Erstes Treffen - Noahs Sicht

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Ich hätte nicht gedacht, dass Lilly Schilling auch fordernd sein kann. Doch wenn es um Dinge geht, die ihr wichtig sind, scheint sich in ihrem Kopf ein Schalter umzulegen. Es hat mich erstaunt und mir auch irgendwie imponiert, dass sie so hartnäckig darauf bestanden hat, dass wir das Projekt zusammen machen.

Als ich an der Tür klingle, bin ich wirklich gespannt, was mich heute Nachmittag erwarten wird. Ich höre Schritte von drinnen und dann wird die Haustür geöffnet. Vor mir steht nun eine Frau, die vom Gesicht her Lilly zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie hat die gleichen dunklen Haare, langen Wimpern und braune Augen.

Das Einzige, was sie von Lilly zu unterscheiden scheint, ist, dass sie einen schmalen Mund hat und ihre Gesichtszüge längst nicht so weich sind wie die von ihrer Tochter. Sie hat eine Augenbraue hochgezogen, fixiert mich nicht gerade freundlich und hat die Arme vor der Brust verschränkt.

,,Wer sind Sie und was genau wollen Sie hier?''

,,Hallo, Frau Schilling. Ich bin Noah Baumgartner. Lilly und ich sind Projektpartner im Fach Geschichte. Wir haben uns heute verabredet, um an dem besagten Projekt zu arbeiten'', stelle ich mich bei ihr vor und halte ihr als eine Geste der Höflichkeit meine Hand hin.

Nachdem ich bemerkt habe, dass es keinen Händedruck geben wird, nehme ich den Arm wieder runter.

,,Sie und meine Tochter sind Projektpartner? Was für Noten haben Sie so in der Schule, wenn ich fragen darf, Noah?''

Ihr Ton macht mir deutlich, dass sie mir am liebsten die Tür vor der Nase zuknallen wird.

,,Ähm ... normal bin ich im Vierer- oder Fünfer-Bereich. Aber das heißt nicht, dass ich mich nicht für das Projekt anstrengen werde. Lilly hat mir deutlich gemacht, dass auch ich einen Beitrag leisten muss.''

Ich will noch weitersprechen, doch ich werde von Frau Schilling unterbrochen.

,,Und so jemanden hat meine Lilly als ihren Projektpartner gewählt!?!'', gibt sie nicht gerade begeistert von sich.

,,Mama, es ist okay. Eigentlich wollten er und ich nicht mal in einer Gruppe sein. Aber jetzt ist es nun mal so.''

Ich bin geradezu froh, als ich Lilly neben uns stehen sehe.

,,Warum denkst du nie an deine Zukunft, Lilly!? Hast du etwa schon unseren Plan vergessen? Für dein Medizinstudium in Aachen brauchst du Top-Noten! Deshalb solltest du so früh wie möglich anfangen und stets dein Bestes geben. Es tut mir leid, dass ich das sage, aber mit diesem Jungen hier wird das ganz bestimmt nicht gehen.''

Ich verstehe nun, wieso Lilly nicht wollte, dass ich zu ihr nach Hause komme. Ihre Mutter scheint nicht gerade ein netter Mensch zu sein und ich kann mir vorstellen, dass sie von ihrer Tochter entsprechende Noten verlangt. So wie sich das anhört, scheint Lillys Zukunft komplett durchgeplant zu sein. Aber nicht von ihr, sondern von ihrer Mutter.

,,Nein, ich habe unseren Plan noch nicht vergessen. Aber du wirst mich nicht davon abhalten, das Projekt mit Noah zu machen, wenn du nicht möchtest, dass ich mich mit meinem Lehrer anlege. Und wenn du uns nun entschuldigen würdest, wir müssen in mein Zimmer und mit dem Arbeiten anfangen, damit wir am Ende keine schlechte Note bekommen.''

Ich bekomme nur mit, dass Lillys Mutter uns etwas hinterher ruft, doch kann es nicht verstehen, weil Lilly bereits nach meiner Hand greift und mich eine Treppe hinauf zieht. Ich finde mich wieder in einem Zimmer, welches ihr gehören muss.

Das Erste, was mir auffällt, ist ein großes Regal, auf dem jede Menge Bücher stehen. Lilly muss also definitiv ein großer Bücherwurm sein. Ein großes Bett und ein schlichter hellbrauner Schreibtisch nehmen den meisten Platz im Raum ein. Auch eine große Fensterbank, auf die sie sich wahrscheinlich hinsetzt, um Musik zu hören (Kopfhörer liegen drauf), fällt mir auf.

An der Wand hängen vier Bilder, die ich mir anschaue. Eines zeigt eine sehr viel jüngere Lilly, die mit einer Zahnlücke zusammen mit  ihren Eltern in die Kamera grinst. Das Bild muss im Urlaub entstanden sein, weil im Hintergrund das Meer zu sehen ist.

Das nächste zeigt Lilly mit ihrem Vater, wie beide zusammen mit Unmengen an Kissen auf dem Boden sitzen. Beide haben eine große Tasse in der Hand und ein breites Lächeln um die Mundwinkel. Auf einem anderen sieht man Lilly, die stolz eine Schultüte in der Hand hält. Neben ihr stehen ihre Eltern, die beide einen Daumen nach oben heben. Auf dem letzten Foto erkenne ich Lillys Vater, der seine Tochter in seinen Armen hält, als sie noch ein Baby war.

Ich finde es immer sehr interessant, wenn man zum ersten Mal das Zimmer einer Person sieht. Es sagt wahnsinnig viel über dessen Besitzer aus. Ob man ein ordentlicher Mensch ist oder doch eher ein Chaot. Am spannendsten sind Bilder, weil diese häufig von den Momenten erzählen, in denen man vollkommen glücklich war. In einer kleinen Schachtel habe ich zusammen mit Antonias Teddybär ein Foto von ihr und mir aufbewahrt. Darauf bin ich zu sehen, wie ich Antonia anschaue, die in ihrem Kinderbettchen liegt.

,,Tut mir leid, dass meine Mutter zu abweisend gegenüber dir war. Sie ist, wie soll ich sagen ... nun ja ... sehr speziell'', unterbricht Lilly meine Gedanken.

,,Schon gut, wollen wir nun mit dem Projekt anfangen?'', frage ich sie.

Lilly nickt sofort und deutet mir an, mich auf die Bettkante zu setzen. Sie selbst nimmt auf ihrem Schreibtischstuhl Platz. Auf dem Tisch liegt bereits der Fragebogen von Herrn Hartkamp.

,,Wer von uns beiden fängt an?'', möchte sie von mir wissen.

,,Wie wäre es mit dir?'', schlage ich vor. ,,Durch die Gerüchteküche musst du bestimmt schon einiges von mir wissen. Deshalb macht es mehr Sinn, dass wir mit dir starten.''

,,Okay'', stimmt sie mir zu, wobei sie meinem Blick ausweicht.

Lilly Schilling scheint nicht gerne über sich selbst zu reden.

,,Vielleicht könntest du damit beginnen, etwas über dich zu erzählen. Ich weiß nun zum Beispiel durch dein vollgestopftes Bücherregal, dass du anscheinend gerne liest und durch den Kommentar deiner Mutter, dass du vorhast, in Aachen Medizin zu studieren. Was kannst du mir noch über dich erzählen?''

,,Weißt du, über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich gehe nicht wie du auf Partys und betrinke mich dort. Mir sind meine Noten sehr wichtig, weil mir meine Mutter immer einredet, dass von ihnen meine Zukunft abhängt. Ansonsten kann ich nicht wirklich viel zu mir sagen.''

In meinem Kopf bahnt sich die Frage an, wer ihre Freunde sind. Auf unsere Schule können sie jedenfalls nicht gehen, weil ich sie dort immer allein stehen sehe. Mich beschleicht eine innerer Verdacht, dass sie sehr viel Zeit hinter den Seiten eines Buches verbringt oder im Stillen für sich einfach nur Musik hört. Das ist an sich auch nicht schlimm.

Introvertierte Menschen neigen eher dazu, für sich zu sein und meiden soziale Interaktionen, weil diese sehr viel Energie kosten (das weiß ich aus eigener Erfahrung). Aber trotzdem ist die Vorstellung, dass Lilly keine Freunde hat, irgendwie sehr traurig für mich. Kein Mensch auf dieser Welt sollte allein sein und jemanden außerhalb der Eltern haben, dem man sich anvertrauen kann.

,,Ich bin mir sicher, dass du noch so viel mehr zu sagen hast, Lilly. Nur was genau, darüber bist du dir noch nicht im Klaren'', erwidere ich und dieses Mal bin ich derjenige, der den Blickkontakt nicht halten kann.

,,Deine Mutter habe ich ja nun kennengelernt. Wie sieht es mit deinem Dad aus? Ich habe ihn auf einigen Bildern gesehen. Ihr scheint ein enges Verhältnis zueinander zu haben, oder?"

Und genau das ist der Augenblick, in dem mich Lilly jegliche Gesichtszüge entgleiten. Sie starrt mich mit ihren großen Augen entgeistert an, ihr Mund steht halb offen und sie atmet dazu laut hörbar Luft ein.

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