31 | E M M A

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Ich lehne an dem alten Holztürrahmen. Mein Herz schlägt. So laut, dass ich es hören kann. Und doch fühle ich mich wie tot. Innerlich leer. Wie so oft in diesen Momenten. Wenn meine Erinnerung mich dazu zwingt, diesem Mädchen - mir - ins Gesicht zu blicken. In meinen Augen bilden sich Tränen, die ich genauso wie damals mit einer unsanften Handbewegung wegwische. Ich will sie nicht haben. Genauso wie diese Erinnerungen, die in mir Emotionen hervorrufen, die ich nicht zulassen darf.

Ich bin nicht mehr dieses kleine Mädchen. Ich bin eine erwachsene Frau. Es bringt nichts, sich an etwas aufzuhalten, dass ich sowieso nicht ändern kann. Denn es führt nur dazu, dass ich mir diese eine Frage stelle.

Eine, die mir niemand beantworten kann.

Als mein Blick wieder klarer wird, sehe ich sie. Zoé. Seitdem Charlotte sie vor ein paar Tagen aufgenommen hat, geht mir dieses neunjährige Mädchen mit den schwarzen Locken nicht aus dem Kopf. Mit angezogenen Beinen sitzt sie auf der breiten Fensterbank und starrt ins Leere.

Ich würde ihr so gerne helfen. Ihr zeigen, dass sie nicht allein ist, aber sie redet mit niemandem. Die blauen Flecken, die ihre Lehrerin dazu animiert haben, sie aus dieser Hölle zu holen, sprechen jedoch eine eindeutige Sprache.

Ich wünschte, es gäbe mehr von ihnen. Menschen, die Kindern nicht bloß den vorgegebenen Stoff ins Hirn prügeln, sondern Lehrer wie Misses Evans. Die sehen, wenn es einem Kind schlecht geht. Die helfen, anstatt die Schuld bei diesem kleinen Menschen zu suchen, der sich nicht wehren kann.

Zoé rührt sich nach wie vor nicht. Alles, was sie besitzt, trägt sie am Körper oder es befindet sich in ihrem Rucksack, der ordentlich neben dem Schreibtisch steht. Doch das ist zweitrangig. Wichtig ist, dass sie nicht mehr zurückmuss. In eine Familie, die keine ist. Ein Zuhause findet, in dem sie sich sicher und geborgen fühlen kann. Dass sie endlich das sein darf, was sie ist.

Ein Kind.

Sie soll herzhaft lachen können. Sowie die anderen, wenn wir uns bei Spielen wie ›Was ist es?‹ regelmäßig zum Affen machen. Aber auch weinen dürfen, ohne Angst zu haben, dafür bestraft zu werden. Vertrauen fassen.

»Vielleicht kannst du ihr ja dabei helfen.«

Langsam drehe ich mich um und versuche dabei, meinen erschrockenen Gesichtsausdruck loszuwerden. »Ich? Ich meine ... das ...« Ich schlucke, doch Charlotte lächelt mich weiterhin an.

»Wenn es jemand schaffen kann, dann du.«

Es bedeutet mir viel, dass sie an mich glaubt. Allerdings bürgt es mir auch eine Last auf. Wie soll ihr das beibringen, wenn ich es selbst nie gelernt habe? Ich kann das nicht. Gedanklich setze ich einen neuen Punkt auf meine Liste. Wenn das so weitergeht, brauche ich bald eine Klopapierrolle dafür.

Mein Blick wandert erneut zu Zoé. Sie scheint nach wie vor so in ihrer eigenen kleinen Welt versunken zu sein, dass sie um sich herum nichts wahrnimmt. Ich entferne mich von der Tür und begebe mich zur Treppe.

Leider höre ich kurz darauf Schritte hinter mir, woraufhin sich meine beschleunigen. Dabei sollte ich inzwischen gelernt haben, dass ich weder vor Tom noch vor Charlotte davonlaufen kann. Sie bedrängen mich nicht. Aber gerade das ist das Problem.

Auch jetzt hält sie den nötigen Sicherheitsabstand, während sie mir mit leisen Schritten folgt. Bestimmt hat sie dabei wieder dieses Lächeln im Gesicht. Es ist nicht besonders breit, aber dafür gütig und vor allem nicht aufgesetzt. Und es bringt mich dazu, mich auf der untersten Stufe zu ihr umzudrehen. »Charlotte ...« Ich hole tief Luft. »... es ehrt mich wirklich sehr, dass du glaubst ...«

»Ich glaube es nicht nur. Ich weiß es«, unterbricht sie mich mit so viel Ruhe und Zuneigung in ihrer Stimme, dass es mich beinahe wahnsinnig macht.

Mit aller Macht versuche ich ihrem Blick zu entkommen. »Wir sollten das einem Profi überlassen.« Ich bin vielleicht Erzieherin, aber meine Kenntnisse reichen gerade mal dafür Kinder abzulenken. Mit ihnen zu malen, zu basteln, zu spielen. Zoé wird das nicht helfen. Sie braucht jemanden, der sich damit auskennt. Der professionell genug ist, um an sie heranzukommen und dabei trotzdem den nötigen Abstand wahrt.

Dieser Jemand bin ich einfach nicht.

Meine Augen wandern zur Eingangstür. Am liebsten würde ich dieses Haus, in dem ich mich sonst so wohlfühle, auf der Stelle verlassen. Doch der Arbeitstag ist noch nicht zu Ende, sodass ich mich entscheide zu bleiben. Alles andere wäre höchst unprofessionell.

»Und ich denke, wir sollten das in Ruhe besprechen«, meint sie sanft, aber in einem Ton, der mich nur leise seufzen lässt, bevor ich ihr zu ihrem Arbeitszimmer folge.

So oft habe ich in den vergangenen Wochen mit ihr in diesem kleinen Raum gesessen. Auch wenn Charlotte meine Chefin ist, bezieht sie mich in all ihre Entscheidungen mit ein. Egal, ob es dabei um banale Dinge wie die Essens- und Freizeitplanung geht, oder aber um weitreichende Entscheidungen. Oft habe ich Schwierigkeiten, meine Meinung ihr gegenüber zu äußern, weil ich glaube, meine Ideen wären nicht gut genug. Genauso wie ich mich bisher nicht getraut habe, sie nach ihrem Beruf zu fragen. Obwohl es mich interessiert, woher sie all das über die psychischen Mechanismen unseres Gehirns weiß.

Mein Blick wandert von der Schreibtischplatte nach oben, bevor ich die Frage stelle, die mir schon die ganze Zeit auf den Lippen brennt. »Wie kannst du dir da so sicher sein?« Ich räuspere mich und richte meine Augen wieder auf das dunkle Holz.

»Weil gemeinsame Erfahrungen helfen können, den anderen besser zu verstehen.«

Fast schon hysterisch lache ich auf und fasse mir an den Hals. »Also manchmal machst du mir wirklich Angst.«

Doch sie lächelt erneut. »Glaub mir, mein Kind. Das haben schon einige zu mir gesagt.«

Einige? Ob damit auch er gemeint ist? Die ganze Zeit über mache ich mir schon Gedanken darüber, in welcher Verbindung die beiden stehen. Aber weder Tom noch Charlotte verlieren darüber nur ein einziges Wort. Geholfen hat sie ihm. Dabei erscheint mir dieser Mann nach wie vor nicht so, dass er Hilfe brauchen, geschweige denn sie annehmen würde.

»Was ist, wenn ich es nur noch schlimmer mache?« Es ist ja noch nicht mal klar, was Zoé genau passiert ist. Wir wissen nichts über ihre Eltern. Außer, dass sie aus einem recht guten Stadtteil kommen und natürlich sämtliche Vorwürfe abstreiten. Es war für Misses Evans bestimmt nicht angenehm, dass sie ihr noch am selben Tag gedroht haben. Dennoch bin ich froh darüber. Manchmal zeigen Menschen eben doch ihr wahres Gesicht, wenn auch nur für einen Moment. Zum Glück haben die abfälligen Äußerungen und die Gewaltbereitschaft des Vaters gereicht, um Zoé vorerst eine Rückführung zu ersparen. Und ich hoffe wirklich, das bleibt auch so.

Leider lässt Charlotte sich nicht beirren. »Wovor hast du Angst?«, will sie wissen, ohne meine Frage zu beantworten.

Wieder lache ich. »Ich ... habe keine Angst! Es geht mir doch dabei um Zoé! Sie hat genug mitgemacht. Da braucht sie bestimmt keine dahergelaufene Möchtegernpädagogin, die ihr die Welt erklärt.« Charlottes Nicken lässt mich hoffen, dass das Gespräch beendet ist, weshalb ich schnell aufstehe. »Ich gehe dann mal. Vielleicht benötigt Martha noch Hilfe in der Küche.«

»Wieso redest du dich selbst so klein?«

Ihre Frage lässt mich an der Tür innehalten. »Tue ich doch gar nicht«, erwidere ich, ohne mich umzudrehen, was sie dazu veranlasst von ihrem Stuhl aufzustehen. Jeden Einzelnen ihrer Schritte höre ich. Ich hätte doch abhauen sollen, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Ich und mein verfluchtes Pflichtbewusstsein.

»Du bist gut, in dem, was du tust, Emma. Sehr gut sogar. Und es ist an der Zeit, dass du das selbst erkennst.« Sie macht eine Pause, lässt mich dabei jedoch nicht aus den Augen. »Du hast recht. Wir wissen nicht, was Zoé widerfahren ist, aber wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann kannst du diejenige sein, die sich Zutritt in ihre Welt verschaffen kann.«

»Ach ja? Was vermutest du denn?«, frage ich mit in die Hüfte gestemmten Händen.

»Missbrauch.«

Ich schnappe nach Luft. »Da täuschst du dich. Ich habe keinerlei Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch. Dementsprechend wüsste ich auch nicht, wie ausgerechnet ich ihr helfen soll.« Beides entspricht absolut der Wahrheit. Meine Kindheit war nicht immer die tollste, aber das ist mir erspart geblieben.

Charlotte fixiert mich weiterhin mit ihrem Blick. Wenn das so weitergeht, verlasse ich doch schreiend dieses Haus. »Wer redet denn davon?«, stellt sie wieder ihre obligatorische Gegenfrage und jetzt verstehe ich gar nichts mehr. »Es gibt nicht nur diese eine Form von Missbrauch, auch wenn viele Menschen sofort an etwas Sexuelles denken, wenn sie dieses Wort hören. Es gehört definitiv dazu, doch Kindesmisshandlung hat viele Gesichter. Vernachlässigung, körperlicher Missbrauch und eben auch emotionaler Missbrauch. All diese Dinge haben weitreichende Konsequenzen für einen jungen Menschen. Folgen, die er oft noch weit bis ins Erwachsenenalter spürt, wenn er sich mit dem, was passiert ist, nicht auseinandersetzt.«

»Emotionaler Missbrauch?« Ich bin immer noch so perplex, dass mir nicht in den Sinn kommt, sie zu fragen, warum sie glaubt, dass ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe. Mir selbst war das bis jetzt nicht mal klar, weil ich eben auch einer dieser Menschen bin, die dieses Wort automatisch mit etwas Sexuellem in Verbindung gebracht hat. Angestrengt krame ich in meinem Gehirn, ob ich etwas Derartiges in meiner Ausbildung gehört habe. Doch entweder ist das tatsächlich nicht der Fall gewesen oder ich habe es verdrängt.

Wie so vieles.

Als Charlotte nickt, komme ich mir jedenfalls richtig dumm vor. Doch sie schenkt mir erneut ein gütiges Lächeln. »Täter nutzen ihre Machtposition gegenüber ihren Opfern aus, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen«, betont sie, »in der Regel betrifft dies Kinder. Es kann aber auch in jedem anderen Abhängigkeitsverhältnis stattfinden. Wie etwa in einer Beziehung. Egal, ob nun sexueller oder beruflicher Natur. Um mal zwei Beispiele zu nennen. Emotionaler Missbrauch kann, muss aber nicht mit körperlicher Gewalt einhergehen. Verheerend ist beides. Es wirkt wie eine Gehirnwäsche und kann das Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und vor allem das Selbstwertgefühl des Opfers in erheblichem Maße beeinträchtigen.«

Ich bin sprachlos. Wirklich. Mit halb offenem Mund starre ich Löcher in die Luft, während ihre Worte in meinem Kopf kreisen, sodass mir schwindelig wird.

»Ich werde ... es versuchen«, sage ich nach einer gefühlten Ewigkeit, obwohl mir immer noch unwohl dabei ist.

Charlotte scheint das zu merken. Vorsichtig legt sie mir erneut ihre Hand auf die Schulter, bevor sie etwas sagt, dass ich noch nie zuvor von einem anderen Menschen gehört habe. »Ich bin stolz auf dich.«

* * *

Wie so oft in den letzten Tagen sitze ich an der Küchentheke und recherchiere. Neben dem Laptop steht eine Tasse Milchkaffee, der inzwischen kalt sein dürfte. Fasziniert und gleichzeitig geschockt von den ganzen Erkenntnissen, die ich bisher gewinnen konnte, klebt mein Blick an dem Bildschirm. Charlotte hatte recht. Mit allem, was sie gesagt hat. Um ehrlich zu sein, muss ich erst mal damit fertig werden. Bisher habe ich all diese Dinge als strenge Erziehung abgetan. Damals war es eben normal, dass man einen Klaps auf den Hintern oder später eine Ohrfeige bekam. Niemals hätte ich für möglich gehalten, was dahintersteckt.

Missbrauch.

Es ist nur ein Wort, aber es schwirrt unentwegt in meinem Kopf herum. Es sorgt dafür, dass ich mich schlecht fühle. Obwohl ich das laut der schlauen Aussage von Google nicht sollte. Experten raten Betroffenen zu einer Therapie. Das kommt für mich allerdings nicht infrage. Damals wollte mir niemand helfen und inzwischen will ich es nicht mehr.

Nein. Ich sollte Zoé helfen. Bei ihr ist es noch nicht zu spät. Sie wird sich zwar ebenfalls immer daran erinnern, aber wenn sie jetzt andere Erfahrungen macht, können die ihr vielleicht dabei helfen, sich zu öffnen.

Sich mir zu öffnen, wenn es nach Charlotte geht.

Ich weiß nach wie vor nicht, wie ich das anstellen soll, aber ich werde es versuchen. Selbst, wenn mich meine eigenen Erinnerungen seit diesem Tag immer mehr einholen. Dabei sollte ich mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. »Das ist es!«, rufe ich aus und merke erst zu spät, dass ich nicht allein bin.

Mit einem dreckigen Grinsen schaut John von der Couch zu mir. »Was ist, Blondie? Hast du mal wieder eine neue Diät entdeckt? Bringt doch sowieso nichts bei dir.«

Bei seinen Worten kommt mir wieder das in den Sinn, was ich, seitdem ich diesen Artikel über toxische Beziehungen gelesen habe, mit aller Macht verdränge. »Ich muss noch mal los«, sage ich, werde aber von ihm an der Tür aufgehalten.

John verdreht die Augen und stöhnt. »Sag bloß, du arbeitest jetzt auch schon am Wochenende? Das mir das ja nicht zur Gewohnheit wird.«

Beinahe bin ich versucht ihm zu sagen, dass ihn das all die Jahre auch nicht gestört hat. Doch ich verkneife es mir und öffne stattdessen schnell die Tür, um mich von ihm mit einem: »Dauert nicht lange«, zu verabschieden.

Als ich eine Stunde später zaghaft die Tür zu ihrem Zimmer öffne, sitzt Zoé auf ihrem Bett. Neben ihr liegt ein Buch. Welches es ist, kann ich von hier nicht erkennen.

Mein Blick fällt auf die Tüte, die ich fest umklammert habe. Vielleicht ist meine Idee doch nicht so gut, wie ich anfangs dachte. Nur weil es mir damals geholfen hat, heißt das ja noch lange nicht, dass es auch bei ihr funktioniert. Bestimmt mag sie keine Einhörner oder Katzen. Sie ist schließlich schon neun und wenn ich meiner – ich sollte dringend ein passendes Wort für diese Frau finden – glauben soll, ist sie längst zu alt für Kuscheltiere und so einen Kinderkram.

Tief atmend, nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe mit leisen Schritten auf sie zu. »Was liest du denn da Schönes?«, versuche ich wie in den letzten Tagen ein Gespräch aufzubauen. Auch diesmal mit mäßigem Erfolg.

Sie sieht zwar kurz zu mir hoch und nimmt ihre Hand weg, eine Antwort bekomme ich jedoch nicht.

Auf einer Seite entdecke ich ein Bild aus dem Weltall und frage mich, welches neunjährige Mädchen sich für die Wissenschaft interessiert. Dabei sollte mich das nicht wundern. »Magst du die Sterne?«, frage ich weiter und bekomme dafür diesmal ein kaum merkliches Nicken, das erneut Zweifel in mir aufkommen lässt.

Vielleicht hätte ich lieber Sterne statt Einhörner wählen sollen. Doch hinterher ist man immer schlauer. Nein. Ich darf mich davon nicht beirren lassen.

Du kannst alles schaffen, wenn du nur daran glaubst.

Immer wieder sage ich mir im Stillen diese Worte, die erst gestern aus Charlottes Mund kamen, um mich zu trösten, nachdem ich an Zoés meterdicker Mauer mal wieder gnadenlos gescheitert bin. Diesmal werde ich jedoch nicht so schnell aufgeben.

»Darf ich?«, frage ich und könnte die Welt umarmen, als sie ein Stück zur Seite rutscht. Das ist ein Anfang. Eine kleine Annäherung.

»Ich habe dir ...« Meine Hand wandert in die Tüte. »... etwas mitgebracht.« Es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber wenn sie sich hier schon verstecken will, sollte dieser Raum wenigstens freundlich sein. Natürlich hat Charlotte sich bei auch bei der Gestaltung der Schlafzimmer ebenfalls immer alle Mühe gegeben. Überall hängen kleine Regale, auf denen sie ihre persönlichen Dinge platziert haben. Bei Paul sind das seine geliebten Fußballkarten, wohingegen Ashley sie für ihre Lippenstifte und Bilder ihrer besten Freundin nutzt. Zoé hat all das nicht. Deshalb wird es Zeit, dass wir diesem Raum ihre persönliche Note verleihen.

»Ich hoffe, du magst Einhörner.« Langsam entfalte ich das steife Papier, woraufhin sie erneut ihren Kopf zu mir dreht. »Ich mag am liebsten die kleinen pummeligen. Die weißen, mit der Regenbogenmähne, die die ganze Zeit Kekse essen. Die sind echt niedlich. Kennst du die?«, rede ich einfach drauf los, ohne darüber nachzudenken, wie lächerlich ich mich damit mache. Erneut wandert meine Hand in die Tüte, aus der ich eine Packung Posterstrips ziehe. »Was meinst du? Sollen wir es gemeinsam aufhängen?«

Diesmal bekomme ich keine Reaktion und mache mir dafür in Gedanken eine Notiz.

Lichterkette.

Nicht weil ich mir ihre Aufmerksamkeit erkaufen möchte, sondern, um ihr eine Freude zu machen. Und wenn wir wirklich so viel gemeinsam haben, wie Charlotte behauptet, wird sie ebenfalls Angst im Dunklen haben. Und wenn sie Sterne wirklich mag, könnten die sanften Lichter sie beruhigen. Wenn ich es könnte, hätte ich eine Menge davon in sämtlichen Räumen.

Vorsichtig stehe ich auf und begebe mich zur gegenüberliegenden Wand, an die ich das Poster halte. »Was meinst du? Würde es hier gut hinpassen?«, frage ich sie, ohne die Hoffnung auf eine Antwort.

Ihr kurzes Nicken reicht mir jedoch, um mich sofort ans Werk zu machen. Da ich handwerklich noch nie besonders geschickt war, dauert es eine Weile, bis das Poster an der Wand bleibt. Dennoch versuche ich, nicht zu fluchen und bewahre die Ruhe, damit Zoé nicht den Eindruck hat, dass ich genervt bin.

Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber, als ich endlich fertig bin, meine ich eine kleine Regung in ihrem Gesicht erkennen zu können. Der Ansatz eines Lächelns, das mich genug Mut für Phase zwei schöpfen lässt. Ich weiß nicht so genau, wieso ich mich ausgerechnet für diese Katze aus dem Film Pets entschieden habe. Es war einfach eine reine Bauchentscheidung. Etwas, das ich ehrlich gesagt schon lange nicht mehr getan habe, weil ich mich seit jeher lieber auf meinen Verstand, als auf meine Intuition verlasse.

Vielleicht habe ich aber auch ein Faible für Kinderfilme. Besonders Disney Filme sind mein absoluter Favorit. Ja, ich schaue sie gerne! Vor allem Cinderella liebe ich einfach und freue mich jedes Mal am Ende, dass sie ihr Glück mit dem Prinzen findet und er mit ihr. Natürlich weiß ich, dass es nur ein Märchen ist und dementsprechend nichts mit der Realität zu tun hat.

»Wenn ich früher traurig war«, beginne ich, nachdem ich mich erneut mit ausreichendem Abstand zu ihr aufs Bett gesetzt habe, »dann ... hat es mir immer geholfen, dass ich jemanden hatte, den ich in den Arm nehmen konnte. Und manchmal da ...« Die Bilder, die wie auf Knopfdruck in meinem Kopf auftauchen, lassen mich kurz innehalten. Ja. Es ist wirklich schwer, zu jemandem Nähe aufzubauen und dabei den Abstand zu wahren.

Mit einem leisen Atemzug sauge ich Luft in meine Lungen und öffne meine Augen wieder. Dabei fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit an den Ohren des Stofftiers herumspiele. So wie ich es früher immer bei meinem Teddybären gemacht habe. »Da hat es mir auch geholfen, wenn ich jemanden hatte, der mir einfach nur zu hört«, flüstere ich und atme erleichtert aus.

Zoé dreht erneut ihren Kopf zu mir. Ihre fast schwarzen Augen wandern zu der grauen Katze auf meinem Schoß, was mich dazu veranlasst, sie ihr entgegenzuhalten. »Sie gehört dir.«

»Danke.«

Es ist nur ein Wort, welches sie dazu noch kaum hörbar ausspricht, nachdem sie das Stofftier vorsichtig an sich genommen hat. So als wüsste sie nicht, ob sie einen Fehler macht. Mir bedeutet es jedoch die Welt, zum ersten Mal ihre schöne Stimme zu hören. So sehr, dass ich für einen Moment selbst nichts sagen kann. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber ich freue mich gerade wie ein Schneekönig ... Pardon Königin über diesen Erfolg. Am liebsten würde ich diesen kleinen Lockenkopf umarmen. Ihr sagen, dass sie nicht allein ist. Ich für sie da bin. Immer.

Doch das würde sie überfordern.

Immer noch mit meinen Emotionen kämpfend, schenke ich ihr ein Lächeln. »Gern, meine Kleine.« Ich spiele an meinen Händen. »Sie heißt Chloe ... fast so wie du. Aber du darfst sie natürlich nennen, wie du willst.«

Inzwischen ist Zoé diejenige, die an dem Fell des Stofftiers herumspielt. Sanft streichelt sie darüber, so als würde es sich um ihr Haustier handeln. Tiere haben auf Kinder meist eine positive Wirkung. Sie lernen, Verantwortung zu tragen, und können in ihnen einen wahren Freund finden. Leider ist dies der einzige Wunsch, den Charlotte ihren Schützlingen nicht erfüllen kann. Eine Tierhaarallergie, die nicht bloß Jucken, sondern bereits einen Erstickungsanfall ausgelöst hat, hindert sie daran.

»Du strahlst ja richtig«, empfängt sie mich am Treppenaufgang, während ich leichtfüßig die Stufen nach unten nehme.

»Sie hat mit mir gesprochen«, erwidere ich immer noch mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, woraufhin sich auch Charlottes Mundwinkel sofort nach oben ziehen.

»Das ist großartig!«

Es überrascht mich, dass sie plötzlich ihre Arme um mich legt. Charlotte ist keinesfalls ein Mensch, der Körperkontakt scheut, doch bisher waren es eher kleine Gesten, mit denen sie mir ihre Zuneigung gezeigt hat. Um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, lege ich meine Arme ebenfalls auf ihren Rücken. »Ja. Das ist es.« Ich spüre es. Wir sind auf einem guten Weg.

Gemeinsam.

»Jetzt wird alles gut«, sage ich, nachdem ich mich wieder von Charlotte gelöst habe, ohne eine Ahnung zu haben, welch harte Prüfung sich das Leben als Nächstes für mich ausgesucht hat.

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