1 - Schmerzliche Abschiede

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"Wer in die Wüste geht und wiederkehrt, ist nicht mehr derselbe."

✶✶✶

Das Kamel starrte mich an, als hätte ich es beschimpft, dabei waren meine Lippen wie das Grab des letzten Sultans versiegelt. 

Es liess ein zorniges Grummeln hören, das verdächtig nach „Verschwinde, oder ich zertrample dich gleich!" klang. Ganz unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Man würde mich fesseln und knebeln müssen, um mich auf diesen Höcker zu zwängen. Ich war doch nicht lebensmüde!

„Nein", flüsterte ich und tippte meiner Grossmutter auf die Schulter. Die war allerdings noch immer in das Gespräch mit dem Kamelführer vertieft und würdigte mich keines Blickes. Ihr schwarzes Gewand, das ihr von Kopf bis Fuss reichte, wehte sanft in der Wüstenbrise.

„Folgt Altair während sieben Nächten, bis der Mond in seiner Halbsichel steht", sprach sie auf den Mann ein, welcher ihr ziemlich unbeeindruckt zuhörte. „Dann werdet ihr die Oase nicht verfehlen."

Ich verdrehte die Augen. Meine Vermutung war, dass jeder Kamelführer in Kesh die Sterne lesen und den hellsten davon im Adler erkennen konnte, aber meine Grossmutter vertraute niemandem — besonders den Männern nicht. Sie tragen den Kopf nicht an der richtigen Stelle, sagte sie immer.

„Wir werden den Weg schon finden", grummelte der Kamelführer. „Heute Nacht brechen wir auf. Wählt weise Abschiedsworte für eure Enkelin."

Meine Grossmutter nickte, diesen ernsten Ausdruck im Gesicht, wie ich ihn schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. „Rastet nur unter freiem Himmel." Es klang mehr wie eine Aufforderung, als eine höfliche Bitte.

„Keine Bäume, schon klar."

Er spuckte auf den Boden und drehte den Kopf in meine Richtung. Ich spürte seinen Blick auf mir. Wie es sich gehörte, senkte ich die Lider und schob den Zipfel meines Kopftuches über die untere Gesichtshälfte. Meine Grossmutter legte ihren Arm um meine Schultern, als wolle sie mich vor seinen bösen Gedanken schützen.

„Wenn meine Enkelin nicht in Jaradin ankommen sollte, werde ich es wissen. Die Winde flüstern mir alles zu, was in der Wüste geschieht."

Obwohl ich es nicht sah, wusste ich, dass ihre Augen schamlos auf ihn geheftet waren, ihn festnagelten, als wolle sie sichergehen, dass er sie verstanden hatte. Sitty scherte sich nie um die Gepflogenheiten der nomadischen Kasbahra. Vermutlich weil sie selbst nicht der Wüste entstammte. Sie war eine Blume des Nordens. Aus einem Land, das weit jenseits des smaragdgrünen Ozeans lag.

„Der restliche Anteil von dem hier", fügte sie an und reichte ihm einen Lederbeutel voller Dinaren, „werdet ihr in Jaradin von ihren Eltern erhalten."

Der Kamelführer riss ihr den Beutel aus der Hand, linste hinein und band ihn, nachdem er den Inhalt für angemessen befunden hatte, an seinen Ledergurt.

„Wir ziehen bei Anbruch der Dämmerung los", war alles, was er noch sagte. Dann drehte er sich um. Seine Karawane musste vorbereitet werden. Er entfernte sich von uns und bellte seinen Männern irgendwelche Befehle zu.

„Sitty", sagte ich und zog fester an ihrem Gewand, damit sie mir endlich Aufmerksamkeit zollte.

Die blaugrünen Augen richteten sich auf mich. Ihre Gesichtszüge wurden sanfter, als sie mir ein Lächeln schenkte. Ich liebte das Gesicht meiner Grossmutter, weil es so voller Leben war. Ihre einst blasse Haut war von der Sonne gebräunt. Tiefe Falten gruben sich um ihre Augen und ihren Mund und zeugten von einer Jugend voller Glück. Das war meinem Grossvater zuzuschreiben. Er hatte sie zur glücklichsten Frau gemacht, die ich kannte. Bis zu dem Tag, an welchem er uns für immer verliess und wir ihn der Wüste zurückgeben mussten.

„Dieses Kamel plant meine Hinrichtung", flüsterte ich nun und deutete auf das Biest, welches mich noch immer mit einem verdrossenen Ausdruck anstarrte, als wäre meine Anwesenheit eine Beleidigung.

Ein helles, fast kindliches Lachen entkam der Brust meiner Grossmutter. „Das bezweifle ich zutiefst, Najmah." Ich mochte es, wie sie meinen Namen betonte, wenn ihre Stimme von Glück getränkt war.

„Es wird mich im Schlaf fressen", fuhr ich allerdings fort, genau in dem Moment, als das Kamel die Lippe schürzte, mir seine gelben, schiefen Zähne präsentierte und einen fauligen Geruch ins Gesicht pustete.

Sitty tätschelte meine Schulter. „Es wird dich auf seinem Rücken tragen", sagte sie. „Sei dankbar."

Es war schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal auf dem Rücken eines solchen Biestes gesessen hatte. Wirklich angenehm war die Reise nicht gewesen. Nach acht Tagen hatte mein Rücken höllisch geschmerzt und meine Augen von der Hitze nur noch gebrannt.

Das tiefe Seufzen, das mir bei der Erinnerung rausrutschte, konnte ich nicht unterdrücken. Kaum zu fassen, wie schnell die Zeit doch vergangen war. Wie lange ich meine Eltern schon nicht mehr gesehen hatte. Ob Vater und Mutter noch wussten, wie ich aussah?

„Vergiss deine Bücher nicht", erinnerte mich meine Grossmutter an die riesige Schafsledertasche, die ich die ganze Zeit schon mit mir rumschleppte, seit wir die Karawanserei von Kesh betreten hatten.

Ich nickte und hob die Tasche wieder vom Boden auf. Die Bücher der Nomadenlehre wogen schwer darin, sodass der Lederriemen mir in die Schulter drückte. Ich war froh, dass ich diese Ziegelsteine bald auf den Rücken dieses mürrischen Kamels abladen durfte.

„Warum muss Wissen auch so schwer sein?", jammerte ich, als mich Sitty zurück unter die Arkaden führte.

Ich sollte es auskosten, im Schatten zu stehen, solange ich es noch konnte. Allzu bald würde ich mir die angenehme Kühle herbeisehnen. Nämlich dann, wenn die unbarmherzige Sonne auf mich niederbrannte.

„Bis zu deiner Ankunft sollst du deinen Geist damit bereichern", erwiderte meine Grossmutter. Nun lag schon wieder diese dunkle Tiefe in ihren Augen, als fände auch sie, dass sieben Sternenzyklen zu wenig Zeit gewesen waren, um mir die Weisheiten des Nomadenlebens beizubringen — um Zeit mit ihrer Enkelin zu verbringen. „Danach wirst du es vermissen."

Die Worte stachen in meinem Herzen. Ich schluckte schwer.

Während meiner ganzen Ausbildung bei meiner Grossmutter hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was danach sein würde. Wie es sich anfühlen würde, kein Wort der Gelehrten unserer Zeit mehr lesen zu können, kein Papyrus mehr zwischen den Fingern spüren zu können. Spüren zu dürfen. Wie es sein würde, wenn ich die Wüstenlehren der Nomaden in die Tat umsetzen müsste und sie nur noch ein Schatten meiner Erinnerungen waren.

Sitty musste gemerkt haben, dass mich dieses Zukunftsbild bedrückte und legte ihre Hand an meine Wange. „Wie wäre es mit einem kräftigenden Tee, bevor ich dein schönes Antlitz nicht mehr wiedersehe?"

Ich nickte, zwar nicht ganz so überzeugt, aber ich nickte. Obwohl wir uns nicht in Grossmutters Haus befanden und sie keinen Tee aufkochte — Sitty machte den besten Tee, den es weit und breit in Kesh zu finden gab — würde ich es mir nicht nehmen lassen, noch ein letztes Mal mit ihr ein Glas zu trinken.

„Du kannst mich ja besuchen kommen", murmelte ich, obwohl ich wusste, dass meine Grossmutter eine solch kräftezehrende Reise niemals lebend überstehen würde. Aber es waren Worte, die ich aus einem mir unerklärlichen Grund sagen musste. In meinem Herzen wünschte ich mir, dass sie es könnte.

Sitty hörte mich nicht und zog mich am Ellbogen mit sich. Der arkadengesäumte Gang führte uns direkt zur Teestube. Wie in einem Karawanenhof üblich, konnte man sich hier ausruhen und Energie für die langen Reisen tanken. Die Sonne strahlte erbarmungslos auf den gepflasterten Innenhof, die Orangenbäume und Olivenhaine, die darin wuchsen, spendeten nur spärlich Schatten. Den Kamelen war das herzlich egal, nicht aber den Menschen, die sich entlang der hohen Bögen im Schatten des Gebäudes ausruhten.

Wir setzten uns an einen Tisch und augenblicklich wurde uns ein silbernes Tablett mit einer birnenförmigen Teekanne und zwei Gläsern gebracht. Heisser Dampf drang durch den Ausguss. Die gold-silbern schimmernde Kanne war reich mit Ornamenten verziert, sodass ich sie etwas genauer betrachten musste. Das Abbild der Wüste war darauf zu erkennen und wie Altair darüber schwebte — der Leitstern der Kasbahra, dem man immer folgen sollte, wenn man verloren war.

Sitty goss den Grüntee in mein Glas und schüttete Zucker hinein. Die Pfefferminzblätter zerrieb ich mit einem Silberlöffel. Ein herrlich herber Duft stieg mir in die Nase. Selbst bei dieser unerträglichen Hitze würde der Tee guttun.

„Najmah." Die Stimme meiner Grossmutter klang wieder so ernst. „Sag deinem Vater, er solle die Bücher mit einer Handelskarawane wieder zurückschicken. Ich werde sie noch brauchen können."

Ich löste den Blick von der Kanne, die mich aus einem unerklärlichen Grund zu lange in ihren Bann gezogen hatte und richtete ihn auf meine Grossmutter. Stirnrunzelnd.

„Was sonst sollte er damit tun?"

Sittys Lippen wurden schmal. „Sie verbrennen."

Vor Schreck zuckte ich so heftig zusammen, dass ich beinahe den Tee über mein dunkelblaues Reisegewand verschüttete. „Beim letzten Sultan!", stiess ich etwas zu laut aus, sodass die zwei Händler, die direkt neben mir sassen, mich schief anstierten. „Weshalb sollte er Bücher verbrennen?"

Die zwei Worte betonte ich absichtlich empört, denn ich konnte es beim besten Willen nicht verstehen. Mein Vater würde sowas doch niemals tun! Doch der Ausdruck meiner Grossmutter verriet, dass ich falsch liegen musste.

„Du weisst doch, was unsere Überzeugungen sind", murmelte sie.

Dass eine Frau nur so viel wissen sollte, wie sie während ihrer Reifung lernen kann und dass es ihr danach ein Leben lang reichen muss. Natürlich kannte ich die kasbahrischen Traditionen. Ich schluckte meinen Ärger hinunter.

„Es ist grausam", sagte ich sodann etwas leiser. „Einem Mädchen das Tor zur Erkenntnis zu öffnen, nur um es ihr danach wieder vor der Nase zuzuknallen."

Ich starrte auf meine Pfefferminzblätter, die sich von dem brühenden Wasser allmählich braun färbten. Meine Grossmutter seufzte. Ich wusste, dass sie dasselbe dachte, jedoch konnte sie unsere Bräuche genauso wenig verändern wie ich.

„Das beste Wissen ist das, was du kennst, wenn du es brauchst", antwortete sie.

Ich verdrehte die Augen, obwohl ich wusste, dass es ihre gängige Reaktion auf meinen Überdruss war. Die Ausbildung bei Sitty hatte mich eines gelehrt: Eine Nomadin der Wüste zu werden und zu sein. Nicht mehr und nicht minder. Ich hatte nur drei Sternenzyklen meiner Unterweisung gebraucht, um zur Erkenntnis zu kommen, dass ich meinen Wissensdurst niemals stillen werden könne. Ich hatte aus der unendlichen Quelle gesoffen und konnte nicht mehr damit aufhören.

Sitty hatte lachen müssen, als ich ihr dies in der letzten Nacht so bildlich beschrieben hatte, wie es sich für mich anfühlen würde, kein Buch mehr in der Hand halten zu dürfen — als würde ich in der Wüste verdursten. Deswegen hatte sie mir zwei Bücher für meine Rückreise zu meinen Eltern mitgegeben: Der Fall des letzten Sultans und Kasbahrische Sternkonstellationen. Das Zweite war mein Lieblingsbuch und ich wollte mir alle Sternbilder nochmals einprägen, obwohl ich sie beinahe schon auswendig kannte.

Wir sassen schweigend bei der Teestube, genossen die letzten gemeinsamen Augenblicke und nippten an unseren Getränken. Dann war es Zeit, mich der Karawane anzuschliessen. Der Kamelführer suchte bereits nach mir, als ich keuchend vor ihm stehen blieb. Er warf einen missmutigen Blick auf meine Tasche, die mich in eine Schieflage brachte.

„Die wirst du bald nicht mehr brauchen", grummelte er, als er die Papyrusblätter darin erkannte.

„Bis Jaradin sind es acht Tage", fauchte ich. „Genügend Zeit, noch so viel zu lernen, wie ich kann."

Das Grinsen, das ich ihm unter meinem Gesichtstuch zeigte, konnte er natürlich nicht sehen, aber für diese Worte starrte ich ihm in die Augen. Nur kurz, aber dennoch deutlich genug.

Als Antwort schnalzte er nur mit der Zunge und hievte schliesslich — ohne einen weiteren abfälligen Kommentar — die Tasche auf mein Kamel. Dieses schien über das zusätzliche Gewicht an seiner Flanke nur mässig begeistert und meckerte laut im Protest.

„Du reitest ganz hinten", sagte er noch und schon war er wieder verschwunden.

Ich drehte mich ein letztes Mal zu meiner Grossmutter um. Trauer schimmerte in ihren Augen. Ihr verwittertes Gesicht wirkte im Angesicht des Abschieds plötzlich älter.

„Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast", sagte ich und konnte es nicht unterlassen, dass mir selbst die Tränen kamen.

So fest ich konnte, presste ich mich an den mageren Körper meiner Grossmutter und umarmte sie. Als könnte ich mit meinem Leib einen Teil von ihr mitnehmen. Als könnte sich ihr Geruch nach Kardamom und Zimt für immer in meiner Kleidung festsetzen. Sie löste sich von mir und strich mir eine schwarze Strähne von der Stirn.

„Du warst mir eine begabte Schülerin. Die hellste Kasbahrin, die ich je kennenlernen durfte."

Meine Wangen wurden nass und ich scherte mich nicht darum, die Tränen wegzuwischen. Mein Gesichtstuch würde sie aufsaugen.

„Bitte sprich im Winde mit mir, Sitty. Solange du kannst."

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Das werde ich. Wenn Altair in der Nacht leuchtet, dann setze dich hin und horche. Meine Worte werden dich finden."

Mit einem Kopfnicken verabschiedete ich mich von ihr und kletterte auf den Rücken meines Kamels. Der Karawanenführer machte ein klickendes Geräusch und wie von Zauberhand orchestriert, erhoben sich etwa zwölf Kamele gleichzeitig von ihren Knien. Ich wurde auf dem Sattel hin und her geworfen, als sich mein mürrisches Tier erhob und in einen gemächlichen Passgang verfiel.

Ich warf einen letzten Blick zurück und sah, wie sich meine Grossmutter an eine Säule abstützte und eine Hand an die Brust legte. Die Bewegung tat ich ihr nach. Im Herzen würden wir vereint bleiben, selbst wenn ein Ozean aus Sand und Trockenheit zwischen uns lag.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und warf ein rotes Licht über den Himmel, wie eine Flamme, die ein letztes Mal über das Gewölbe peitschen wollte. Wir liessen Kesh — die Handelsstadt des Westens — hinter uns und begaben uns mitten ins Herz der Wüste Tulhaia.

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Randbemerkungen:

Ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen.

Was sind eure ersten Eindrücke?

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