Man steht uns bei

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Die nächsten Stunden verfolge ich den Unterricht einer dritten Klasse. Das ist gar nicht mal so uninteressant, es gibt doch ein paar Dinge, die ich vergessen habe. Vor allem in Sachkunde. Ich hätte doch glatt darauf geschworen, dass die Eibe ein Laubbaum sei und kein Nadelgehölz.

Die Sachkundelehrerin klingt nett. Per informiert mich flüsternd, dass dies auch seine Klassenlehrerin ist. In der Pause hat er sie bereits gefragt, ob er nach dem Unterricht kurz mit ihr sprechen kann und sie hat eingewilligt. Michelle hat das mitbekommen und ist sofort ins Gymnasium herübergeflitzt, um ihren Vater zu bitten, auf Per zu warten. Mir ist unklar, was Tobias gegen Michael und seine beiden Kinder einzuwenden hat; sie gehören zu den nettesten Menschen, denen ich je begegnet bin. Michael hat sogar gefragt, ob Per seine Hilfe braucht.

Irgendwann schreckt mich der Lärm einer sich auf zuhause freuenden Schulklasse auf. Für heute ist der Unterricht beendet und alle Kinder, bis auf Per und Michelle, veranstalten dem Geräuschpegel nach ein Wettrennen zum Bus. Ich frage mich plötzlich, wie es sein mag, wenn man gerne nach Hause kommt und dort liebevoll empfangen wird. Diese Erfahrung habe ich selbst nie gemacht. Und ich bewundere Nora dafür, dass sie Per dieses Gefühl vermittelt. Sie tut wirklich alles, was in ihrer Macht steht, um Per für seinen Vater zu entschädigen.

„So, Per, ich habe jetzt etwas Zeit für dich", die Stimme der Lehrerin klingt jetzt ganz nahe. „Komm gleich mit mir in mein Büro. Michelle, was ist mit dir?"

„Ich warte noch." Ich höre drei Paar Füße über den Flur trappeln. Dann wieder die sympathische Stimme der Lehrerin: „Nanu, Sie hier, Herr Kollege? Gibt es Probleme mit Michelle?"

Die ruhige, sonore Stimme von Michael antwortet: „Nein, ich warte nur auf Per; er fährt nachher mit uns."

„Oh, dann werden wir uns beeilen." Zwei Paar Füße tappen weiter und ein Stuhl schrappt; offenbar setzt sich Michelle neben ihren Vater.

Ein Tür klappt zu, zwei Stühle schleifen über Teppichboden, dann höre ich wieder die Lehrerin: „Nun, Per, du wolltest mir etwas sagen?"

„Ja – ich – naja ..." Per weiß wohl nicht, wie er anfangen soll.

Aber die Lehrerin hilft ihm. „Hast du Probleme mit den anderen Kindern?"

Das schreckt Per auf. „Nein – nicht richtig – also auch, aber -"

„Du kannst offen mit mir sprechen. Dein Vater hat mir am Elternabend bereits erzählt, dass er sich Sorgen macht, weil du so oft blaue Flecken hast. Per, es ist kein Petzen, wenn du mir erzählst, wer dir das antut. Und ich werde auch dafür sorgen, dass du keine Folgen zu fürchten hast, wenn du dich mir anvertraust."

„Ja, ich weiß, Frau Klamm. Aber – das ist nicht so -" Per stockt. Das wundert mich nicht. Pers Vater hat mit seiner angeblichen Besorgnis bereits dafür gesorgt, dass man seinem Sohn nicht glauben wird, wenn er sich an die Lehrer wendet.

Sag's ihr. Du musst sie überzeugen", dränge ich.

„Es ist Papa", platzt Per heraus. „Papa haut mich."

Frau Klamm seufzt. „Du hast Probleme mit deinem Vater? Er hat mir gebeichtet, dass ihm neulich die Hand ausgerutscht ist, als er beruflich stark eingespannt war und er wohl zu Hause nicht gleich abschalten konnte. Sowas sollte natürlich nicht vorkommen, aber es ist auch nicht immer zu vermeiden. Er hat mir versichert, dass er es bereut und so etwas nie wieder tun wird. Ich habe ihm damals geraten, mit dir darüber zu sprechen; hat er das nicht getan? Soll ich einmal mit euch beiden reden und zwischen euch vermitteln?"

In Pers Stimme klingt ein Schluchzen mit. „Sie glauben mir nicht."

„Natürlich glaube ich dir, Per, aber ich muss auch beide Seiten sehen."

Was sie sehen muss, ist dein Rücken!", fauche ich. „Dann wird sie garantiert anders reden!"

Per schluckt. „Frau Klamm, ist es denn in Ordnung, wenn Papas die Kinder hauen?"

„Nein, das ist es nicht und ich freue mich auch, dass du mit diesem Problem zu mir kommst und es nicht in dir begräbst. Darum biete ich dir ja an, zwischen euch zu vermitteln. Ich verstehe, dass es gerade bei einem so liebevollen Vater wie dem deinen ein gewaltiger Schock ist, wenn er auch einmal wütend wird."

Liebevoll? Der hat ihr ja ganz schön was vorgemacht", wüte ich. „Wahrscheinlich macht der das mit allen Außenstehenden. Das ist ein beliebter Trick von Schlägern, denn wenn sich dann die Opfer beklagen, bekommen sie nur zu hören, dass das einem so netten Menschen nicht zuzutrauen ist. Ich sage, du musst es beweisen, was er mit dir macht!"

„Liebevoll", wiederholt Per und ich höre, dass er aufsteht. „Ich hab gedacht, das ist richtig so, Frau Klamm. Aber jetzt sagt mir ein Freund, das ist nicht okay."

„Per, ich finde – was machst du denn da? Warum ziehst du deinen Pulli aus?" Einen Moment ist es ganz still. Dann höre ich wieder Frau Klamm: „Oh Gott, Per, das ist ja furchtbar! Wer um Himmels willen hat dir das angetan?"

Der liebevolle Vater", souffliere ich. Brav wiederholt Per: „Mein liebevoller Vater." Er legt zwar nicht den richtigen Sarkasmus in seinen Tonfall, aber Frau Klamm versteht ihn auch so.

Frau Klamms Stimme klingt völlig verstört. „Per, es tut mir so leid. Ich habe mich da wohl ganz schön täuschen lassen. Dein Vater ist immer so freundlich und zeigt sich sehr besorgt um dich. Deine Mutter habe ich nur einmal kurz gesehen, als sie dich abgeholt hat, und da schien mir auch alles in Ordnung zu sein."

„Mama ist auch sehr lieb. Aber Papa gar nicht. Er haut mich und er haut auch Mama."

„Meine Güte, Per ..." Frau Klamm ist offenbar völlig aus dem Konzept gebracht. Dann aber sagt sie entschlossen: „Da müssen wir auf jeden Fall etwas tun! Das willst du doch auch, oder? Ich werde nichts unternehmen ohne deine Einwilligung, du bist derjenige, der am meisten betroffen ist!"

„Ja ... ich glaube ..."

Du willst!", raunze ich ihn an. „Wenn du jetzt unsicher wirst, gehen die Heinis von der Schule und beim Jugendamt davon aus, dass du doch an deinem Vater hängst! Tust du das?" Ich weiß es von mir selbst, dass Kinder trotz allem, was ihnen die Eltern antun, sie noch immer lieben. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass selbst diese Kindesliebe irgendwann schwindet, wenn die Belastungen zu groß werden. Zurück bleibt dann oft nur noch ein Schuldgefühl wegen der fehlenden Liebe, welches stärker bindet als die ursprünglichen Gefühle.

„Nein!", ruft Per. Und dann: „Nein, ich will nicht, dass das so bleibt. Ich will weg von Papa, aber nur mit Mama zusammen!"

Ich höre Frau Klamm aufstehen. „Dann werde ich alles dafür tun, dass es auch so kommt", verspricht sie und öffnet die Tür. „Herr Kollege, würden Sie bitte kurz hereinkommen? Ich brauche Sie als Zeugen."

Michaels schwere Schritte nähern sich, dann wird die Tür zugeklappt. „Per, dreh dich bitte um", fordert sie den Jungen auf.

Ich nehme ein scharfes Einatmen wahr und dann Michaels nicht mehr ruhige Stimme: „Was für eine Sauerei!"

„Entschuldigung", kommt es ganz leise von Per.

„Nein, verdammt, du doch nicht! Ich meine den Mistkerl, der dir das angetan hat! Und vergiss bitte sofort, dass ich geflucht habe, als Lehrer darf ich das nämlich nicht."

„Sie glauben auch, dass man da sofort etwas unternehmen muss, nicht wahr?"

„Und ob. Per, wie lange geht das denn schon? Frau Klamm, sehen Sie sich mal diese Striemen an – das ist keine einmalige Sache. Die sind in verschiedenen Stadien der Heilung und darunter sieht man sogar Narben. Per, seit wann denn bloß?"

„Schon immer", schluckt Per. „Er sagt, das ist Erziehung."

„Das hat mit Erziehung nichts zu tun!" Schön, dass Michael meiner Meinung ist.

„Per sagt, dass seine Mutter auch geschlagen wird", informiert ihn Frau Klamm. „Wissen Sie etwas davon?"

„Leider nein – aber jetzt verstehe ich, warum die Mutter so schüchtern ist und es vermeidet, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Anfangs habe ich mich gefragt, ob sie kein Deutsch spricht, weil sie nur mit Per redet, aber dann habe ich gehört, dass sie Deutsch miteinander sprechen und es daran wohl nicht liegen kann."

Michael kramt in seinen Taschen herum. „Per, ist das in Ordnung für dich, wenn ich das fotografiere? Dann haben wir Bildbeweise dafür."

„Ja, machen Sie das bitte."

Eine Weile höre ich nur Schritte, das Klicken vom Handy und leise Anweisungen wie: „Halt mal deinen Arm mehr ins Licht!" Oder „Drehen Sie ihn so rum, damit man die Striemen hier gut sieht!" Dann schließlich erklärt Michael: „So, das sollte fürs erste reichen. Zieh dich bitte wieder an, Per, du musst ja frieren. Frau Klamm, wenn Sie mir Ihre Mail-Addy geben, werde ich Ihnen das Material gleich zukommen lassen. Als Klassen- und Vertrauenslehrerin sind Sie erst einmal zuständig, aber Sie dürfen mich jederzeit als Zeugen benennen. Und ich werde auch zusehen, dass ich mit Per und seiner Mutter ins Gespräch komme, immerhin sind wir ja Nachbarn. Scheiße auch, dass wir das nicht früher bemerkt haben!"

„Wir wohnen ja erst seit einem halben Jahr hier", bemerkt Per, aber das überzeugt Michael nicht. „Trotzdem!"

Auf dem Heimweg plappert Michelle unentwegt. Michael und Alexander kommen nur selten zu Wort, Per allerdings wird von Michelle immer wieder aufgefordert, dieses oder jenes Ereignis in der Schule zu bestätigen.

Ich horche auf, als Michelle erklärt: „Mit Sarah spiele ich nie wieder!"

„Jaja, und morgen seid ihr wieder beste Freundinnen", spottet Alexander gutmütig.

„Denkste! Sarah hat mir erklärt, dass ich mich nicht mit Losern abgeben soll und wenn ich das tue, dann bin ich auch einer. Sie meinte, sie hätte sich nur mit mir abgegeben, weil mein Vater Lehrer am Gymnasium ist und sie ihn vielleicht später bekommt und dann als meine Freundin bessere Noten kriegt. Ansonsten hätte sie nie mit einer Schwarzen gespielt. Aber wenn ich jetzt mit Per abhänge, dann lässt sie mich fallen!"

Nach einem Moment schockierten Schweigens reden alle drei Zuhörer gleichzeitig:

„Das ist vielleicht ne blöde Zicke!"

„An der hast du nichts verloren, Micki. Leute, die sich nur des Zwecks wegen mit dir befreunden, lassen dich früher oder später sowieso fallen. Dann am besten gleich."

„Dann häng nicht mit mir ab. Wenn deine Freundin mich nicht mag ..."

Michelle holt tief Luft. „Wusste ich doch, dass ihr dazu das auch sagt. Per, was soll ich mit so einer Kuh, die nur bessere Noten haben will? Papa achtet da sowieso nicht drauf, ob einer mit uns befreundet ist, sondern nur, ob die Antworten richtig sind. Das hat letztes Jahr ein Spezi von Alex auch versucht und das hab ich Sarah auch gesagt. Außerdem hab ich viele Freunde, auch ohne Sarah und die sind alle mehr wert als die!"

„Mein Papa hat auch sowas gesagt", murmelt Per. „Dass ich nicht mit Schwarzen spielen soll. Aber Mama sagt, das ist völlig egal, welche Hautfarbe einer hat und ich glaube meiner Mama mehr."

„Pfff, darauf geb ich schon lange nix mehr! Die Leute, die nur nach der Hautfarbe gucken, sind bloß zu doof, mehr zu sehen. Was soll ich mit so welchen! Ich will Freunde, mit denen ich spielen, lachen und reden kann und das geht nicht mit sone Deppen, die verstehen ja nix."

Ja, Michelles Selbstbewusstsein habe ich schon einige Male miterleben dürfen, wenn neue Kinder in die Straße gekommen sind und ich habe ihren Mut und ihre Schlagfertigkeit immer schon bewundert. Michael hat seine beiden Abkömmlinge großartig erzogen.

Michelle und Alexander steigen am zweiten Haus aus, Per fährt mit Michael weiter zur Tiefgarage, deren Ausgang dicht an Pers Haus ist. Als sie aus dem Wagen aussteigen, sagt Michael: „Per, ich werde dir nachher ein Handy kaufen und es dir morgen geben. Dann zeige ich dir auch, wie du Fotos und Filme machst. Versuch zu filmen, wenn dein Papa deine Mama schlägt, aber lass dich nicht erwischen, ja? Und sag auch deiner Mama, dass sie filmen soll. Je mehr Beweise wir haben, um so schneller bekommen wir euch von deinem Vater weg."

„Danke!", höre ich Pers atemlose Stimme. „Danke, dass Sie uns helfen. Und danke, dass Sie mir glauben!"

„Das hat seinen Grund, Per. Ich habe keinen Grund, deine Aussage anzuzweifeln, zumal deine Wunden und Narben sie sehr gut belegen. Das ist nicht erste Mal, dass ich so etwas sehe, allerdings so heftig wie bei dir habe ich das auch noch nicht erlebt.

Vor allem aber bin ich deinem Vater schon mehrmals begegnet. Und ich hatte dabei immer ein seltsames Gefühl. Du weißt es vielleicht nicht, aber dein Vater zeigt sich immer sehr freundlich und entgegenkommend, er spricht höflich mit allen und lächelt viel – aber seine Augen lächeln nicht mit. Mit mir hat er immer sehr nett gesprochen, aber er hat es geschickt vermieden, mir die Hand zu geben. Als du gemeint hast, dass er etwas gegen dunkelhäutige Menschen hat, hat mich das mich nicht gewundert. Das war ihm anzusehen, obwohl er versucht hat, es zu verbergen. Und solchen Menschen traue ich nicht. Da ist es mir lieber, wenn man mich offen meiner Hautfarbe wegen schmäht. Dann kann ich mich nämlich wehren."

„Tut mir leid", flüstert Per. „Das ist doof, wenn man immer erst gucken muss, wo die Leute herkommen, wenn man mit ihnen was machen will."

„Genau das ist es", stimmt Michael zu. „Und du musst dich nicht für deinen Vater entschuldigen. Ich bedanke mich bei dir, weil du diese Ansicht nicht übernommen hast."

Per schnieft. „Ich verstehe das eh nicht. Warum sind manche Leute Loser und andere nicht? Sarah sagt, ich bin ein Loser, aber warum?"

„Tja", sagt Michael bedächtig. „Das habe ich mich auch immer gefragt. Inzwischen habe ich es aufgegeben, diese Menschen verstehen zu wollen. Sie sind es nicht wert, dass man sich mit ihnen befasst, Per. Es ist nur eine Verschwendung von Zeit und Gefühlen, sie verstehen zu wollen. Glaubs mir, das ist die Sache einfach nicht wert."

Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro