(6/5) Ailein Duinn

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

["Ailein Duinn" (hier gesungen von Siobhan Owen) ist das Lied, das Caterina ab ca. Mitte des Kapitels singt - es ist nicht als "Untermalung" beim Lesen des Kapitels gedacht (es eignet sich nicht!), sondern soll an der betreffenden Stelle nur eine konkrete Vorstellung von Caterinas Lied anbieten. Siobhan Owen singt es hier auf typisch schottisch-traditionelle Art - und somit genauso, wie Caterina es in dieser Szene singen würde. Infos zum Song: Siehe mein Kommentar am gälischen Text]

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Im zweiten Stock angekommen sahen sich die Mädchen unsicher um. Hier irgendwo sollte es einen Raum geben, in dem Bücher und andere Dinge, die für den Unterricht benötigt wurden, untergebracht waren. Von unten hörte man nun die Stimmen der anderen Novizinnen aus dem Schulsaal. Sie sprachen im Chor, dann sangen sie einige Zeilen.

„Es soll auf der rechten Seite sein, sagte Schwester Lorenza." Luisa zeigte den Gang entlang. „Lass uns dort nachsehen."

Caterina steuerte gleich die erste Tür auf der rechten Seite an, legte ihr Ohr an das alte Holz und lauschte.

„Hörst du etwas? Ist jemand dort drinnen?", fragte Luisa flüsternd. Caterina schüttelte den Kopf, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Sie schaute durch den Türspalt, dann schloss sie die Tür wieder. Sie wandte sich zu Luisa um und zuckte die Schultern.

Die Mädchen probierten gerade die zweite Tür aus, als von unten her Laufschritte zu hören waren. Sie kamen näher, jemand schien jetzt auf der Treppe zu sein. Die Person hatte es offenbar eilig, die Füße auf den Stufen schienen Sprünge zu machen... Jemand kam zur zweiten Ebene hinauf.

Caterina hatte auf einmal das Gefühl, hier oben nicht sein zu dürfen, sie war unsicher, ob sie hier überhaupt richtig waren! Sie winkte Luisa ihr zu folgen, trippelte auf leisen Sohlen zügig vor ihr her und auf die Türen zu, die sich weiter hinten im Schatten des langen Ganges befanden. Sie probierten eine Tür auf der rechten Seite, dann die nächste in der Reihe... und diese schien die richtige zu sein. Die Mädchen schlüpften durch den Türspalt. Die Tür ließen sie eine Handbreit offen.

Staunend sah Caterina sich um. Durch die offene Tür hörte man weiter hinten im Flur nun ein Rumpeln und Knarren. Es dauerte nur einen Augenblick, dann war es wieder still.

Sie atmete hörbar ein, als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Manche der Bücher gab es in ganzen Sätzen von bis zu fünfzig Stück, das mussten die Bücher für den Gottesdienst und den Unterricht sein!

Die hölzernen Regale, die bis an die hohe Decke gingen, beherbergten wohl Hunderte von Büchern. Irgendwo auf einem der Borde mussten auch die Gesangsbücher sein! Luisa begann die Reihen zu durchsuchen, strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken, während Caterina sich die andere Seite des Raumes vornahm. Die Bücher unterschieden sich in Höhe und Stärke, aber ansonsten hatten die meisten von ihnen lederne Einbände oder steckten in einer Art Tasche aus abgegriffenem, grauem Leinen. Sie sahen alle sehr ähnlich aus.

Sie entdeckte die Gesangsbücher schließlich hinten an der Querwand des langgestreckten Raumes. Als Luisa, die gerade eine Bibel mit verzierten Buchstaben betrachtete, nicht gleich zu ihr aufsehen wollte, klatschte sie zweimal in die Hände. Sofort hob Luisa den Blick, stellte die Bibel ins Regal zurück und kam zu ihr hinüber.

„Du hast sie gefunden", sagte sie. „Das Klatschen ist eine gute Idee! Wir sollten uns Zeichen für verschiedene Worte ausdenken, dann wird die Verständigung uns bald keine Schwierigkeiten mehr machen... Aber nun schnell", drängte sie, „wir brauchen vierundzwanzig Stück. Lass sie uns dort vorne auf dem Tisch an der Wand ablegen, dann können wir zwei Stapel bilden." Sie zeigte auf den schmalen Tisch, der neben der Tür stand.

Es dauerte nicht lange, da hatte jedes der Mädchen einen Stapel Gesangsbücher im Arm. Die Tür knarrte, als sie sie vorsichtig aufdrückten, um mit den Büchern hinaus zu kommen. Im Flur war es sehr dunkel geworden. Dort vorne, mitten auf dem Gang, ragte eine klobige alte Leiter von der Decke herab. Durch die Luke hörte man trommelnden Regen, es roch zugleich staubig und frisch im Flur. Wahrscheinlich schloss jemand gerade dort oben die Fenster am Dach.

Luisa lachte leise, als sie sich bemühte, ihren Stapel zwischen dem Unterarm und dem Kinn einzuklemmen, damit sie die rechte Hand einen Moment lang frei hatte, um die Tür zur Bibliothek hinter ihnen zuzuziehen.

Caterina lachte nicht. Sie stand im Gang, still und unbeweglich. Ein wildes Grollen, erst leise und fern, dann näher heran rollend, dröhnte die steinernen Wände entlang und verfing sich im hohen Deckengewölbe. Es war ein tiefer Ton, der ihren leeren Magen in Schwingungen versetzte. Das Gewitter kam über die Ebene.

Ein zweiter, vielstimmiger und dunkler Donner vibrierte in ihren Knochen... Er brachte Bilder aus der Ferne mit, Bilder von schroffen Klippen und wogendem Meer, von fliegendem Schaum vor einem weiten, sturmgepeitschten Himmel... und den Klang eines alten Liedes brachte er mit - ein Lied, das ihr der Wind von den Lippen riss, um es ihr im nächsten Moment wieder ins Gesicht zurück zu schleudern. Sie lächelte mit abwesendem Blick, ihre Augen wurden feucht. Sie dachte an die donnernde Brandung, gegen die sie angesungen hatte. An Zuhause. An ihr richtiges Zuhause am Ende der Welt. Im Norden, auf der anderen Seite des Meeres. 

Während Luisa sich hinter ihr mit ihren Büchern und dem Türgriff abmühte, starrte Caterina den langen Gang entlang, der sich auf der anderen Seite des Treppenaufgangs fortsetzte. Dort ganz hinten, in der letzten dunklen Ecke, befand sich ein hohes Fenster mit einem gotischen Spitzbogen...

Es war düster draußen. Ein Teil des Monte Subasio war zu sehen, die bewaldeten Hänge leuchteten giftig grün, während sich dahinter die riesigen Wolken bedrohlich aufbauten. Gelb wie Safran, seegrün und aschegrau waren sie...

Sie musste an das Meer denken, das grün und schwer gegen die Felsen rollte, an die langgezogenen Kuppen der Berge und wie sie sich in Nebel gehüllt hatten... weit weg von hier, tausend Jahre mochte es her sein. Aus dem Meer, dem Wind und dem Land stammten die Lieder, die ihr Volk sang. Sturmkind hatte ihre Mutter sie genannt.

"Gura mise tha fo éislean moch sa mhaduinn is mi 'g éirigh...

Hì ri bhò hò ru bhì,

hì ri bhò hò rinn o ho...

Ailein Duinn, ò hì shiubhlainn leat..."

Der Donner rollte in der Ferne. Der Regen rauschte.

Luisa war es endlich gelungen, mit dem kleinen Finger den Türgriff zu fassen und die Tür in den Rahmen zu ziehen, bis der Riegel schnappte. Als sie Caterina leise singen hörte, wandte sie sich erstaunt um. Beinahe wäre ihr das oberste Buch vom Stapel gerutscht. Luisa lauschte einen Moment. Diese eigenartige Sprache... war dies nicht eine andere als die, in der sie gestern gesungen hatte? Und welch fremdartiger Klang, dachte Luisa, diese Melodie! Magisch, voller Zauber war sie. Und eine entsetzliche Trauer sprach aus diesen Worten, die sie nicht verstand...

Caterina träumte mit weiten Augen. Ihr Blick war in unbestimmte Fernen gerichtet, als würde es diese Mauern nicht geben. Kaum bemerkte sie, dass sie sang...

„Schhht", machte Luisa.

Aber sie hörte sie nicht. Sie wollte nicht hören.

„Caterina!", versuchte Luisa es nun etwas lauter. „Das Lied... Hör auf, du bekommst Ärger."
Sie reagierte nicht, sie sang weiter, die Worte und Töne wogten leise auf und ab.

Luisas Flüstern wurde eindringlich. „Wir singen in Italienisch und Latein. Was immer das ist - lass diese Sprache hier besser nicht hören. Maria hat dich gewarnt."

Caterina verstummte.

„Nun komm schon, wir haben viel Zeit verloren. Wir müssen gehen." Mit ihrem Bücherstapel ging sie an ihr vorbei und voraus.

Caterina zwang sich mit Gewalt in die Realität zurück. Der Regen prasselte. Der Donner grollte. Lang und anhaltend. Irgendwo in der Ferne schlug krachend ein Blitz ein.

Kurz vor der Leiter, die aus der Luke zum Dachboden heraus ragte, hatte sie Luisa eingeholt. Luisa warf ihr einen freundlichen Blick zu, ihre Augen lächelten jetzt wieder, sie fühlte ja mit ihr - aber Caterina war nicht danach, sich aufmuntern zu lassen. Sie wich aus, fixierte im Gehen die Fugen zwischen den Steinplatten.

Dann ging alles sehr schnell. Ein Schatten kam von oben. Sie sah auf, etwas Hartes traf schmerzhaft ihren Wangenknochen und sie wurde zu Boden geschleudert. Instinktiv schützte sie ihren Kopf mit dem Arm, kauerte sich zusammen.

Luisa schrie im selben Moment erschrocken auf. Caterina konnte sie nicht sehen, da plötzlich jemand zwischen ihnen stand. Sie blickte auf nackte Füße und auf die Rückseite kräftiger Waden... als sie benommen den Kopf hob und sich vom Boden hochstützen wollte, tropfte etwas auf ihre Hand. Ihr war schwindelig und ihr Kopf schmerzte. Ihre Augen folgten den Füßen und den Beinen, die in einer hochgekrempelten Hose steckten, aufwärts. Die Hose schien nass zu sein, ebenso wie die lange Tunika aus hellem Leinen, aus der es tropfte. Das Wasser bildete winzige Pfützen vor ihr auf dem Boden.

„Oh, ich bitte um Entschuldigung, tut mir leid..."

Diese Stimme! Sie ließ sie im selben Moment aufhorchen, als er die ersten Worte sagte. Er schien peinlich berührt und erschrocken.

Sie fühlte, wie die Zeit anhielt. Und ihr Herz. Plötzlich war sie hellwach, etwas in ihr war alarmiert. Nicht, dass sie die Stimme kannte, nein! Jedenfalls hatte sie sie niemals irgendwo gehört... nur in ihrer Seele erkannte sie sie – oder besser, das, was sie versprach, was sie in sich trug: Sein Wesen. Da war etwas, das sie im selben Moment ansprang - es brachte etwas in ihrem Bauch zum Flattern und riss sie vollkommen aus der düsteren Stimmung heraus. Es gab Seele in diesen Mauern. Beweglichkeit und Lebendigkeit! Freiheit! Der braune Fuchshengst ihres Vaters lief mit federnden Schritten über die Wiesen und warf den Kopf zurück... Sie meinte ihn zu erkennen, obwohl er sich in diesen Sekunden an Luisa richtete und sich nicht einmal zu ihr umwandte. Es war Angelo! Der junge Mann mit den Eimern. Der, den sie vorhin vom Fenster aus beobachtet hatte...

Irgendwie hatte der Schlag gegen ihren Wangenknochen sie betäubt. Sie achtete kaum auf den Schmerz, fühlte nur dieses Summen in ihrem Schädel... Und sie war so erstaunt, so gefangen von seiner Stimme, seiner Gegenwart, sie hätte seinen Fuß berühren können, wenn sie wollte, so nahe stand er vor ihr... Aber was für ein Gedanke war das! Sie sah zu ihm hinauf, über den langen Rücken bis hoch zu den Schultern. Breit waren sie und aufrecht - und mit großen, dunklen Flecken darauf, dort, wo das Leinen den Regen aufgesaugt hatte. Weiter unten liefen die Flecken zu einer einzigen Fläche zusammen, der Stoff klebte ihm nass auf der Haut. Sein Rücken wirkte stark und beweglich, gerade so, wie sie es auch bereits aus der Distanz empfunden hatte.

„Ich hatte von oben nicht gesehen, dass hier jemand... Aber ich meine, ich hätte natürlich..."

Die Stimme, schon wieder! Da gab es diesen tieferen, rauen Unterton, der mitschwang, vibrierte und die Worte begleitete. Bei manchen wurde er deutlicher, rauer, aber es lag zugleich auch etwas Edles darin, ein schöner, anrührender männlicher Klang... Es würde sie nicht wundern, wenn er sang! Und wenn er es nicht tat, dann sollte er damit anfangen!

Jetzt fuhr er sich mit der Hand durch die triefend nassen Haare, strich sich die Strähnen über den Kopf zurück und nach hinten... Einige Tropfen flogen durch die Luft und trafen sie im Gesicht. Seine Hände! Er wischte sie nun an der Tunika ab, hinten, über seinem Po... Er ließ sie dort, viel länger als einen Moment. Gute Göttin, dachte sie und spürte eine Hitzewelle, die sich über ihre Brust und den Hals ausbreitete. Sie hatte darum gebeten, dass der Blitz sie treffen möge, fiel ihr ein... die Göttin musste sich einen Scherz mit ihr erlauben! ...Aber konnte sie aufstehen? Sie musste. Ihr Kopf schmerzte und ihr wurde wieder schwindelig.

Luisa blieb still, sie gab kein Wort von sich. Wahrscheinlich hatte sie sich ebenso erschrocken. Oder er hatte sie ebenso verzaubert! Die Ältere entgegnete jedenfalls nichts auf seine Entschuldigung.

Sie musste endlich vom Boden hochkommen. Gerade wollte sie ihr Gewand zusammen nehmen und den Fuß aufsetzen, wandte er sich zu ihr um.

Er war es! Es gab keinen Zweifel! Die Röte flutete ihr heiß ins Gesicht. Warum fühlte sie sich ertappt? Er konnte doch gar nicht wissen, dass sie ihn beobachtet hatte! Er hatte sie am Fenster nicht gesehen. Aber wenn doch? Schnell senkte sie den Blick, fasste ihren Kopf und tat, als sei sie gerade in Begriff sich hochzurappeln. Hatte sie eben gerade tatsächlich seine Augen gesehen, seinen Mund? ...Hatte sie? Oder war alles zu schnell gegangen und sie hatte bereits weggeschaut, bevor er...? Oh, es war keine Einbildung gewesen. Ihre Handflächen waren nass, sie bekam keine Luft mehr unter dieser entsetzlichen Novizentracht! Wie konnte man solche Augen haben, so sprechen, so...? Heilige Epona, warum passierte ihr das!

Sie war so irritiert, so vollständig eingenommen von seiner Stimme und Erscheinung, dass sie beim Aufsetzen ihres Fußes vor sich nun auch noch in ihren Saum trat und darum gleich wieder zurück und auf die Seite fiel. Konnte es noch schlimmer werden? Sie dachte, er musste ihre Röte, die ihr nun bis unter die Haarwurzeln kroch, ganz sicher sehen.

Was sie selbst sah, waren seine Füße. Sie wäre gestorben, jetzt aus dieser misslichen Lage heraus zu ihm aufsehen zu müssen – und sie starb jede Sekunde, weil sie sein Gesicht verpasste, während es doch so nahe war. Sie neigte ihr Gesicht zum Boden, um ihre Betroffenheit zu verstecken, stützte sich mit den Händen hoch – und bemerkte daher seine Absicht erst, als er sagte: „Warte, ich helfe eben. Hier, nimm meine Hand... Es tut mir so leid, ich wollte wirklich nicht..."

Oh, wenn sie hätte sprechen dürfen! Aber wahrscheinlich wäre ihr gleich der erste Ton derart verunglückt, dass sie froh sein konnte, sich hinter ihrem Schweigen verstecken zu können! Wenn ich jetzt diese Hand nehme, falle ich tot um, dachte sie und hoffte, ihr wildes Herzklopfen würde sich endlich beruhigen, bevor er auch dies noch hörte. Was sollte sie tun? Sie wirkte hier nun gerade dumm, ungeschickt und dazu auch noch undankbar!

Einen Moment lang starrte sie wie betäubt auf die Hand, die er ihr hinstreckte. Freundlich wirkte sie, groß und sanft. Es war die erste Hand, die ihr hier an diesem traurigen und strengen Ort in guter Absicht gereicht wurde. Die Allererste, die sie hier berührt hatte, hatte ihr den Zopf abgeschnitten. In ihrer Unsicherheit ignorierte sie seine Hilfsbereitschaft. Es tat ihr in der Seele weh, seine Hand nicht nehmen zu dürfen, ihm dieses Gefühl von Nutzlosigkeit und mangelnder Wertschätzung vermitteln zu müssen. Sie war gefährdet, man hatte ein Auge auf sie. Sie konnte ihn nicht berühren! Er war ein Mann. Sie half sich besser selbst.

Luisa tauchte nun neben ihm auf und packte ihren Arm. Er wollte helfen, aber sie sagte nur: „Danke, es geht schon, ich helfe ihr. Aber könntest du bitte noch die Bücher...?" Dabei lächelte sie ihn mit strahlenden Augen an.

Wie konnte Luisa jetzt lächeln, mit diesen Augen – und nachdem sie selbst sich gerade so lächerlich gemacht und ihn und sein Angebot unfreundlich abgewiesen hatte! Sie spürte plötzlich eine eigenartige Schwere in ihrem Bauch, einen Ärger, den sie kaum unterdrücken konnte. Wie beneidete sie die Ältere, dass sie nicht so schnell aus der Bahn zu werfen war, dass sie so offen und selbstverständlich mit ihm sprechen konnte. Und sprechen konnte sie, ja! Sie war schließlich auch nicht in diesen Käfig des Schweigens eingesperrt! Es war so ungerecht. Seit einer Stunde bereits stand sie so nahe vor dem Ausbruch der Tränen, die sich aufgestaut hatten, bestimmt würde der Damm heute noch brechen, spätestens am Abend...

Luisa brachte sie auf die Füße und ließ ihren Arm los - und da stand sie und konnte nur wegschauen. In ihrer Not sah sie sich nach den Büchern um, die überall am Boden lagen. Sie hatten zu tun, sie mussten hier weg.

Er war inzwischen Luisas Bitte nachgekommen und hatte ebenfalls begonnen, einige der Bücher einzusammeln. Als er einen Stapel beisammen hatte und ihn Luisa in den Arm drückte, sah Caterina, wie groß er war. Luisas Nase stieß beinahe an seine Schulter... Wie er sich hielt, wie leicht er sich bewegte! Und diese Wangen, das Kinn... die Lippen!

Beinahe wäre sie ertappt worden, als sich sein Blick plötzlich zu ihr herüber bewegte, sie wie zufällig streifte und an ihr hängen blieb. War es nur Zufall, dass er hersah? Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich abgewendet. Er hatte sehr dunkle Augen! Sie spürte seinen Blick, seine Neugierde wie eine unsichtbare Welle, die gegen sie brandete.

Es war, als würde sie seine Gedanken auffangen... Wenn sie jetzt aufsah, würden sie einander unmittelbar begegnen. Seine Augen, ihre Augen. Seine offene Neugierde, sein Charme, ihre völlige Überwältigung und Entwaffnung. Sie fürchtete sich, sie war noch nie so schüchtern und verunsichert gewesen wie jetzt. Er war ihr ähnlich, das spürte sie, während sie wusste, dass er sie jetzt intensiv betrachtete. Ebenso wie sie selbst es tat, sah er in die Menschen hinein. Er sah und wusste mehr, als er sich anmerken ließ. Sie wäre vollständig nackt vor ihm, wenn sie ihm jetzt ihre Augen, ihr Gesicht zeigen würde... Er wüsste alles. Sie wäre verloren.

„Habe ich dich verletzt?"

Beinahe sackten ihr die Knie weg. Ihr wurde schwindelig von seiner Stimme. Und von der intensiven Aufmerksamkeit, die er auf sie richtete.

„Oder hast du dir beim Fallen weh getan?"

Er kam einen Schritt auf sie zu, er war nur noch eine halbe Armlänge entfernt.

„Ist dein Bein in Ordnung? Dein Gesicht... du hast hoffentlich nichts abbekommen?"

Sie schwieg. In ihr kochte eine seltsame Verzweiflung, die man ihr doch sicher ansehen musste! Beinahe musste sie weinen. Weil sie unfrei war, weil sie nicht aufsehen konnte, weil sie nicht sprechen durfte. Und weil er ihr so freundlich und so entsetzlich warm und lebendig erschien, dass es schmerzte. Und weil es sie vor Sehnsucht nach einem besseren Ort als diesem beinahe zerriss. Er war wie ein Becher voller Wasser, während sie am Verdursten war und nichts annehmen durfte. Sie musste weg hier.

Ob sie etwas abbekommen hatte, hatte er gefragt. Sie schüttelte stumm den Kopf und wollte die restlichen Bücher aufheben.

Er kam ihr zuvor. Schnell raffte er sie zusammen, und als sie die Arme ausstrecken und sie annehmen wollte, sagte er: „Nein, lass nur, ich kann sie für dich tragen. Lass es mich wieder gutmachen."

Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie würde nun wenigstens ein winziges „Danke" murmeln. Sie wagte es nicht. Aber er ließ nicht locker, er schien sie nun tatsächlich zum Sprechen bringen zu wollen. "Und ich habe dich wirklich nicht getroffen, du bist nicht verletzt?", fragte er noch einmal. "Mein Ellenbogen", erklärte er, „...er muss entweder gegen die Leiter oder gegen deinen Kopf gestoßen sein. Du kannst es mir sagen, ich kümmere mich darum."

Kümmern wollte er sich! Wie sehr konnte er sie mit so einfachen Worten berühren? Sie fühlte sich... umsorgt. Damit kam sie nicht zurecht. Besser, man war hart und kühl zu ihr, das würde sie leichter bewältigen. Diese Freundlichkeit und Besorgnis, die von ihm ausging, brachte ihre Schutzmauer, die sie sich seit gestern zugelegt hatte, mit jedem seiner Worte mehr ins Wanken.

„Es ist in Ordnung", sagte Luisa. „Sie kann nicht mit dir sprechen. Sie schweigt."

„Oh... das hätte mir auch selbst einfallen können." Es klang, als würde er sich ernsthaft für seine Gedankenlosigkeit schämen.

Luisa lachte und beteuerte, dass er nichts falsch gemacht habe. Sie schlug vor, er könne ihnen ja mit den Büchern helfen, sie müssten nach unten in den ersten Stock. „Wir bekommen Ärger, wenn wir uns nun nicht beeilen", erklärte sie ihm.


Er schien einverstanden. Er ging mit Luisa voran und Caterina folgte einige Schritte hinter ihnen. Sie fühlte sich benommen, ihr Kopf schmerzte. Im Gehen tastete sie ihr Gesicht ab, spürte den dumpfen Druck auf dem linken Wangenknochen. Als sie sah, dass er versuchte, sich mit dem Bücherstapel unter dem Kinn nach ihr umzusehen, nahm sie schnell die Hand vom Gesicht. Weitere Versuche machte er nicht, er schien nicht riskieren zu wollen, dass ihm die Bücher aus dem Arm rutschten.

Sie hätte Ewigkeiten so hinter ihm herlaufen können. Endlich konnte sie in Ruhe aufnehmen, was sie da vor sich sah. Es war eine Freude, ihn beim Laufen zu beobachten. Sie wünschte, die Zeit möge für sie anhalten, der Gang sollte lang und länger werden, das Treppenhaus kein Ende finden, der untere Gang endlos sein...

Sie starrte auf die Bewegung seiner Schultern, auf seinen Rücken, während er ging. Auf den überall haftenden Stoff seiner Tunika - und diese nassen Haare, die sich stark wellten,  die hintere Kante seines Ohres, hinter das er die Strähne gestrichen hatte, die ihm sonst vorn in die Stirn hängen würde...

Nicht den winzigsten Moment wollte sie sich entgehen lassen. Und sie fühlte sich ganz eigenartig - oder genauer gesagt: Sie hatte eigenartige Gedanken. Sie dachte daran, dass sie mit ihm lachen wollte, vertraut und offen. Sie wollte seine Stimme hören, wie sie klang, wenn er lachte. Seine Augen sehen, seinen Mund, wenn er von sich erzählte... Und sie wollte schmerzlich wissen, wie es gewesen wäre, für diesen einen Moment seine Hand nehmen zu dürfen, die Kraft dieser Schultern zu fühlen, während er sie vom Boden hochzog... Ihr Leben war offensichtlich an einem unguten Punkt angekommen, dass es ihr solche Freuden so gründlich verwehrte.

 Nichts währte ewig. Jede Treppe, jeder Gang mussten ihr Ende finden. Sie waren an der Tür stehen geblieben, wartend, um das Gebet der Novizinnen nicht zu stören. Niemand sagte nun mehr ein Wort, auch Luisa schien zu ihrer disziplinierten Haltung zurück gefunden zu haben.

Caterina wagte nicht aufzusehen oder sich zu rühren. Er stand direkt vor ihr, sehr dicht. Und sie fragte sich, ob sie dann wenigstens wünschen durfte, dass er mit Absicht so nahe an sie heran getreten war. Seine Hand, die den Bücherstapel stützte, berührte beinahe ihren Oberarm. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, sah ihn unter der nassen Tunika atmen. Er roch nach Sommerregen und nach etwas, das sie warm einhüllte und zugleich ihr Herz aufgeregt flattern ließ. Sie versuchte sich diesen Duft einzuprägen und wusste nicht, warum sie es tat. Oder doch, oh ja, sie wusste es. Sie wollte ihn mitnehmen heute Abend, zumindest mit ihren Sinnen.

Er sah auf sie nieder, die ganze Zeit, während sie warteten. Er hatte sich ihr vollständig zugewendet und blieb sehr dicht bei ihr. Und sie hatte das sichere, aufregende Gefühl, dass er genau wusste, wie nahe er bei ihr stand.

Das Gebet war zuende. Er drückte ihr die Bücher in die Arme. Er öffnete ihnen die Tür, stieß sie weit auf und trat gleichzeitig hinter die Wand zurück, so dass man ihn im Raum nicht sah.

Evelina stand von ihrem Platz auf und kam ihnen entgegen. Als die Tür geschlossen wurde, hatte Caterina das Gefühl, als hielte er ihr Herz noch in der Hand... es riss ihr ein Loch in die Brust, als die Tür zwischen ihnen zufiel. Mit einem hohlen, ziehenden Gefühl zwei Hände breit unter ihrem Hals setzte sie die Bücher auf dem Tisch ab und nahm die ersten vom Stapel, um sie zu verteilen.

Sie fühlte sich... gewandelt. Etwas war anders geworden in der letzten halben Stunde. Sie war entrückt. Unantastbar, erzaubert. Das Loch in der Brust konnte bleiben, dachte sie. Solange ihr Herz bei ihm war, war es besser aufgehoben als irgendwo sonst. Wo sie war, würde sie es sowieso nicht schützen können, man würde es ihr nur verletzen.

Als sie sich setzte, seufzte sie in Gedanken. Sie hatte tatsächlich nicht einmal zu ihm aufgesehen, die ganze Zeit nicht. Und sie hatte kein Wort zu ihm gesprochen... Der Regen rauschte vor dem Fenster. Er sollte ihm sagen, wie sehr er sie berührt hatte.

Ende Teil 44



Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro