(5/2) Assisi

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Er warf zwei frische Scheite ins Feuer. Dann ging er zu dem wuchtigen Eichentisch hinüber, der bereits im Dunkeln lag. Bis auf einen einzigen brennenden Stumpf waren die Kerzen des Leuchters erloschen. Magnus zuckte zusammen, als er sah, wie er die letzte Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger erstickte.

Im selben Moment hielt Valerio am Tisch inne. Was folgte, wäre zu übersehen gewesen, wenn Magnus ihn nicht beobachtet hätte: eine kleine, schnelle Kopfwendung - und sein Blick huschte zu ihm hinüber. Es dauerte nur einen Moment. Magnus fühlte sich ertappt und wandte sich ab. Valerio richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Leuchter. Hatte er dort hinten am Tisch seine Gedanken empfangen, hatte er bemerkt, wie sehr Feuer ihn beunruhigte?

Er wagte es nicht, noch einmal hinzusehen, darum beschäftigte er sich wieder mit dem Feuer im Kamin. Dieses erschien ihm weitaus weniger brisant als zwei Finger, die ohne jede Vorwarnung in eine Flamme fassten. Sollte er sich gerade getäuscht haben und Valerios Blick war vielleicht nur Zufall gewesen, dann wollte er sich lieber nichts anmerken lassen. Er starrte darum weiter in den Kamin, bis sich der Effekt des Gesehenen verflüchtigt hatte. Das Knistern und Rauschen des Feuers hatte ihn in der letzten halben Stunde beruhigt. Mit Feuerstellen hatte er schon lange keine Probleme mehr; sie erschienen ihm sicher, insbesondere, wenn jemand anders sich darum kümmerte. Vielleicht war es ja auch dies, was seine aufgeriebenen Nerven so sehr beruhigte, dachte er: zuzusehen, wie jemand dieses Feuer kontrollierte und es für ihn in Schach hielt...

Er blinzelte träge und unterdrückte ein Gähnen. Er war nicht wirklich müde, aber sein emotionaler Ausbruch hatte einen guten Teil seiner Energien gefordert, so dass er sich nun ein wenig neben der Spur befand – als würde er mit wachen Augen träumen und doch alles mitbekommen. Ein entspannter Halbzustand. Wie eine Uhr, die exakt zwischen zwei Zeiten stehen geblieben war und die nun weder das Eine noch das Andere anzeigte. Oder beides zugleich.

Eine Hand, die in sein Blickfeld hinein griff, schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Valerio hatte auf dem runden Tisch neben seinem Sessel einen Teller mit Weintrauben und eine Schale mit Käse und Nüssen abgestellt. Er hatte nicht gehört, wie er vom Tisch zurück gekommen war.

Sein Erschrecken schien er bemerkt zu haben; seine Mundwinkel zuckten, die Augen wurden schmal. „Lass dich nicht irritieren. Auf nackten Füßen bin ich leise wie ein Kater. Wenn ich Schuhe tragen würde, hättest du mich gehört."

Das war gelogen! Er hatte erlebt, dass Valerio auch mit Stiefeln und auf steinernem Pflaster vollkommen lautlos gehen konnte, wenn er wollte. Hatte er überhaupt den Boden berührt, als sie durch die lange Gasse gegangen waren? „Ich dachte, dies sei die Nacht der Wahrheit?" entgegnete er ironisch.

Valerio lachte. „Ich sehe, du weißt Bescheid." Über seinem erstaunten Blick hob sich eine einzelne Braue. „Du lernst."

Magnus wusste nicht, ob er seine Worte als Anerkennung, als ein Kompliment auffassen wollte - oder ob Valerio ihm womöglich aus taktischen Gründen schmeichelte, da sein erster Versuch gerade eben nicht funktioniert hatte. Er griff in die Schale mit den Nüssen. „Du meinst also, ich lerne? Nun, noch nicht so ganz, denke ich. Mir fehlen noch einige Informationen, aber die werde ich sicher gleich erhalten. Möchtest du nun, dass ich zwischendurch meine Fragen anbringe – abgesehen von Fragen nach deinem Alter natürlich, die ich mir verkneifen werde?"

Valerio hatte sich eine große Handvoll Weintrauben abgezwackt und diese mit zu seinem Sessel hinüber genommen. Als er sich setzte, lachte er leise. „Sicher, du kannst jederzeit fragen, was immer du willst", sagte er. "Aber ich befürchte, das wird nicht viel nützen. Die Dinge haben ihre eigene Reihenfolge – und sie liegen ein wenig... kompliziert, wie ich schon sagte. Vieles kann ich dir nicht erklären, wenn ich dir nicht vorher in Anderes Einblick gegeben habe." Einen Moment schien er nachzudenken. Dann sprach er in entschlossenem Ton weiter: "Ich werde dir daher zuerst meine persönliche Geschichte erzählen. Ich denke, ich kenne deine Fragen. Vieles, was du wissen musst, wirst du bereits in meiner Geschichte finden. Du musst nur zuhören."

Eine Pause entstand, in der man das Feuer knacken hörte, sonst regte sich nichts im Raum. Valerios Augenbrauen hatten sich finster zusammen gezogen. „Aber ich befürchte immer noch, du wirst mir nicht glauben", sagte er schließlich. Er warf ihm einen misstrauischen Blick zu und steckte sich eine Weintraube in den Mund.

„Das werden wir sehen. Nach allem, was ich mit dir erlebt habe, werde ich hart im Nehmen sein. Ich glaube nicht, dass mich die kommenden Dinge nun so sehr umhauen können. Ich bin auf alles gefasst." Er streckte seine Beine aus. „Es geht nur darum, dass ich endlich erfahre, was los ist. Sicher wirst du brauchbare Erklärungen haben."

Valerio nickte und schwieg und Magnus beschäftigte sich wieder mit dem Anblick des Feuers im Kamin. Einige Sekunden wartete er geduldig, dass Valerio mit seiner Erzählung begann, aber dieser ließ noch immer keinen Laut hören. Als er fragend zu ihm hinüber sah, hatte er den Kopf gegen die Sessellehne zurück gelegt und die Augen geschlossen.

Magnus überlegte gerade, ob es sein konnte, dass er in diesen Sekunden eingeschlafen war, da hob sich Valerios Brust, er atmete tief ein und begann:

„Ich wurde im Jahr 1497 geboren. In der Bergstadt Assisi in Umbrien. In der Provinz Perugia."

Wollte er ihn verschaukeln? „Moment. Du hast dich versehen. Du hast gesagt: Im Jahr 1497. Du meinst das Jahr 1997. Entschuldige, wenn ich gleich zu Beginn unterbreche, aber ich möchte, dass wir hier genau bleiben, sonst hilft es mir nichts."

Valerios Augen blieben geschlossen. Er atmete hörbar ein, dann sagte er noch einmal, und seine Stimme klang jetzt tief und voll und die Haare auf Magnus' Unterarm stellten sich schmerzhaft auf: „Ich wurde im Jahr 1497 geboren. In Assisi. In der Provinz Perugia in Umbrien. Und du, Magnus Weber, musst zuhören und vertrauen, nicht reden und zweifeln, wenn du mehr verstehen willst, als du bisher verstehst. Denn wenn ich mich nicht täusche, ist es bisher nicht allzu viel, was du wirklich verstehst."

Einen Augenblick lang überlegte Magnus, ob er beleidigt sein sollte. „Du meinst, ich soll meine Klappe...?"

„Ja", fiel Valerio ihm knapp ins Wort und schoss einen messerscharfen Blick aus dunklen Augen zu ihm herüber. Der harte Ton und die missbilligende Falte über der Nasenwurzel ließen keinen weiteren Widerspruch zu.

Magnus bemühte sich, das Gesagte zu realisieren. Wie ging man damit um? Valerio schien es vollkommen ernst zu meinen... Vielleicht war er doch bei einem Irren zu Gast? Wie wütend er eben geworden war! Gut, dachte er, ich kann ihn einfach reden lassen. Er erzählt eine Geschichte, nicht mehr. Es ist nur eine Geschichte. Seine persönliche Version. Seine Art, sie zu erzählen. Ich kann zuhören und meinen Mund halten. Vielleicht ist das Datum nur als eine Art Metapher gemeint, es hat sicher Symbolwert... Er blickte gespannt auf Valerios Gesicht, auf die scharf abgegrenzten Kieferknochen, das markante Kinn, den Mund... bis dieser sich öffnete und seine Geschichte begann.


„Assisi, die Stadt des Friedens und der Freude. Gebaut vor den rollenden Bergmassiven Umbriens, den Hang hinauf und auf dem langgestreckten Rücken des Berges entlang, hoch oben über einem Meer von Nebel. Der Pilgerweg ging von Florenz über Assisi nach Rom. Von Frühling bis Herbst strömten die Gläubigen durch die engen Tore, Gassen und Tunnel unserer Stadt, lagerten vor unseren Kirchen und beteten in der Basilika des heiligen Franziskus. Sie küssten das Kreuz vor seinem Sarkopharg, brachten der Kirche ihre Opfer, ließen ihren weiteren Weg segnen und schliefen draußen auf dem Platz vor der Basilika, bevor sie weiter zogen. Dass die Stadt nicht in den Berg hinein brach oder in die weite Ebene hinab rutschte bei den vielen Besuchern, die die Gassen verstopften, war ein Wunder mehr, das Franz von Assisi bewirkte. Er hatte mit den Tieren gesprochen und die Natur und alles Lebendige geliebt, sagte man. Ich war ein kleiner Junge damals, ein Kind in dieser quirligen, mittelterlichen Stadt - und ich konnte gar nicht anders als von seinem Geist inspiriert zu sein.

Ich lernte auf diesem Berg das Laufen und Sprechen, Klettern und Rennen. Nur ein einziges Mal in diesen ersten Jahren hatten meine nackten Füße etwas anderes gespürt als das steile Auf und Ab der Treppen und Gassen. Da hatte mein Vater, der Kaufmann war, mich mitgenommen. Zu zweit auf seinem Pferd sitzend durchritten wir einen Tag lang die Ebene und besuchten einen Freund seiner Familie.

Mir gefiel es dort nicht. Es gab dort keine Treppen und steilen Mauern und der Himmel, der doch derselbe sein musste wie der, der sich über meiner Stadt wölbte, wirkte klein und matt. Sein Leuchten in den Morgen- und Abendstunden war vorbei, bevor es begonnen hatte und ich vermisste das Gold und das Blau und den Nebel, den Wind, die Wolkentürme, die Vogelschwärme und das violette Licht, bevor die Nacht die Häuser einhüllte. Der Blick über das Land erschien mir stumpf und flach. Die Luft vibrierte nicht vor Hoffnung und Glück, sondern sie roch nach harter Arbeit und Sorge.

Wir blieben nur einige Tage. Den Namen dieses Freundes meines Vaters hatte ich bereits wieder vergessen, als die mächtigen Klostermauern von Assisi vor den dunkel bewaldeten Buckeln der Berge auftauchten und wir heimkehrten.

Nach diesem Ausflug in den Rest der Welt schwor ich in meinem kindlichen Kopf, dass ich meine Bergstadt nicht noch einmal verlassen wollte. Ich brauchte die Freiheit des weiten Blicks, der dem Himmel so viel näher war als anderswo, ich brauchte die Stärke der Berge in meinem Rücken und die Festigkeit der alten, sonnengewärmten Steine unter meinen Füßen.

Meine Mutter verstand mich und ließ mich laufen. Sie war eine wohlhabende Kaufmannstochter und mein Vater hatte sie genommen, da ihre Mitgift viel wert war und ihre Schönheit diese noch mehrte. Ihr Vermögen ging an ihn und ihre Schönheit ruinierte er mit den Jahren, indem er sie verbrauchte wie ihr Geld. Sie hatte vor mir drei Mädchen geboren - aber alle ihre Kinder starben, bevor sie ein oder zwei Jahre alt waren - alle außer mir. Jedes Jahr hatte sie eines geboren und ein anderes begraben, und es veränderte sie. Sie war sehr gläubig und trug ihr Schicksal geduldig. Bis zu dem Tag, als mein Vater sie zu schlagen begann. Er nannte sie unnütz und mich ein Mädchen, da ich ihr so viel ähnlicher war als ihm. Dass aus mir niemals ein Mann würde, geschweige ein erfolgreicher Kaufmann, schrie er mir bald jeden Tag an den Kopf.

Als ich zehn war, begannen die Kinder in den Gassen mich wegen meiner gelockten Haare und meines Gesichts zu verspotten, sie hatten gehört, wie mein Vater mich nannte und ich unternahm meine Streifzüge durch die Stadt von da an allein. Als ich vierzehn war, vergötterten mich die Mädchen und verprügelten mich die Jungen dafür umso mehr - aber ich hatte mehr Sorge um meine Mutter als um mich selbst, wenn ich sie allein ließ. Ich begann meinen Vater zu hassen. Es kam der Tag, an dem ich es ihm entgegen schrie. Er packte mich, brach mir den Arm und steckte mich in die Waschkammer. Ich war es gewohnt, meine Nöte selbst zu tragen und konnte mich nicht erinnern, wann er zuletzt einen freundlichen Blick für mich übrig gehabt oder auch nur meinen Namen ausgesprochen hatte. Aber mein Arm schmerzte entsetzlich; ich schrie die ganze Nacht, bis ich heiser war und meine Mutter ihn bekniete, mich hinaus zu lassen. Er brachte mich zu einem Medicus, der ihm eine Stange Geld schuldete.

Der Medicus war freundlich zu mir. Er gab mir Wein mit Schlafmohnsaft zu trinken, richtete meinen Arm und wickelte ihn in eine Schiene aus in Wachs getränkten Bandagen und festem Leder. Er behielt mich über Nacht und den nächsten Tag, bis das Mittel nicht mehr wirkte, gab meiner Mutter etwas davon in einer Phiole für mich mit und entließ mich nach Hause.

Von diesem Tag an war ich Luft für meinen Vater. Er sprach nicht mit mir, er sah mich nicht an, er ignorierte mich. Meine Mutter und ich hatten eine ruhige Zeit, in der es keine neuen Angriffe durch ihn gab und mein Arm heilte. Mein Vater verschwand für einige Zeit nach Rom wegen der Geschäfte, kam wieder, sah nach dem Rechten, ließ Geld da und verschwand wieder. Mich würdigte er weiterhin keines Blickes und meine Mutter wusste ihm auszuweichen, damit sie nicht wieder ein neues Kind für ihn tragen musste. Wahrscheinlich hatte er aufgegeben, durch sie noch einen respektablen Erben zu erhalten. Und ganz sicher hatte er in Rom genug Frauen, die käuflicher waren als sie.

Meine Mutter und ich erholten uns und das Leben wurde leichter ohne ihn. Da für einen Kaufmann das Reisen eine Notwendigkeit war, fiel es niemandem auf, dass er uns im Grunde verlassen hatte, und meine Mutter konnte ihr Gesicht wahren. Sie war freundlich zu allen und tat viel für die Kirche, kümmerte sich um die Armen und fand Aufgaben, die sie glücklich machten. Sie war beliebt und gewann gute Freunde in der Stadt und in der Kirche.

Ich war fünfzehn geworden. Und während andere Jungen in meinem Alter hinter den Mädchen herliefen und um die Attribute ihrer sich entwickelnden männlichen Körper konkurrierten, hielt ich mich zurück und blieb für mich, wie ich es gewohnt war. Nur wenigen vertraute ich in diesen Tagen; ich verbrachte meine Zeit auf den Dächern der Stadt und beobachtete das Treiben der Menschen aus sicherer Distanz.

Meine Mutter war eine wahre Kaufmannstochter, sie konnte mit Geld umgehen wie niemand sonst. Sie hatte mich von Anfang an mit der Magie der Zahlen gefüttert, so wie andere Kinder mit Brot und Gemüse ernährt wurden. Seit mein Vater mit seinen Ansprüchen unser Leben kaum noch belastete, war es ihr möglich gewesen, hier und da etwas Geld zur Seite zu legen. Sie erfüllte mir meinen größten Wunsch: Sie ließ mir bei einem Instrumentebauer eine Laute anfertigen. Diese Laute war mein wertvollster Besitz, mein größter Schatz. Ich erhielt günstigen Unterricht bei einem talentierten Lautenspieler. Ich begriff, dass Musik durch ihren Zauber Mathematik und Emotionen vereinte. An den seltenen Tagen im Jahr, wenn mein Vater überraschend heimkehrte, versteckte ich mein Instrument und die Noten in meiner Kleidertruhe.

Ich freundete mich mit dem Medicus an, der meinen Arm versorgt hatte. Ich besuchte ihn oft und half ihm bald hier und da. Es gab viel zu tun, insbesondere in den Wintermonaten, wenn die Stadt wochenlang in kaltem Nebel und Schnee lag und wir von der Welt abgeschnitten waren – und da mein Vater kein Geld für mein Studium bezahlen wollte und ich selbst froh war, nicht an die Universität nach Perugia gehen und meine Mutter allein lassen zu müssen, durfte ich bei dem Medicus lernen. Bald begann ich mit meinem Lautenspiel hier und da Geld zu verdienen. Es hatte sich herum gesprochen, dass ich Talent besaß und meine Mutter achtete darauf, dass ich nicht zu viel Lohn verlangte.

Der Medicus, ich durfte ihn Rocco nennen, schickte mich in das Kloster Santa Croce von Assisi, damit ich etwas über Heilkräuter lernte. Ich war jeden Vormittag dort, durfte in der Krankenstube arbeiten und konnte vieles, was Rocco mir gezeigt hatte, bereits anwenden. Meine Stimme war gereift und sie war zum Singen geeignet, fanden die Nonnen. Ich wurde im Kloster sehr geliebt und geschätzt, und  ich genoss den Unterricht im Singen, den man mir bereitwillig und gern anbot. Oft saß ich mit meiner Laute bei ihnen in der Klosterküche und unterhielt sie während ihrer Arbeiten.

Da meine Mutter mir in frühen Jahren nicht nur die Mathematik, sondern auch das Lesen und Schreiben beigebracht hatte, erhielt ich bald Zutritt zu dem Raum, in dem die medizinischen Schriften gelagert wurden. Was in der Natur wuchs, wie man es zubereitete und wie es wirkte, dazu die vielen wunderbaren Zeichnungen der Pflanzen, Wurzeln und Früchte, all dies begann mich zu faszinieren.

Ich verfluchte meinen Vater, dass er mich nicht auf eine Universität schicken wollte, denn jetzt, da es meiner Mutter gut ging und er sich immer seltener bei uns sehen ließ, konnte ich mir vorstellen, meinen sicheren Berg, Assisi, zu verlassen. Ich wollte mehr von der Welt sehen, ich wollte mehr lernen. Aber da ich nicht wusste, wohin mit mir, blieb ich noch eine Weile.

Eines Tages  fiel mir im Kloster die Schrift eines Gelehrten in die Hand, der in den Kriegen Erfahrung mit Amputationen gesammelt hatte. Er band die Blutbahnen ab, bevor er schnitt oder sägte. Dies tat man üblicherweise nicht. Bei Rocco hatte ich die Amputation eines Fingers gesehen. Da er schnell handelte und die Wunde zügig ausbrannte, hatte es keine gefährlichen Blutungen gegeben, alles war gut gegangen. Ich hielt Rocco für einen Meister in seinem Fach, da er zwar auf die herkömmliche Art arbeitete, dies aber offenbar perfekt beherrschte.

Es war ein kalter Februarmorgen, als Rocco mich aus dem Kloster holen ließ. So etwas war noch nicht vorgekommen. Man sagte, ich sollte mich beeilen.  Ich rannte durch die Gassen bis zu seinem Haus. Eine schwere Beinverletzung erforderte eine Amputation und es war niemand da, der kräftig genug war zu assistieren. So unternahmen wir die Sache zu zweit.

Wir hatten den Mann festgebunden, so gut es uns möglich war. Betäubt von Mohn und Wein lag er auf dem Tisch, als Rocco seine Säge ansetzte. Es war schwierig, der Knochen war sehr kräftig und wir brauchten länger als gut war. Wenn er überleben sollte, mussten wir fertig werden, die Zeit wurde knapp. Unsere Hände und Unterarme waren nass von Blut, Rocco konnte keines seiner Instrumente mehr sicher fassen und wir hatten am Tisch nicht genug Tücher. Ich sollte die Säge halten, während Rocco weitere Tücher holen wollte. Als das Blut über meine Schuhe lief und Lachen von einer Größe bildete, als hätte man ganze Krüge ausgeschüttet, ließ ich die Säge im Bein stecken und stürzte zur Tür hinüber, wo Roccos Lederriemen hing, den er sich um sein Hemd band, wenn er das Haus verließ. Ich hatte über den Winter viel gelesen, die detailierten Zeichnungen studiert und mir das Innere der Körper vor Augen geführt, um mir alles einzuprägen.

Eine Handbreit über der Säge setzte ich den Riemen an und begann ihn festzuziehen. Rocco stand plötzlich hinter mir, er riss ihn weg, schleuderte ihn durch den Raum und schubste mich zur Tür. Er schrie, ich solle verschwinden. Er sagte, dies hier sei Handwerk, Arbeit. Und Lesen und Studieren sei etwas für Weichlinge, für Leute, die nicht kräftig anpacken konnten und deren Kopf brauchbarer war als ihre Hände. Ich wusste in diesem Moment, dass ich ihn durch meine Lehrzeit im Kloster zu überragen begonnen hatte. Er fürchtete die Herabsetzung seiner Kunst, weil ich Wissen gesammelt hatte, das ihm selbst niemals angeboten worden war.

Der Mann auf dem Tisch verblutete. Ich hatte noch niemals so viel Blut auf einmal gesehen. Im Raum hatte es metallisch gerochen, es plätscherte, als es lief und lief, über die Tischkante, auf den Boden, bis unter den Schrank, in dem Rocco seine Salben und Tinkturen aufbewahrte. Die Haut des Mannes, sein Gesicht, seine Arme und Hände hatten ein Grau, das ich bis heute nicht vergessen habe – so leer und leblos wie bleiches Wachs, in das man einen Hauch Asche gerührt hatte, bevor es erkaltet war.

Ich war bis an die Ellenbogen voller Blut, ich hatte es im Gesicht und auf der Brust, es war mir in meine Hosenbeine gesickert. Als ich aus der Tür stürzte, saß an der Wand eine sterbensblasse Frau, die ein Kind an sich drückte. Ihre riesigen, tränennassen Augen und der grauenvolle Blick, mit dem sie an meinem blutdurchtränkten Hemd und meiner Hose hinunter sah, werde ich niemals vergessen. Ich versteckte meine blutigen Hände vor ihr, als könnte ich zusammen mit ihnen meine Schuld verbergen. Ich schämte mich unsagbar und verschwand ohne ein Wort aus dem Haus.

Ich wollte meine Mutter nicht erschrecken, darum lief ich zurück zum Kloster, um mich zu waschen und umzuziehen. Auf dem Weg musste ich anhalten und mich übergeben. Eine Weile kniete ich an der Mauer und weinte. Ich hatte gesehen, wie das Leben aus diesem Mann einfach hinaus gelaufen war, es ging so furchtbar schnell. Ich hatte dabei gestanden und die Säge gehalten, hatte viel zu spät reagiert. Mir war keine Zeit geblieben, Rocco zu überzeugen, ihm zu beschreiben, was ich in den Schriften gelesen, was ich auf den Abbildungen gesehen hatte. Ich kannte die gesamte Anatomie des Menschen. Rocco hatte noch niemals ein menschliches Herz, eine Leber oder ein Gehirn gesehen. Er sägte ab, was störte, was verletzt war und nicht heilen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie die Dinge zusammenhingen.

Mir wurde klar, dass ich vorsichtig sein musste mit vielem, was er mir in der Vergangenheit vermittelt hatte. Ich musste meinen Kopf aufräumen, den Unrat, das Falsche und Unnütze hinaus werfen. Meine Beobachtungen in der Krankenstube des Klosters, die Zubereitung von Salben und Tränken, bei der man mich seit drei Jahren zuschauen und helfen ließ, all dies hatte mir bereits ganz andere Dinge vermittelt. Dies war Wissen, das ich für brauchbarer hielt. Ich war unglücklich und froh zugleich. Meine Lehrzeit bei Rocco war endgültig vorbei. Ich war dem entwachsen, ohne es bemerkt zu haben."

Ende Teil 34

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