gebt ihm mehr Licht."

Es war soweit. Die Decke wurde zurück geschlagen. Einen Moment herrschte Stille, die Anwesenden schienen den Atem anzuhalten. Unter der verletzten Hand, die auf seiner Brust lag, klopfte Valerios Herz. Alles war viel zu schnell gegangen. Er hatte keine Zeit gehabt sich über etwaige Möglichkeiten klar zu werden, er hatte geschlafen. Warum nur hatte Crispino ihn gestern Nacht nicht noch einmal geweckt, um ihn zu warnen! Er war betäubt gewesen... Gedanken rasten jetzt durch seinen Kopf, berechneten mögliche Reaktionen Vincenzos oder seiner Wächter, Fluchtwege. Seine Sinne tauchten hinab in den Körper, strömten mit seinem Blut hin zu den verletzten Stellen,  tasteten ab, was sich dort tat.

Es war nicht genug. Nicht genug, um es jetzt bereits mit mehreren Feinden, mit geschliffenen Waffen, mit massiven Mauern und verriegelten Türen aufzunehmen, nicht genug für eine lange und kräftezehrende Flucht durch unwegsames Gelände - aber was sich an seinen Wunden tat, war zugleich auch zu viel für eine Rettung ans Tageslicht und in Crispinos hilfreiche Hände zurück. Denn gleich, in wenigen Augenblicken, jetzt würden auch diese nichts mehr für ihn tun können. Die Heilung war zu weit voran geschritten.

"Näher... halte die Fackel höher, hier herüber... Die Hand... warum ist sie nicht verbunden?"

Crispino schien es nun ebenfalls zu sehen; er konnte nicht an sich halten, begeistert unterbrach er den Leibarzt des Inquisitors. "Hochwürden, seht Euch das an... sie heilt bereits!" Valerio verzweifelte an der Euphorie des Heilers, obwohl er exakt diese Reaktion so sicher erwartet  hatte.

...Und wieder fällst du in dein Loch zurück. Der Wein... lächerlich! Du brauchst andere Waffen! Bessere.

Valerio wandte sich ab, aber das Tier kam näher, ließ ihn nicht gehen.

Dies ist das berühmte Schlachtfeld, auf dem über Welten entschieden wird... Glaub mir, das Böse ist immer stärker als der Mensch. Nach all den Jahrhunderten solltest du das begriffen haben. Du kannst nicht gut sein und dennoch gewinnen in der menschlichen Welt. Du musst dich dem Feind angleichen, grausamer, härter, gnadenloser werden als er... Lass mich dir neue, mächtigere Schwingen geben, Engel. Dunklere. Bevor es zu spät ist. Du könntest ein schrecklicher Herrscher sein in meinem Reich. Alle würden dich lieben und an dir zugrunde gehen.

Man nahm seine Hand auf. Drehte sie nach allen Seiten. Streckte ihm die Finger, schloss sie zur Faust, öffnete sie wieder, tastete die Gelenke ab. Crispino jubelte nun  beinahe.

"Das... das ist unmöglich... die Fingernägel! Ich schwöre  beim heiligen Lazarus von Bethanien, gestern waren keine da, aber seht, hier... sie sind bereits vollständig nachgewachsen! Und die Hand, sie lässt sich bewegen! Hochwürden, das ist... ein Wunder! Gott... der Herr, er hat meine Gebete erhört!"

Der gute Mann glaubte, seine Fürbitte hätte die Heilung bewirkt. Sollte Valerio jetzt die Augen öffnen? Zeigen, dass er wach war? Sich der Situation stellen, den Kopf endlich in die Schlinge legen, die das Leben ihm hinhielt? Er war unsicher. Etwas in ihm hoffte immer noch auf eine glückliche Wendung, aber ihm fiel nichts ein, was ihn nun noch retten konnte.

"Seht, Eminenz... Und hier! Das ist ein Gotteszeichen. Es gibt keine Spuren mehr an Hals und Gesicht. Medicus... Herr, lasst mich doch einmal selbst den Rücken sehen! Ich hatte ihn gestern Abend noch versorgt..."

Glaubte Crispino tatsächlich an eine Wunderheilung? Oder steigerte er sich in diese Idee nun nur hinein, um sie dem Kardinal zu verkaufen? Vielleicht verfolgte er jetzt, wo er die plötzliche Heilung sah, einen neuen Plan, nutzte die Situation... War es womöglich für etwas gut, wenn man an ihm Wunderzeichen wahrnahm, konnte das den Inquisitor verunsichern, seine Absichten durchkreuzen? Wunder mussten der Heiligen Kirche gemeldet werden. Sie wurden untersucht und auf ihre Echtheit geprüft. Er hatte keine Vorstellung, wie der Inquisitor mit einer so brisanten Sache umgehen würde - oder ob überhaupt. Immerhin spielte er bei diesem Wunder an einem seiner Delinquenten keine ruhmreiche Rolle. Warum nur hatte der Kardinal es auf ihn abgesehen? Bis jetzt hatte er ihn darüber im Dunkeln gelassen. Der vermeintliche Mord an dem Jungen allein konnte es nicht sein, nicht einmal dann, wenn man Magie in Betracht zog. Nicht nach dem, was Prior Geronimo über die auffällige Versessenheit Vincenzos an diesem Fall und über seinen Eindruck eines verborgenen Geheimnisses gesagt hatte.

Sie drehten ihn auf die Seite. Jemand riss ihm den oberen Teil des Hemdes auf, zog es über die Schulter hinunter, löste die getrockneten Leinenstreifen. Die knochigen Finger des Leibarztes spreizten die verheilten Risse.

"Kein Blut."

"Kein Blut", wiederholte Crispino murmelnd. Valerio spürte die Ehrfurcht in seiner Stimme.

Die Betroffenheit der Anwesenden hätte man mit dem Messer in Stücke schneiden können, so dicht hing sie zwischen den Wänden. Als Valerio vorsichtig unter seinen Haaren hinweg schaute, sah er den starren Ausdruck Vincenzos im flackernden Schein der Fackel, die neben ihm in der Wandhalterung steckte; der Kardinal wirkte, als beeindruckte ihn die ganze Aufregung nicht. Hinter seiner bleichen Stirn jedoch bewegte es sich fieberhaft. Valerio wagte nur diesen einen Blick. Gerade hatte er die Lider wieder geschlossen, da zischten Vincenzos Worte wie gespitzte Pfeile durch den Raum. Was dann geschah, gab der Szene eine erschreckende Wendung.

"Schweig, Mönch! Was hast du dir dabei gedacht? Du und dein Prior, ihr treibt euer Spiel mit mir, ihr versucht mich zu täuschen. Für wie dumm hältst du mich? Wolltet ihr mir seinen dramatischen Zustand verkaufen, um mir anschließend seine wundersame Auferstehung von den Beinahe-Toten zu erklären?" Der Tonfall des Kardinals wurde kalt wie Eis. "Diese Verletzungen sind alles andere als bedrohlich... Es geht ihm gut. Ein Wunder...? Ha! Dass ihr es wagt, mit so ernsthaften und heiligen Dingen betrügerischen Handel zu treiben! Das ist überaus schändlich, dieser Täuschungsversuch wird Konsequenzen haben!"

Er hatte sich in Rage geredet. Aus Stimme und Schritten hörte Valerio heraus, dass er sich abgewendet hatte, um zu seinen Wachen hinüber zu gehen. An der gegenüber liegenden Wand angekommen wandte er sich um und donnerte durch den Raum: "Diese Abtei mit ihren faulen und unlauteren Mönchen wird nicht zum Wallfahrtsort meiner Provinz, alter Mann. Lieber lasse ich meinen Gaul heilig sprechen, als dass dieser Ort auf verbrecherische Weise zu Ruhm gelangt. Der Mann war von Anfang an nicht schwer verletzt, mein Leibarzt kann das bezeugen. Die Inquisition beherrscht ihr Handwerk. Und es gibt an ihm auch kein Wunder festzustellen. Dieser  Mann wäre der letzte, den der Herr mit einem Wunder beschenkt. Was Gott ihm schenkt, ist ein Feuer, das seine Seele befreit. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und nun... schafft ihn weg, mir aus den Augen. Sofort."

Zuerst dachte er, der Kardinal würde ihn meinen. Als sie jedoch Crispino packten, ihn vom Boden hoch und zur Tür hinüber zerrten, während der Heiler sich in heller Panik zur Wehr setzte, wünschte Valerio, er wäre bei der Folter gestorben. Er war bereits so menschlich gewesen, es hatte doch nicht viel gefehlt! Wie viel Leid hätte er den Menschen an diesem Ort ersparen können. Crispino. Dem Prior. Und all denen, die nun folgen würden, denn welche Wiedergutmachung der beschädigte Stolz eines Kardinalpriesters verlangte, das hatte Vincenzo ihn eindrucksvoll spüren lassen.

Die wilden Schreie Crispinos und der Tumult im Kerkerraum vermischten sich in Valerios Kopf plötzlich auf verwirrende Weise mit Bildern von der Schlucht, wie sie in der Dämmerung lag; Nebel zog über den Boden hinweg, ein Feuer flackerte... sein Dolch in der Kehle des jungen Wildschweins, der Bogen neben ihm im feuchten Gras, der verletzte Floriano, wie sie ihn vom Boden aufhoben. Dann... die Hände des Kardinals, die ihm Essen auf den Teller häuften, sein kaltes Lächeln, als er den Kaufmann und ihn gegeneinander ausspielte. Die Eisenringe in der Wand, die Spuren an Mauros Handgelenken. Erasmos gequälte Blicke, als er während der Torturen das Protokoll führen musste, der Medicus mit seinem Ohr über seinem Herzen, prüfend, ob es noch schlug. Und immer wieder Mauro. Wie er unter dem Turm im Nebel auf seinem Pferd saß und den Armstumpf zu ihm hinauf reckte, anklagend und warnend zugleich.

Er musste die Größe der Geschichte übersehen haben, die Hinweise, die mehr als puren Zufall verrieten. Die Falle, in die Valerio getappt war, seit er sich arglos und unvorsichtig den Reisenden in der Schlucht angeschlossen hatte, schien mehrfache Böden und Falltüren zu besitzen, sie war weitaus größer als er gedacht hatte... Innerlich lachte er bitter über sich selbst. Erstaunlich, dieser kleine menschliche Geist, der so selten über den eigenen schmalen Tellerrand hinweg sah und sich doch immer überlegen glaubte... Immer tiefer war er gefallen... und dabei immer menschlicher geworden ohne seine Kräfte und das weitere Bewusstsein eines Wanderers. Jeder kurzsichtige Versuch sich zu bewegen, zu befreien, hatte nur zu weiteren und tieferen Stürzen innerhalb ein- und derselben Fallgrube geführt. Wie Beute in einem Spinnennetz, wenn sie sich aussichtsloser verstrickt, je mehr sie zu entkommen versucht, dachte er. So tief steckte er mittlerweile in dieser eigenartigen Geschichte, dass er jeden Überblick verloren hatte. Statt hinaus zu finden, produzierte er immer mehr Opfer.

Was geschah hier? Worum ging es Vincenzo Grassi wirklich, was wollte er von ihm? Valerio spürte, es musste diesen größeren Sinn unter der letzten Falltür geben, etwas Ungeheuerliches, das bisher niemand ausgesprochen hatte. Er ortete die fatalen Hintergründe, wusste, dass sie nun ans Licht kommen würden. In der Tiefe, in der Dunkelheit, ganz unten am Grund des unsichtbaren Systems lag der Schlüssel zu dem Rätsel, in dem er gefangen war. Die nächsten Verhöre... sie würden alles aufdecken.

Eine schnelle Hand fuhr ihm über das Gesicht, packte seine Haare und zog sie ihm mit einem Ruck nach hinten. Valerio riss die Augen auf. Man bog ihm den Kopf so weit in den Nacken zurück, dass er mit dem Oberkörper vom Boden hoch kam. Er konnte kaum atmen.

Das Gesicht des Inquisitors, plötzlich war es über ihm. Er wand sich, versuchte sich zu befreien; im selben Moment erschien der hoch aufragende Schatten eines Wächters neben dem Kardinal, die geschliffene Sichel der Hellebarde legte sich kalt an seinen Hals. Im Gang hinter der Tür verklangen Crispinos Schreie.

"Ein Zeichen also", schnurrte Vincenzo. Sein Blick ließ Valerio in seinen Bemühungen erstarren. "Ein Zeichen des Herrn... wirklich? Oder... sollte es schlichtweg das nächste sein, was ein kluger Mann annehmen würde... dass sich hier die Zauberkräfte eines Magiers unbeabsichtigt verraten?"

Er wich zurück und Valerio stieß die angehaltene Luft aus. Vincenzos Blick wanderte einen Augenblick sinnierend über sein Gesicht, die Hand verkrallte sich stärker in seinen Haaren. "Nun sieh an, wie weit ich dich gebracht habe... Valerio... Alesso... Colleone." Ihm wurde schlecht, als der Inquisitor seinen Namen aussprach. Er erwiderte den intensiven Blick, so gut er konnte, weigerte sich seine Angst zu zeigen. Vincenzo nickte leise. "Meine Rechnung ist also aufgegangen, junger Freund. Deine dämonischen Kräfte sind immer noch lebendig." Er lächelte jetzt dünn. "Ich musste dich nur dazu bringen sie einzusetzen. Ich werde sie dir mit Eisen und Feuer austreiben und deine Seele läutern....", er sprach jetzt so leise, dass Valerio Mühe hatte, es durch das Hämmern seines Herzens hindurch zu hören, "...bis sie so blütenweiß ist wie das Unterkleid der Jungfrau Maria. Ich freue mich auf dein Geständnis. Du und ich... wir werden ab sofort Tag und Nacht daran arbeiten. Wenn es sein muss, unter Anwendung aller meiner... Werkzeuge."

Einen Moment länger hielt er Valerios Blick fest, dann schlug er ihm plötzlich den Hinterkopf mit solcher Gewalt auf den Boden, dass Valerio haltlos in tiefe Schwärze fiel. Als er wenige Augenblicke später mit Panik und Übelkeit im Magen wieder zu sich kam, stand Vincenzo bei seinen Füßen und richtete seine Robe. Er sah Valerio nicht an, während er seine weiten Ärmel zurecht zupfte, schien aber zu genießen, dass er von seinem Gefangenen beobachtet wurde, während der Wächter ihn mit der Hellebarde am Boden hielt. Schließlich blickte Vincenzo auf. Mit einer entspannten Geste seiner beringten Hand wies er vor sich gegen die Mauer.

"Hier vorne. An die Wand mit ihm. Und dann raus mit euch. Alle. Keine Wachen vor der Tür... Niemand stört, bis ich rufe. Und schickt nach Erasmo, ich brauche ihn hier. Er wird oben bei den Pferden sein."

Ende Teil 170




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