♬ 1: ¢αη α ѕσηg ѕανє уσυя ℓιƒє?

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⊱ ────── ⋅♬  Chapter 1  ♬⋅ ───── ⊰

   

 
Yoongi rennt.
Und rennt.
Eigentlich weiß er gar nicht wofür.

Oder läuft er vor etwas weg? 

Der dunkle Korridor vor ihm erstreckt sich endlos. In den schwarzen Schatten kann er kein Ende entdecken. Zwischen einzelnen Spalten blutet rotes Licht hindurch. 

Das Gefühl in seiner Brust ist kein Herzschlag mehr. Er atmet viel zu hektisch. In seinen Adern pulsiert Panik statt Blut. 

Er kann nicht mehr.
Aber Anhalten ist keine Option. 

Manchmal taucht eine schemenhafte Gestalt aus der Dunkelheit hervor. Sie alle haben keine Augen. Aber sie sehen ihn trotzdem an. Sie haben keine Arme und greifen trotzdem nach ihm. 

Yoongi weicht ihnen aus. Und er rennt. Und rennt. Rennt um sein Leben. 

Vor ihm ist eine Wand. Erst als er sich nach rechts wendet, materialisiert sich ein neuer Gang aus dem Nichts. Yoongi rennt weiter. Das rote Licht leitet ihn. Er spürt einen warmen Atem heiß in seinem Nacken brennen, aber wenn er seinen Kopf dreht, dann ist da niemand. 

Er stolpert über seine eigenen Füße, fällt hin. Seine Lungen brauchen eine Pause. Er ist Raucher, verdammt. Kein Langstreckenläufer. Eigentlich muss er aufwachen, aber er weiß nicht wie. Das hier ist doch wieder ein Traum, oder? 

Jetzt, wo er angehalten hat, tropft das rote Licht viel schneller von den Wänden. Es fließt auf ihn zu. Yoongi will aufstehen und weiterrennen, aber er kann sich nicht mehr bewegen. Seine Muskeln quittieren den Dienst. Er ist wie erstarrt. Es dauert nicht lange und die zähe, rote Flüssigkeit erreicht ihn. Er kann nicht ausweichen. Yoongi spürt das klebrige Gefühl zuerst an seinen Händen. Als er sie anhebt, erkennt er, dass das rote Licht an ihnen haftet. Es ist Blut. 

Sein eigenes, oder? Auf seinen Unterarmen sind plötzlich riesige, klaffende Schnitte, aus denen das Blut schubweise hervor quilt. Scheiße. Wann ist das denn passiert? Hat er sich beim Sturz verletzt? Die Unterarme aufgerissen? 

Er muss aufstehen. Er braucht irgendetwas, mit dem er die Blutung stoppen kann.
Wenn er jetzt nicht aufsteht, dann verblutet er. 

Yoongi kämpft sich mit letzter Kraft zurück auf die Beine. Seine Füße hinterlassen bei jedem Schritt ein eklig-schmatzendes Geräusch auf der zähen Masse. 

Er muss sich abstützen, damit er vorankommt. Gehen fällt ihm so verdammt schwer. Seine Augen fallen immer wieder zu und sein Sichtfeld verschwimmt. 

Als er kurz davor ist umzukippen, erreichen ihn die schemenhaften Gestalten, um ihn festzuhalten. Ihr Kopf besteht nur aus einem Mund. Yoongi kann ganz klar jeden einzelnen spitzen Zahn erkennen, die sich in einem ungeordneten Muster zu einer hässlichen Fratze vereinen. Er weiß nicht warum, aber er weiß, dass der Mund weit geöffnet ist. Wenn die Kreatur sein Maul schließen würde, dann wäre da gar nichts mehr in seinem Gesicht. Es könnte ihn trotzdem anstarren. Yoongi weiß nicht, woher er das weiß, aber er ist sich sicher. Wenn da nicht diese riesigen Zähne wären, wäre da ein Nichts ohne Augen, die ihn trotzdem verschlingen können. Er spürt den warmen, fauligen Atem jetzt auf seinem Gesicht brennen. Er ist ätzend, besteht scheinbar aus konzentrierter Schwefelsäure. 

Es bilden sich quasi sofort Brandblasen. 
Yoongi zuckt vor Schmerzen zusammen. Will zurückweichen und kann nicht. Der Griff des Wesens ohne Arme ist viel zu stark für seinen langsam sterbenden Körper. Er lässt seinen Blick nach unten gleiten und bemerkt mit Schrecken, dass er gar nicht festgehalten wird. Es ist schlimmer. Stattdessen verschmelzen sein eigener Körper mit dem Körper der gesichtslosen Gestalt langsam miteinander. Er und diese schreckliche Kreatur werden eins.
Sein Blut tropft immer noch von dem Boden und von den Wänden. Sie stehen schon beinahe knöcheltief in der stinkenden Flüssigkeit. 

Es riecht nach Verwesung.
Oder ist das auch der Atem des Wesens vor ihm? 

Yoongi schließt die Augen. Das Gefühl in seiner Brust ist schon lange kein Herzschlag mehr. Es ist eine Nulllinie. 

Vielleicht soll es so sein, dass er jetzt gefressen wird. Er weiß doch ohnehin nicht, wofür er eben noch gerannt ist. Um sein Leben sicherlich nicht. Er ist doch eigentlich schon tot, oder? Also was macht es für einen Unterschied? Vielleicht ist es ein Reflex zu flüchten. Aber selbst dafür ist er jetzt zu schwach.    

Die Zähne sehen beinah verführerisch aus. Wenn es ohnehin unaufhaltsam ist, dann sieht selbst der Tod verlockend aus. Yoongi schließt die Augen und gibt sich dem Gefühl zu sterben hin wie einem lang vermissten Liebhaber. 

Zittere nicht
halt stattdessen meine Hand
singt eine goldene Stimme in die Schatten von Yoongis Kopf hinein. 

Seine Mundwinkel formen ein kleines Lächeln. Er atmet erleichtert aus. Jetzt riecht es plötzlich nicht mehr nach Verwesung. Stattdessen ist da der Geruch von Lavendel und Flieder und Sonne. Eine Frühlingswiese am Erblühen. 
Yoongi weiß, was die Melodie bedeutet. 

gemeinsam werden wir ein wir
lass mich dich lieben

Die Stimme hat sich heute Zeit gelassen.
Er hätte fast geglaubt, dass der heutige Albtraum doch real ist. Dass die dunkle Gestalt ihn wirklich verschluckt. Als Sinnbild für seine verzweifelten Gedanken, die ihn tatsächlich Tag für Tag auffressen. 
 
Aber jetzt… 

Jetzt darf er aufwachen. 
  

⊱ ────── ⋅♬⋅ ───── ⊰
  

Als Yoongi aufschreckt, ist er schweißgebadet.
Scheiß Albträume. Scheiß Leben. Aber vor allem: Scheiß Bettlaken.
Das ist nämlich schon wieder ganz klamm und stinkt und muss dringend gewaschen werden.

Ob er das jetzt gleich erledigen sollte? 

Guter Witz. Yoongi schafft es nicht mal, sich selbst zu waschen. Stattdessen zuckt er nur mit den Schultern, quält sich in eine aufrechte Position und zieht sich das klebrige Shirt über den Kopf. Es landet irgendwo neben dem Schrank auf einem Haufen anderer Schmutzwäsche. Für einen Moment fasst Yoongi ihn ins Auge und beschließt dann, dass das ein Problem für einen anderen Tag ist. 

Dann steht er auf, humpelt zu seinem Schreibtischstuhl und lässt den Bildschirmschoner mit zwei geübten Klicks verschwinden.
In seinem E-Mail-Postfach warten zwei neue Mails per blinkender Benachtigung auf ihn. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es schon 18:37 Uhr ist. Fuck. Er hat wieder den ganzen Tag verschlafen. Kurz will er sich darüber ärgern, aber dann wird ihm klar, dass es ohnehin keinen Unterschied macht, wann er nun wach ist. Vielleicht würde es nicht mal einen Unterschied machen, ob er überhaupt noch wach wird. 

Bevor er aber dazu kommt, sein Postfach tatsächlich zu öffnen und es nicht nur selten dämlich anzustarren, wird er per Skype angeklingelt. Minhos lachende Fresse erinnert Yoongi mal wieder unsanft daran, dass er dringend seinen Status auf unsichtbar stellen muss. Wäre Minho nicht sowas wie sein Chef, würde er den Anruf sicher ignorieren. So muss er sich leider dazu überwinden, den grünen Annahmebutton zu drücken. 

“Was ist dein Auftrag?”, plärrt Yoongi müde in den Raum, während er sich suchend nach seinem Headset umguckt.  Hatte er das Teil nicht gestern direkt neben die Tastatur gelegt?
“Gib dir keine Mühe, ich hör’ dich eh nicht. Finde mein Headset grade nicht.”

Yoongi liest die Nachricht, dreht sich augenrollend in seinem Stuhl herum und… bingo. Es liegt quasi direkt neben seinem Kopfkissen und es ist davon auszugehen, dass Yoongi heute Morgen damit eingeschlafen ist und es sich irgendwann in seinem unruhigen Schlaf ausgezogen hat. Ganz ehrlich. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um auf diese Verbindung zu kommen. Er kann sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt ohne Musik eingeschlafen ist.

“Warum zur Hölle rufst du mich überhaupt in solcher Herrgottsfrühe schon an??”, blafft Yoongi wiederum und als ihn nur Schweigen als Antwort begrüßt, ergänzt er: “Ich hab mein Headset jetzt an, du darfst antworten.” 

“Wie gütig, Mr. Min”, lacht Minho vergnügt und erweckt damit fälschlicherweise den Eindruck, als wären sie sowas wie Freunde. Dass dem nicht so ist, beweist sein Ansprechpartner, in dem er sich nicht länger mit Floskeln aufhält, sondern direkt zur Sache kommt: “Hast du dir das Drehbuch schon durchgelesen, dass ich dir gestern Abend noch geschickt hab?” 

Zustimmendes Nicken seitens Yoongi, der sich auf die blinkende zwei an seinem Postfach konzentriert, die Zahl anstarrt, als könnte er allein durch Gedankenkontrolle den Inhalt der E-Mails entschlüsseln. Ebenfalls ein Problem für später, beschließt er, und steht inklusive Headset auf, um sich erstmal einen Kaffee zu machen.
“Mhm, ja, hab ich”, ergänzt er dann, weil Minho ihn zwar virtuell überwacht, aber hoffentlich noch keine Kameras in seiner Wohnung angebracht hat. 

“OH GOTT”, reagiert Minho zugleich euphorisiert über, “sag mir bitte, dass du die ganze Nacht wach warst, weil du direkt was dazu komponiert hast?!!”

“Von was träumst du? Natürlich nicht.” 

“Alter, was hast du dann gemacht? Wenn wir die Produktion für den Soundtrack bekommen, dann sind das mindestens zwei Monatsmieten!” 

“What the fuck? Für diesen Porno?” 

“Das ist kein Porno”, klärt Minho ihn belehrend auf, auch wenn der Unterton in seiner Stimme eindeutig belustigt ist. “Es ist eine erotische Romanze. Läuft immer noch unter der Kategorie K-Drama, aber die Freizügigkeit gibt Extrapunkte. Auch bei der Bezahlung.” 

“Mhm, wenn das so ist…”, gibt Yoongi unkonkret von sich, beantwortet damit gleichzeitig alles und gar nichts und beobachtet einigermaßen zufrieden, wie sich Tropfen für Tropfen die Kaffeekanne füllt. Selbst wenn sonst nichts in seinem Leben läuft, die Kaffeemaschine tut es rund um die Uhr. 

“Heißt das, du bist dabei?” 

“Ich bin immer dabei, Minho… Ich hab’ vielleicht sogar schon was rumfliegen.”

“HAST DU???” Wieder diese übermotivierte Tonlage. Früh morgens kann Yoongi damit noch schlechter umgehen als sonst. Die Uhr auf seiner Mikrowelle zeigt mittlerweile 19.00 Uhr. 

“Kann schon sein…”, ist wieder die vage Antwort. Denn die Wahrheit ist: Yoongi schreibt unendlich viele Songs. Um ehrlich zu sein, verbringt er den ganzen Tag damit Lieder zu komponieren, Melodien zu entwerfen und passende Songtexte dazu zu erfinden. Auf Soundcloud hat er sich mit seinen eigenen Produktionen bereits einen Namen gemacht. Er nennt sich AgustD und ist wohl mittlerweile sowas wie der berühmteste Underground-Rapper Südkoreas. Im Business der Musikproduktionen für Filme und Serien läuft es hingegen nicht so gut. Was wirklich bitter ist, weil Soundcloud einfach keine Kohle abwirft. Musikproduktionen hingegen schon. Zumindest wenn mans richtig macht, was bei Yoongi, ganz offensichtlich, nicht der Fall ist. 

“Guckst du nach? Wann kann ich mit deiner Antwort rechnen?”

“Irgendwann im Laufe der Woche?”

“Morgen dann also? Hervorragend. Ich liebe es zu sehen, wie sehr du für deine Arbeit brennst.”

Yoongi brennt für die schwarze und gutduftende Flüssigkeit in seiner Tasse. Für sonst nichts. (Okay, für Musik natürlich auch, aber nicht für den Soundtrack irgendeines drittklassigen Pornos.)

“Was zur…?”, versucht Yoongi vage zu protestieren, aber sein lahmer Widerspruch verläuft sich im Angesicht zu Minhos Aufregung im Nichts. 

“Hervorragend! Wir telefonieren dann morgen wegen den Details? Ich ruf’ dich an, ja? Schick’ mir bis dahin alles per Mail, was du hast.”

“Ich hab doch gar nicht—”, versucht Yoongi es erneut und wird wiederum abgeblockt. 

“Das wird wirklich super, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Freu mich schon. Bis morgen!”

Damit endet der Skypecall und Yoongi sitzt noch genauso fertig wie zuvor vor seinem Computerbildschirm und weiß nicht, was gerade passiert ist. Gut, Minho ist passiert, so wie Minho immer passiert, aber eigentlich hatte Yoongi heute wirklich andere Pläne. Wichtige Pläne. 

Wie zum Beispiel zum fünf Millionsten mal zu probieren, seine verdammte Seelenmelodie endlich auf Papier zu bringen. Nur weil man 4,999,999 Mal gescheitert ist, heißt das ja nicht, dass es nie funktionieren wird. Er würde diese lebensrettende Melodie halt echt gerne in einer Tonreihenfolge festhalten. Solange Silben aufschreiben, bis sie sich zu diesem Text verbinden, den seine Seele singt und sein Mund nicht zu formen vermag. 

Aber jedes Mal, wenn er es versucht, endet es nur damit, dass er frustriert seine Notizzettel zerreißt, Atmen mit Rauchen ersetzt und schließlich aus seinem kleinen Apartment flüchten muss, weil außer dem schalen Geruch nach Rauch und Nikotin nichts weiter in den trostlosen vier Wänden übrig geblieben ist. 

Die zwei über dem E-Mail-Postfach blinkt ihm immer noch diabolisch entgegen. Yoongi nimmt einen tiefen Atemzug, greift nach seiner Zigarettenschachtel, zündet sich eine Zigarette an und öffnet es dann endlich. 

Wie schon vermutet, ist die erste E-Mail nur Werbung. Aber die zweite ist wichtig. Sie ist von Netflix. 
  

Sehr geehrter Herr Min, 

vielen Dank für die Einsendung Ihrer Produktion. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns für einen anderen Anwärter entschieden haben… 
  

Bla, bla, bla, leere Phrasen und dumme Wörter, bla bla, alles scheiße. Yoongi muss gar nicht weiterlesen. Der Rest ist uninteressant. Wichtig ist nur, dass er mal wieder eine Absage kassiert hat. Für eine Musikproduktion, die wirklich interessant gewesen wäre und die zudem endlich seine finanziellen Probleme überwunden hätte. Klar, man sagt, der erste Schritt ist immer der Schwerste und man muss erstmal einen Fuß in der Tür haben, dann wird schon alles gehen. Aber Yoongi hat schon seit Jahren keine Füße mehr, wenn es danach geht, wie oft dieses Körperteil schon von irgendwelchen schließenden Türen zerquetscht wurde. 

Es ist zum Schreien und innerlich tut er es, so verdammt laut, dass ganz fucking Daegu es hören müsste. Aber seine Lippen bleiben natürlich fest verschlossen. Nicht, dass die Nachbarn sich noch beschweren.  

Yoongi raucht seine Zigarette zu Ende, schickt Minho wahllos ein paar Dateien, die zu der Stimmung der pseudoerotischen Romanze passen könnten und greift sich dann ohne hinzusehen das erste gewaschene Kleidungsstück aus seinem Kleiderschrank. Es ist ein schwarz-weiß gestreiftes Ringelshirt. Ist das nicht schon seit zwanzig Jahren aus der Mode? Scheißegal. 
In seiner Wohnung hält er es nicht länger aus. Er öffnet die Fenster, damit der Rauch sich verziehen kann, dann verzieht auch er sich. Wohin? Kein Plan. Wieder scheißegal. Hauptsache weg von der Absage, die ihm mal wieder klarmacht, was für ein Loser er ist, der es niemals in seinem Leben zu etwas bringen wird. 

Außer seiner Musik ist absolut nichts Besonderes an Min Yoongi. Und selbst die ist eigentlich mehr der Verdienst von AgustD als von ihm selbst. Seine Haare sind so pechschwarz wie die eines jeden Koreaners, der es nicht darauf abgesehen hat, eines Tages ein berühmtes Idol zu werden oder durch Extravaganz aus dem Rahmen zu fallen. Seine Statur ist so zart wie die eines Mädchens. Er versteckt den dürren Körperbau viel zu oft unter riesigen, schwarzen Hoodies und zerrissenen Skinnyjeans. 

Während Yoongi durch die Straßen läuft, ertrinkt er in seinen eigenen Gedankengängen. Sie sind dunkel. Sie sind böse. Sie sind voller Monster. 

Im Grunde weiß er, dass das nicht normal ist und dass er Hilfe braucht. Nicht nur eine freundliche Hand, die seine nimmt und ihm die Schönheit von aufblühenden Blumen und dem Sonnenuntergang über dem Meer zeigt. Liebe kann keine psychischen Krankheiten heilen. Depressionen sind keine romantisch-verklärten Modekrankheiten. Sie sind der Stoff, aus dem seine Albträume sind.

Yoongi vergräbt sein Kinn tiefer im Kragen seiner schwarzen Jeansjacke. Die pseudo-fröhlichen Sterne auf den Schulterpartien fucken ihn ehrlich gesagt ein wenig ab. Sie stören ihn jedes Mal, aber niemals genug, um sich eine neue Jacke zu kaufen. Heute hätte er vielleicht trotzdem zu einem dickeren Kleidungsstück greifen sollen. Das dünne Ringelshirt darunter bietet kaum Schutz vor dem eisigen Wind. Immerhin trägt er eine Wollmütze. Zwar mit einem roten, einem gelben Streifen und einem grünen Bommel obendrauf (wirklich, wer entwirft sowas überhaupt?), aber Yoongi könnte sich nicht weniger für das Design interessieren. Hauptsache sie wärmt seine Ohren. 

Wenn sich schon nichts anderes an seinem Körper warm anfühlt.

Es ist zwar schon März und der Frühling steht in den Startlöchern, aber sobald es dunkel wird, bricht auch die Kälte über Daegu hinein. Seine Fingerspitzen sind bereits durchgefroren. So kalt, dass er nach der letzten Zigarette darauf verzichtet hat, eine weitere anzuzünden und sie stattdessen lieber in den weichen Taschen seiner Jacke vergraben hat. Geschützt vor jeglichen Blicken spielt Yoongi nun an seiner Nagelhaut herum. Er schiebt sie weg und kratzt daran, reißt ein bisschen ab, bis er fühlt, dass es nass und feucht an seinen Fingern wird. Erst dann weiß er, dass er es mal wieder übertrieben hat. Seine Nagelbetten sind eine einzige Katastrophe. Die Wunden können niemals ganz heilen, er bringt sie immer vorher schon zum Wiederaufbrechen und Bluten. 

Zum Glück sieht es niemand. Das Blut versickert leichtherzig in den schwarzen Fasern seiner Jacke. Keiner der vorbeiziehenden Passanten bemerkt es. Niemand bemerkt ihn. Und eigentlich bemerkt er sich nicht einmal selbst. 

Sobald es Sommer ist, möchte er wieder Musik im Park produzieren. Umgeben von weißen Kirschblüten gelingt ihm das meist besonders gut. Es sind die einzigen Tage im Jahr, in denen sich die Depressionen nicht ganz so verschlingend anfühlen. Aber leider fallen die Kirschblüten viel zu schnell. Zu dieser Jahreszeit sind jedoch noch nicht einmal die Knospen zu sehen. 

Yoongi wird angerempelt und schnauft verärgert. Können die Leute nicht mal aufpassen? Achtet denn heutzutage gar niemand mehr auf den Weg? 

Ihm bleibt jetzt nichts anderes mehr übrig, als den Blick doch von der grauen, einfallslos gepflasterten Straße zu heben. Der stetige Gegenverkehr von Personen wird immer dichter. Yoongi hat sich unterbewusst der nächsten U-Bahn-Station genähert. Jeder hier möchte möglichst schnell irgendwo hin. Kein Wunder, der stetige Strom an Menschenmassen hinterlässt Müll und stickige Luft und Hektik und insgesamt einfach absolut nichts, was sich zum Bleiben lohnen könnte. 

Vielleicht bleibt er deswegen stehen. Aus Protest. Als Mahnmal dafür, dass jeder noch so hässliche Platz es verdient gesehen zu werden. Überall gibt es etwas Schönes zu entdecken. Genauso wie hier, ganz bestimmt sogar… 
Und nur weil Yoongi stehenbleibt, kann er es plötzlich hören. 
Töne. Melodien. Eine Honigstimme, die ihm den Weg weist. 

Dabei träumt er doch gerade gar nicht. Wirklich. Yoongi ist sich so sicher, dass er wach ist. 
Und trotzdem hört er sie – seine Leuchtturm-Melodie – und sie leitet ihn hinein in die dreckige U-Bahn-Station. Yoongi folgt ihr, so wie er es jede Nacht tut. Es ist gar keine bewusste Entscheidung, sondern mehr wie Schlafwandeln. Wie kann das sein, dass er sie gerade hört? Ist er nicht schon mit genug Symptomen gestraft? Müssen jetzt ausgerechnet noch Halluzinationen zu seinem klinischen Krankheitsbild hinzugefügt werden? 
Seine Füße bewegen sich automatisiert. 

Verdammt, warum hat er keinen Zettel und keinen Stift mitgenommen? Nicht mal sein Handy hat er dabei. Vielleicht würde es ihm jetzt endlich gelingen, die Tonreihenfolgen auf Papier festzuhalten. Jetzt, wo er ihnen das erste Mal zuhören kann, ohne dabei zu schlafen. 

gemeinsam werden wir ein ‚wir‘
lass mich dich lieben 

Yoongi steht vor ihm, als er das Lied gerade beendet. Der Junge hat eine Gitarre um den Hals, rosafarbenes Haar und eine hellblaue Jacke aus Wolken an. Darunter trägt er Shorts, obwohl es wirklich viel zu kalt dafür ist. Selbst die hochgezogenen Socken können seine Beine vermutlich nicht mal ansatzweise wärmen. Unter der blauen Jacke blitzt ein schwarz-weiß gestreiftes Longsleeve hervor. Die Ärmel sind zu lang für den zierlichen jungen Mann. Er hat sie sich hochgeschoben, damit er die Hände zum Gitarre spielen frei hat. Vor ihm auf dem Boden liegt der offene Instrumentenkoffer. Es haben sich bereits einige lose Münzen und Scheine darin verirrt. Kein Wunder. Er ist so verdammt talentiert. Und wunderschön. 
Was hat so jemand wie er in einer dreckigen U-Bahn-Station zu suchen? 
Yoongi hat unendlich viele Fragen. 
Aber allem voran möchte er wissen, warum der fremde Junge dieses Lied singt. Es ist doch Yoongis Melodie. Die Melodie seiner Seele. 

Yoongi überlegt, sucht angestrengt nach Wörtern, um den jungen Mann ansprechen zu können, aber da ist nichts als Zweifel in seinem Kopf. Nicht, dass dies etwas Neues für ihn wäre. Man könnte sagen, dass Yoongi Experte darin ist, sich selbst und seine Vorhaben durch Zweifel zu zerreden. Aber diesmal kann er es sich nicht leisten. Er muss wissen, warum dieser Fremde dieses Lied singt, aber letztendlich überlegt er doch zu lange. 

Jemand kommt ihm zuvor. Ein seltsamer Typ mit aufgehellten Haare und einer auffällig roten Lederjacke stellt sich vor den unbekannten Sänger. Sie begrüßen sich freundschaftlich, dementsprechend scheinen sie sich zu kennen. Der Sänger mit der Honigstimme scheint daraufhin alles andere auszublenden. Seine Gitarre stellt er vorsichtig  auf die Seite und springt danach auf, um den anderen in eine Umarmung zu schließen. Sein Gesicht hellt sich umgehend auf. Yoongi kann seinen Blick nicht von dem Sänger abwenden, auch wenn er anstandshalber ein paar Schritte nach hinten geht. Er kann nicht hören, worüber die beiden reden, dafür sind die hallenden Hintergrundgeräusche der U-Bahn zu laut, aber er sieht, wie die beiden die Umarmung nach kurzer Zeit wieder lösen. Der Sänger seiner Seelenmelodie bleibt dennoch sehr nah bei dem anderen stehen und fängt (vermutlich nach einem Kommentar des anderen Fremden) an zu lachen.

Er ist so anders als Yoongi, der nichts weiter ist als eine Schattengestalt, die unbemerkt an jemanden vorbeizieht. Aber dieser Junge…

Er strahlt. Wie ein Licht in der Dunkelheit und sogar eine Schattengestalt wie Yoongi wird von dem Licht des Jungen erhellt. Kein Wunder, dass gerade er es ist, der die lebensrettende Stimme trägt. Yoongi wird so stark von diesem Lächeln geblendet, dass er sich fragt, wie es sein kann, dass dieser Junge so viel Licht in sich trägt, als der andere Fremde seine Stimme wieder erhebt. Yoongi geht wieder zwei Schritte vor, gibt sich als wartender Fahrgast aus und richtet gelegentlich seinen Blick auf die leuchtende Anzeige der U-Bahn, damit seine Tarnung nicht direkt auffliegt. Seine Hände verstaut er währenddessen sicherheitshalber in den Hosentaschen, damit er vor Nervosität nicht unruhig an irgendwas herum knibbelt und damit auf sich aufmerksam macht. In der Hoffnung, dass er von dem Gespräch vielleicht doch noch was mitbekommt, spitzt er die Ohren und blendet die anderen Geräusche um sich herum so gut es geht aus. Ob das armselig ist? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch einfach die pure Verzweiflung, die Yoongi in diesem Moment antreibt. Er muss einfach IRGENDWAS über ihn erfahren. Wie soll er sonst herausfinden, woher er dieses Lied kennt oder warum er das an diesem Ort singt?

"Wie lange willst du dich eigentlich noch als zwielichtiger Straßenmusiker versuchen?", fragt der Mann in rot den Musiker. Yoongi erkennt nach einem flüchtigen Blick das breite Lächeln, das dabei dessen Gesicht schmückt. Es wirkt auf Yoongi auf eine seltsame Art und Weise eindrucksvoll, an das Lächeln des anderen kommt es dennoch nicht heran.

Der Angesprochene schnauft und schiebt seine Unterlippe etwas vor. Yoongi findet es faszinierend, auch wenn er sich mittlerweile vorkommt wie ein Spanner. Der Musiker bemerkt es zum Glück nicht, sondern beugt sich zu dem Gitarrenkoffer herunter, sammelt das Geld ein und verstaut es in seiner Hosentasche. Anschließend legt er die Gitarre so unfassbar behutsam in den Koffer, als würde das Instrument augenblicklich seinen Klang verlieren, wenn er es nur etwas zu grob anfassen würde. 

"Hobi... du weißt genau, was mir dieses Lied bedeutet!" Die Stimme klingt ermahnend und doch liegt etwas Sanftes in dem Blick des Jungen, das Yoongi nicht direkt deuten kann. Derweil hat er einen losen Faden in seiner Hosentasche entdeckt und er schafft es einfach nicht, aufzuhören darum herumzuziehen. Gleichzeitig bereut er es immer stärker, den Sänger nicht direkt angesprochen zu haben, bevor der Typ in der roten Lederjacke angekommen ist. Nicht immer denken, sondern einfach mal handeln. Das wäre ein immenser Fortschritt für jemanden wie Yoongi.

Jetzt ist es zu spät. Er kann ihn nicht mehr ansprechen. 

"Ja, ich weiß, aber ... ich glaube trotzdem nicht, dass du ihn dadurch irgendwann findest. Jiminie, echt mal. Du hast zu viele Filme gesehen und einfach eine blühende Fantasie", kontert der Fremde laut seufzend und legt seinem Gegenüber seine Hand auf die Schulter. Eine lieb gemeinte Geste wahrscheinlich, aber es ändert nichts an der Mimik des Sängers. 

"Und du weißt, dass ich so schnell nicht aufgebe! Das ist meine einzige Chance! Wie soll ich ihn sonst finden?" Er strotzt nur so von Entschlossenheit, das erkennt selbst so jemand wie Yoongi, der absolut keine Ahnung davon hat, wie man entschlossen für eine Sache kämpft. Bleibt die Frage: Wen meint er mit ihn?

Im ersten Moment überlegt Yoongi angestrengt, wer dieser Unbekannte wohl ist, den der Sänger mit den Lied zu finden versucht. Vielleicht sucht er ja nach… Yoongi? Das wär’s. Aber natürlich ist das nicht der Fall. Niemand sucht nach jemandem wie Min Yoongi. Wirklich niemand. 
Erst im zweiten Augenblick kommt ihm ein ganz neuer Gedanke. 

Wenn er mit diesem Lied jemanden zu finden versucht, dann bedeutet das, dass die Melodie bekannt sein muss. Ein Punkt, über den Yoongi bis jetzt nie nachgedacht hat. Was ist, wenn sie doch keine Neuerschaffung seiner luziden Träume ist? Vielleicht hat er sie irgendwann mal im Radio gehört und unwillentlich abgespeichert, ohne sich dessen bewusst zu sein? Es gibt keinen Zweifel, dass es sich nicht um ein und dasselbe Lied handelt. 
Hätte er ihn direkt abgesprochen, könnte er ihn jetzt fragen, wer der Interpret dieses Liedes ist, sollte es sich tatsächlich um einen vor ewigen Zeiten gehörten Radiosong handeln. Dann würde seine Seele endlich Frieden finden können. Klingt das zu übertrieben? Eigentlich nicht, denn zur Zeit ist der einzige Sinn in Yoongis Leben, endlich hinter das Geheimnis seiner Seelenmelodie zu kommen.  

Schnell greift der Sänger nach dem Gitarrenkoffer und schaut mit einem prüfenden Blick zur Anzeige. Sicherlich ist er nur deswegen hier, weil er (wie es hier normalerweise Menschen tun) auf eine U-Bahn wartet, die ihn nach Hause oder wohin auch immer bringt. Mit anderen Worten: Der Sänger verschwindet jeden Moment und Yoongi kann nichts mehr tun, um das aufzuhalten. Fuck. 

Er betrachtet wie die beiden sich allem Anschein nach verabschieden und wollen. Und plötzlich erkennt Yoongi, dass er jetzt definitiv handeln muss. Er spürt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt, als er auf ihn zusprintet. Drei Schritte später bremst er wieder ab, weil um ihn herum auf einmal die Geräuschkulisse ansteigt. Er hört ein Grollen in der Ferne und fühlt sich ertappt. Beinahe, als wären Scheinwerfer auf ihn gerichtet, damit alle sehen, wie armselig er die beiden belauscht hat. Yoongi erstarrt und kapiert erst viel zu spät, dass die Menschen nicht auf ihn zusteuern, sondern zu der U-Bahn stolpern, die just in diesem Moment die Station erreicht. Eigentlich hätte es ihm klar sein sollen. Niemand hat Notiz von Yoongi genommen. Wie immer. Und aus dem Grund kostet es ihn auch einiges an Kraft, nicht von dem Menschenstrom mitgerissen zu werden, sondern sich seinen Weg zurück zu dem Musiker zu bahnen. Immer wieder verliert er ihn aus den Augen, aber die blaue Wolkenjacke fällt zum Glück stark genug auf, dass er ihn immer wieder doch erkennen kann. Was ihm erst jetzt auffällt: Der Musiker will gar nicht mit der U-Bahn fahren. Er ist auf dem Weg zur Rolltreppe. 

Erst als die meisten Fahrgäste eingestiegen sind, flaut auch das Gedränge wieder ab. Endlich bekommt er wieder die Gelegenheit einmal tief durchzuatmen, sich seine Worte gedanklich zurecht zu legen, Fragen zu formulieren und sich auf eventuelle Gegenfragen vorzubereiten. Nur muss Yoongi sich jetzt beeilen, um den Sänger noch rechtzeitig zu erreichen. Als er es endlich schafft, sich aus der Masse zu befreien und kurz davor ist, die Rolltreppe ebenfalls zu erreichen, passiert es. 
Yoongi wird unsanft von einem Typen umgerannt, der anscheinend die Bahn noch erreichen wollte. Im selben Moment ertönt das aufdringliche Piepen der U-Bahn und direkt darauf das leise Fluchen des Typen. Er fährt sich gestresst durch die Haare, sieht sich fast schon panisch um und erkennt erst da, dass er jemanden umgerannt hat. Yoongi rappelt sich derweil von dem dreckigen Boden wieder auf, auch wenn er den Sinn darin gar nicht sieht. Jetzt schafft er es auf keinen Fall mehr, den Sänger noch einzuholen.

"Hey, tut mir Leid. Ich hab dich nicht gesehn und…", beginnt der Anrempler mit einem entschuldigenden Lächeln zu formulieren und hält ihm die Hand hin. Yoongi schlägt sie unsanft weg.

“Spar dir das!”, keift er den Fremden an. Eine Entschuldigung bringt ihm jetzt nichts. So absolut gar nichts. Also kann er sich das genauso gut auch schenken.

“Ey, ich wollt’ mich nur entschuldigend. Kein Grund, mich hier gleich so anzupampen. Ich wollt echt nicht...” 

"Was!?", knurrt Yoongi wütend, "Was wolltest du nicht? Mir die Chance meines Lebens versauen!?" 

Dass er sich die Chance im Grunde genommen selbst versaut hat, ist ihm bewusst. Er hätte den Sänger auch von Anfang an ansprechen können, wenn er mal irgendwas in seinem Leben richtig machen würde. Der Fremde kann an für sich nichts für das Dilemma, aber scheiße… es ist einfach so viel leichter, jemand anderem die Schuld zu geben. 

"Alter, chill mal. Ich bin nicht absichtlich in dich reingerannt!", kontert sein Gegenüber und stemmt dabei die Hände in die Seiten. Er ist etwas größer als Yoongi. Den durchtrainierten Waden nach zu urteilen, die man durch die Shorts gut erkennen kann, treibt er in seiner Freizeit viel Sport. Er ist wesentlich kräftiger gebaut als Yoongi, aber das ist kein Kunststück. In ganz Daegu läuft wahrscheinlich kein anderer Mann rum, der so ekelhaft schmächtig gebaut ist, wie er.

"Lass einfach gut sein”, beendet Yoongi das Thema schnell, denn wenn er eines jetzt nicht auch noch braucht, ist es eine Prügelei mit einem durchtrainierten, rebellisch gekleideten Typen in einer dreckigen U-Bahn Station. Seine Jacke sieht aus, als hätte jemand einen Eimer weißer Farbe über sie geschüttet, an seinen Ohren blitzen diverse Ohrringe und seine Haare sind auffällig lang und blondiert. 

“Bitte… wie du willst”, zischt der Typ vor Yoongi, wirft ihm noch einen verächtlichen Blick zu wendet sich schließlich der Anzeigetafel der U-Bahnstation zu. Insgeheim ist Yoongi froh, dass er nochmal Glück gehabt hat und der andere sich lieber um die nächste Bahn kümmert, als sich weiter mit Yoongi zu streiten. Ansonsten wäre er wohl nicht so glimpflich davon gekommen. Aber so richtig freuen kann er sich nicht, denn an der Tatsache, dass er den Sänger niemals wieder sehen wird, ändert das leider auch nichts mehr.

Yoongi hat's verbockt. Wie alles in seinem Leben.

  

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