Mein Sohn, der Versager

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„Isse dit?" Eddie unterbricht sich selbst in der Auflistung dessen, was es an unterschiedlichen Qualitäten im Holzgroßhandel gibt. Die Spiele, die wir als Kinder gespielt haben, haben wir bereits alle bezüglich Namen und Regeln verglichen; die Serien, die wir damals gesehen haben, durchgehechelt – Eddie will sich demnächst meine Ninjago-Fahrzeuge aus Lego ansehen und bringt mir dann eine Sammelfigur von Cole mit, welche er doppelt hat – und was an Berlin anders ist als an München haben wir auch schon erörtert. Eddie ist jetzt auch über die Supermärkte am Ort, die besten Restaurants und die Öffnungszeiten des Eisstadions informiert und ich weiß nun, welche Sehenswürdigkeiten und Currybuden in Berlin keinen Besuch wert sind.

Gut eine halbe Stunde haben wir auf der Treppe vorm Haus gesessen, uns unterhalten und den Kindern beim Spiel zugesehen. Michelle ist in der Zeit dreimal auf den blonden Jungen zugegangen, ist aber jedes Mal wieder umgekehrt. Einmal hat sie jemand gerufen, zweimal hat sie bemerkt, dass er zurückgewichen ist und hat den Annäherungsversuch achselzuckend wieder abgebrochen. Eddie hat das stirnrunzelnd beobachtet.

„Mit deene muss ick ma jutt verstehen", kommentiert er schließlich. "Ick kann dit nich mitankieken. Det Kleene muss in de Grupp eingebaut wern."

„Meinst du, das geht so einfach?" Als Kind wäre ich dankbar gewesen für einen Erwachsenen, der mir hilft, mich in die Klasse, den Sportverein oder einfach in die Kinder auf der Straße zu integrieren. Nun bin ich selbst erwachsen und traue mich immer noch nicht, auf Kollegen oder Nachbarn zuzugehen. Und das Unterfangen, einem Kind, noch dazu einem, welches ich selbst nicht kenne, dabei zu helfen, Freunde zu finden, erscheint mir ähnlich aussichtsreich wie der Versuch, eine Bowlingkugel auf einer Stecknadel auszubalancieren.

Eddie sieht das ganz anders. Er nickt energisch. „Du kennst doch dit Kleene, die vorhin aus der Hecke jesprungen is? Wenn die am Samstag hier abjeht, spälen wa beede ma Fußball und laden se zum Mitmachen ein. Und dit Goldlöckchen ooch. Spielste überhaupt Fußball?"

„Ja, etwas." Ich deute auf den Basketballkorb, der am Eingang zur Tiefgarage hängt. „Und auch Basketball. Ich glaube, das könnte sogar klappen."

„Dit klappt", sagt Eddie zuversichtlich. Und dann wenden wir uns wieder anderen Themen zu.

Jetzt kommt ein hellblauer Nissan um die Ecke gefahren und steuert direkt auf die Tiefgarage zu. Eddie muss mir etwas angesehen haben und fragt gleich: „Isse dit?"

„Mariann? Ja."

"Warum hat die een Tiefgaragenplatz und wa nich?"

„Weil die Anwohner der Parallelstraße sich mit uns die Garage teilen. Die Plätze werden ausgelost. Im nächsten Jahr wird hinter denen das Feld aufgerissen und komplett unterkellert, dann wird für uns auch was frei. Und die Kinder haben mehr Platz zum Spielen." Wenn meine Chefs bis dahin nicht allen Anwohnern ihr Eigentum abgeknöpft haben, wie es Eddie ausgedrückt hat.

„Mehr Platz, dit wär jut", Eddie reißt plötzlich die Augen auf, als Mariann jetzt ohne den Nissan aus der Tiefgarage zum Vorschein kommt. "Mann, sowat jibt et bei euch?"

Mariann kommt lachend und winkend auf uns zu. „Hallo, Kai, genießt du noch die letzte Wärme? Oder wartest du etwa auf mich?"

„Beides. Das hier ist unser neuer Nachbar auf der Etage, Eddie Moritz."

„Moritzke!", verbessert Eddie. „Bin Balina, wa?" Er steht auf und reicht Mariann die Hand. „Und Sie sind Mariann und führen die Unterschriftenliste für die Spielkinder hier?" Auf einmal ist er wieder zu Hochdeutsch umgeschwenkt.

„Sie wollen unterschreiben?" Mariann strahlt ihn an und Eddie ist sichtlich geblendet. Was mich nicht wundert. Mariann mit ihrer rotblonden, nicht zu bändigenden Mähne, den schimmernden braungrünen Katzenaugen und dem sonnengeküssten Koboldgesichtchen verzaubert schlichtweg jeden, ob Mann oder Frau. Mehr als einer meiner Kollegen hat mich bei ihrem Anblick gefragt, aus welchen Märchenwald ich diese Waldelfe ausgegraben habe.

„Ich habe alles bei mir droben, wir können es gerne nachher durchgehen. Finde ich großartig, dass Sie sich so schnell dafür entscheiden, uns zu unterstützen!"

Eddie kratzt sich am Kopf. „Sehe ich als Pflicht an. Komm hier reingefahren, hupe meinen Vordermann an, weil der beim Fahren fast einschläft und denn kommt da was aus der Hecke gehoppelt. Meinen Schrecken hab ich ein für allemal wech und bin nur froh, dass Kai vor mir gefahren ist."

„Oh, Kai, ist dir Michelle schon wieder vors Auto gesprungen?", will Mariann wissen.

Ich lache auf. „Genau die! Beim nächsten Mal nehme ich sie als Kühlerfigur, vielleicht hält sie dann still."

„Michelle? Kaum. Wenn sie die begraben, läuft der Sarg alleine zum Friedhof!" Wir schrecken alle drei zusammen, als mein Vater sich von der Tür aus meldet. „Wo bleibst du denn, Kai, das Essen wird ja kalt."

Das würde mich sehr wundern. Unsere Abendmahlzeit steht noch in Einzelteilen im Kühlschrank und auf der Küchentheke. Seit meinem zehnten Lebensjahr hat mein Vater keinen Kochtopf mehr angerührt.

Eddie kann das nicht wissen. „Schön, wenn man nach Hause kommt und dit Essen steht auf'm Tisch. Sie sind Herr Burger, nehme ich an? Mit Ihrem Sohn habe ich mich bereits angefreundet." Er streckt die Hand aus, die mein Vater flüchtig ergreift und gleich wieder loslässt.

„Eduard Moritzke, ich wohne gegenüber von Ihnen", fährt Eddie scheinbar ungerührt fort, nur ein Zucken im Mundwinkel verrät seine Verwunderung über das Verhalten meines Vaters.

Dem fällt allerdings doch ein, was man in solchen Fällen sagen sollte. „Dann willkommen im Haus und auf gute Nachbarschaft. Ganz recht, ich bin Thomas Burger und Kais Vater. Sie leben allein, haben Sie gesagt?"

„Noch", sagt Eddie sehnsüchtig. „Hätte nichts gegen Gesellschaft einzuwenden."

„Dann sehen Sie sich nur gut um", rät mein Vater ihm. „Im Haus gibt es so einige hübsche, alleinstehende Damen. Nicht zuletzt diese hier!" Er legt Mariann den Arm um die Schulter, was dieser offensichtlich nicht sehr zusagt. Behutsam macht sie sich los und errötet, als sie Eddies Blick sieht. Dem kommt das Verhalten meines Vaters wohl auch seltsam vor. Mir nicht, ich erlebe das schließlich ständig.

„Was sind Sie denn von Beruf?", erkundigt sich Vater. „Den Damen sollte man schon etwas zu bieten haben."

„Ich bin Verkaufsleiter im Holzgroßhandel", Eddie antwortet kühl und steif. Er verhält sich völlig anders als in der letzten halben Stunde. Vater hat öfters diese Wirkung auf Menschen.

„Oh, das ist sicher interessant", Mariann versucht wieder einmal, die Stimmung zu entspannen. „Ich arbeite da ja in einer völlig anderen Branche!"

„Unsere Mariann verteidigt straffällig gewordene Jugendliche", teilt Vater Eddie mit; er kann es nicht leiden, wenn nicht er das große Wort führt. „Ich würde die ja nach St. Adelheim schicken und einmal in der Woche durchprügeln, aber heute zutage fasst man die alle mit Samthandschuhen an. Da wird über die böse Kindheit gejammert und dass die ja alle noch so jung sind und dann soll alles vergeben werden. Wer alt genug ist, ne Straftat zu begehen, der ist auch alt genug, dafür zu sitzen. Aber Frauen liegt es nun mal im Blut, sich um böse Jungs zu kümmern. Schade, dass nicht viel rumkommt dabei, aber fürs Einkommen sorgt ja später der Mann. Sie werden sich auch eine Familie leisten können als Verkaufsleiter, nehme ich an. Anders als mein Sohn. Studiert Jura, wird Anwalt und bringt es in drei Jahren nicht einmal zum Juniorpartner!"

„Das wird ja auch nicht so einfach jeder!", verteidigt mich Mariann sofort. Ich sage nichts dazu. Wozu auch, Vater hört mir ja doch nicht zu.

„Und Kai wird seine Gründe haben, nicht in die Kanzlei als Partner eintreten zu wollen. Mir sind die Leute da auch suspekt."

„Quatsch, die packen nur richtig an und fackeln nicht lange!" Das hat mir Vater schon oft erklärt. Er ist es auch, der darauf gedrungen hat, dass ich den Job in ausgerechnet dieser Kanzlei annehme.

„Kai ist nur zu halbherzig und macht sich unnütze Gedanken, ob er dem Gegner vielleicht Schaden zufügt. Deshalb geben sie ihm ja keine großen Aufgaben; er macht sich ja schon in die Hose, wenn er eine Abmahnung wegen Raubkopien verschicken soll."

Vater weiß genau, dass ein Großteil dieser Abmahnungen ungerechtfertigt sind. Meine Chefs ebenfalls. Aber wenn es Geld einbringt, machen sie sich kein Gewissen draus. Ich schon. Ich habe nicht Jura studiert, um zu lernen, wie man das Recht bricht.

„Stellen Sie sich vor, er hatte mal die verrückte Idee, Staatsanwalt zu werden", teilt Vater Eddie mit. „Er hatte keinen Schimmer davon, dass man als Beamter, selbst als Staatsanwalt, nur mäßig besoldet wird. Und als Staatsanwalt muss man hart durchgreifen, das kann ein Weichling wie Kai doch gar nicht! Da müsste ich ihn ja bis zur Pension bei mir wohnen lassen und durchfüttern!"

Eddie sieht skeptisch zwischen mir und meinem Vater hin und her. Zweifellos ist er mit Vaters Vertraulichkeit überfordert. Mariann hingegen kennt das schon und lässt sich nicht mehr beindrucken. Das ist Vaters übliche Masche, um sich selbst großzutun und mich zu erniedrigen. Ich habe schon lange verstanden, dass er auf diese Weise verhindern will, dass ich Freunde finde. Warum er das tut, ist mir nicht klar. Und noch weniger, wie ich dagegen ankämpfen kann. In der Beziehung hat Vater recht: Ich bin ein Weichling.

„Ein Staatsanwalt ist doch nicht dazu da, Delinquenten zu verurteilen, das macht ein Richter", klärt Mariann meinen Vater auf, als hätte sie das nicht schon etliche Male gesagt. „Staatsanwälte sind Ermittler und treten vor Gericht nur auf, um die Ergebnisse ihrer Nachforschungen darzulegen. Ihr Job ist es nicht einmal, den Angeklagten auf Teufel komm raus ins Gefängnis zu stecken; sie sammeln ebenso entlastende Beweise."

Vater nickt grimmig. „So würde eine Frau oder ein Versager wie mein Sohn den Job sicher machen. Aber wir leben hier nicht im Traumland, Mariann, sondern in der harten Wirklichkeit und da muss ein Mann sich eben durchbeißen. Das wirst du auch noch lernen, wenn du älter bist und dann froh drüber sein, wenn du einen Partner hast, der im Leben seinen Mann steht. Kai wird es wohl nie verstehen. Der kann froh sein, dass er mich hat."

Eddie blickt Vater überaus zweifelnd an, sieht dann zu mir und schüttelt leicht den Kopf. Sieht so aus, als sei er nicht der Meinung, dass Vater mich sehr unterstützen würde. Das ist neu für mich; die meisten Menschen lassen sich von Vater beeinflussen.

„Ich habe jedenfalls Hunger", beendet Vater seinen Monolog, den er vermutlich für ein Gespräch hält. „Lass uns endlich hochgehen."

Gehen trifft aber nur auf Mariann, Eddie und mich zu. Vater nimmt natürlich den Aufzug. Was Eddie die Gelegenheit gibt, tief Luft zu holen und zu bemerken: „Mensch, kann der quatschen! Ist der immer so?"

„Leider", gibt Mariann zurück. „Er lässt Kai gar keinen Raum zum Atmen."

„Den Eindruck hatte ich auch", stellt Eddie fest und schlägt mir leicht die Hand auf die Schulter. „Kopp hoch, Kumpel. Kannste denn nicht ausziehen?"

„Die Wohnung gehört mir", das habe ich noch nie zugegeben. „Meine Mutter hat sie von ihrer Großmutter geerbt und mir vermacht. Und ich zahle auch die laufenden Kosten." Vater würde mir scharf über den Mund fahren, wenn er das hören könnte und sogleich erklären, dass ich mir etwas zusammenspinne. Ich weiß auch nicht, woher ich plötzlich den Mut nehme, das laut auszusprechen.

„Den Haushalt macht er auch", ergänzt Mariann. „Sein Vater bringt nur ab und zu den Müll raus und jammert dann jedem im Haus vor, dass sein Sohn nicht mal das für ihn tut. Aber ich habe Augen im Kopf und ich sehe, dass es Kai ist, der die Arbeit tut und nicht sein Vater!" Sie wendet sich zu mir. „Dass es deine Wohnung ist, wusste ich gar nicht. Dein Vater tut immer so, als würdest du von seiner Rente leben und bei ihm wohnen, weil du dir keine eigene Wohnung leisten kannst."

Eddie schüttelt fassungslos den Kopf. „Das sind vielleicht Zustände bei euch. Kai, setz deinen Alten vor de Türe! Je schneller, desto besser."

Ich bin gerade zwei Stufen unter Eddie und muss zu ihm aufsehen, um sein Gesicht bei diesen Worten erkennen zu können. Hinter Eddies Kopf erkenne ich die Nische, in der Frau Hartmann ihre künstlichen Palmen aufgestellt hat. Inzwischen hat die Dämmerung eingesetzt, wir haben kein Licht im Treppenhaus gemacht und insofern ist die Nische abgedunkelt.

In dem Schatten an der hinteren Wand wird eine Fratze sichtbar, die mir die Zunge herausstreckt. Und ich höre die höhnischen Worte: „Trau dich doch!"

Ich versuche sofort, meine Miene erstarren zu lassen. Mariann und Eddie sollen mir den Schrecken nicht anmerken; sonst halten sie mich auch noch für verrückt. Nur mühsam gelingt es mir zu antworten: „Das schaffe ich nicht. Er ist doch mein Vater."

Eddie zuckt die Schultern. „Ehrlich, Kai, bei so nem Vater isses besser, Waise zu sein. Überlegs dir mal. Wenn du soweit bist, ihn rauszuwerfen, komm ich und pack mit an!"

Ums Haar wären mir die Tränen gekommen. Eddie kennt mich gerade mal eine Stunde und steht bereits voll und ganz auf meiner Seite. Sowas habe ich noch nie erlebt. Allerdings haben mich schon einige Leute ermuntert, mich etwas mehr gegen meinen Vater zu behaupten. Sie alle haben ihre Meinung geändert, wenn sie längere Zeit mit Vater gesprochen haben.

Warum sollte es Eddie anders gehen?

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