Gefühlsexplosion - Lillys Sicht

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Ich kann es immer noch nicht so ganz richtig fassen, dass ich mich tatsächlich dazu bereit erklärt habe, mit Noah die Schule zu schwänzen. Wir befinden uns in seinem Auto und ich habe keine Ahnung, wohin wir fahren werden. Zwischen uns herrscht eine Stille, die ich als angenehm empfinde.

Ich beobachte Noah dabei, wie er uns konzentriert auf der Straße entlang fährt. Ich möchte mich überraschen lassen, also frage ich ihn nicht, wohin es geht. Ich erlaube mir, die Kontrolle abzugeben und einmal in meinem Leben mutig und spontan zu sein. Wir biegen von der Hauptstraße in einen Waldweg ein. Als der Wagen zum Stehen kommt, bin ich sehr neugierig.

,,Wir sind da'', verkündet Noah und steigt aus. Ich tue es ihm gleich und öffne die Autotür. Gemeinsam laufen wir auf einem Pfad. Ich betrachte die riesigen Tannen, die am Boden sprießenden bunten Blumen, das Moos und die Büsche. Die hell scheinende Sonne, die ganz oben am Horizont zu sehen ist, wirft ihre Strahlen zu uns in den Wald. Die Luft riecht nach Holz, frischem Gras und Moos. Als wir vor einer Kreuzung stehen, sehe ich einen Wegweiser. Dieser weist aus, dass es hier zum ,,Waldsee'' geht.

,,Gehen wir zu einem See?'', stelle ich die Vermutung auf.

Noah nickt.

,,Ich gehe hier jedes Mal hin, wenn ich mich irgendwie schlecht fühle. In solchen Augenblicken beruhigt es mich hier zu sein.'' Nach zehn Minuten kann ich von weitem den kleinen See erkennen. Das blaue Wasser glitzert von den Sonnenstrahlen. Um ihn herum sprießen grüne Gräser und Schilf, die ihn wunderschön verzieren. Ganz vorne gibt es einen hübschen dunkelbraunen Holzsteg. Wir setzen uns genau dorthin. Verträumt schaue ich aufs Wasser und gehe meinen Gedanken nach. Das ist also Noahs Zufluchtsort, wenn es ihm mal nicht gut geht. Es muss ein hoher Vertrauensbeweis sein, dass er mir genau diesen Ort zeigt. ,,Es ist heute schön warm. Wie wäre es, wenn wir eine Runde schwimmen?'', schlägt Noah vor.

,,Okay'', willige ich ein.

Eine kleine Abkühlung wird mir bei diesem Wetter sicherlich guttun.

,,Könntest du dich kurz umdrehen?'', bitte ich ihn.

Mir entgeht das schelmische Lächeln nicht, das Noah mir zuwirft. Er geht meinem Wunsch nach und dreht seinen Kopf in die andere Richtung. Ich nutze den Moment und ziehe mir mein weißes T-Shirt aus. Als nächstes befreie ich mich von meiner Jeans. Nun bin ich nur noch in Unterwäsche und versuche, mir innerlich einzureden, dass das okay ist. Schließlich ist es fast das gleiche, wie einen Bikini zu tragen.

,,Du kannst dich wieder umdrehen'', teile ich Noah mit.

Er hat sich in der Zwischenzeit ebenfalls Hose und T-Shirt ausgezogen. Ich kann nicht anders, als kurz seinen durchtrainierten Oberkörper zu mustern. Noah ist nicht übermäßig mit Muskeln bepackt, das möchte ich gar nicht sagen. Aber man sieht ihm an, dass er regelmäßig Sport treibt. Er ist gut definiert, damit meine ich vor allem seinen Bauch und seinen Trizeps.

Mit den Worten ,,Genug gestarrt?'' werde ich zurück in die Wirklichkeit geholt. Ich schlucke, als Noahs blaue Augen auf die meinen treffen. Hoffentlich bin ich nicht vor ihm rot angelaufen!

,,Ach, was. Ich habe doch gar nicht geschaut'', verteidige ich mich.

,,Lass uns prüfen, ob das Wasser eine angenehme Temperatur hat'', meint Noah und ich folge ihm zur Leiter, die am Steg befestigt ist. An ihr kann man hinunter zum Wasser steigen. Als er an der untersten Stufe angelangt ist, springt er mutig einfach kopfüber ins Wasser. Ich verfolge mit, wie er ins kalte Nass eintaucht und in der nächsten Sekunde prustend wieder an der Wasseroberfläche erscheint. Prüfend hebe ich einen meiner Füße ins Wasser, als nun ich die letzte Stufe der Leiter erreicht habe. Nach meinem Empfindungen ist es eiskalt. Wie Noah da einfach reinspringen konnte, ist mir ein Rätsel. ,,Denk einfach nicht darüber nach und spring rein'', ermuntert mich Noah. Zögernd lasse ich noch meinen Fuß weiterhin im Wasser baumeln. ,,Komm schon, Lilly. Augen zu und durch.'' Ich hole tief Luft und nehme vorsichtig eine Hand von der Leiter und positioniere meinen Körper seitlich. Und dann mache ich es einfach. Ich denke nicht darüber nach, lasse die Leiter komplett los und springe in den See. Es ist kalt, doch durch den Adrenalinstoß merke ich das nicht so sehr. Ich genieße das Gefühl der Schwerelosigkeit, während ich mich tauchend im Wasser fortbewege. Als ich wieder Luft zum Atmen brauche, komme ich zurück zu Noah an die Wasseroberfläche. ,,Na, siehst du. Geht doch'', lobt er mich.

,,Ich bin froh, dass ich es getan habe'', gebe ich zu und bin gerade vollends glücklich. Ich drehe mich auf den Rücken und lasse mich von den kleinen Wellen des Sees treiben. Es ist viel zu lange her, dass ich so etwas gemacht habe. Mein Vater ist früher oft mit mir zu einem See gegangen und hat mit mir dort den Tag verbracht. Solche Tage haben für mich stets das Highlight des Sommers gebildet.

Mama hat davor für uns immer einen Picknickkorb vorbereitet, wo sie für uns leckere Sandwiches als Proviant reingelegt hat. Papa hat mit mir Wassermonster gespielt, bis wir beide erschöpft waren und uns über unser Essen hergemacht haben. Bei dieser Erinnerung fühle ich mich schwermütig und dankbar zugleich.

Noah und ich beschließen irgendwann gegeneinander um die Wette zu schwimmen, wobei er haushoch gewinnt. Wir haben Spaß miteinander und genießen es, in vollen Zügen im Wasser zu sein. Irgendwann beschließen wir, die Leiter hinauf zum Steg zu klettern.

,,Möchtest du einen Schokoriegel?'', bietet Noah an und greift zu seinem Rucksack.

Beim Wort Schokoriegel lässt mein Magen allzu deutlich vernehmen, dass ich Hunger verspüre.

,,Damit wäre meine Frage beantwortet'', sagt Noah lachend und reicht mir einen.

Wir beide essen unseren Riegel und liegen nebeneinander. Ich überlege, wie ich ansprechen könnte, dass ich ihn vor einer Woche am Friedhof gesehen habe. Ihn danach zu fragen, ist nicht leicht, dennoch möchte ich es wissen.

,,Kann ich dich etwas fragen, Noah?'', beginne ich vorsichtig.

,,Klar'', versichert er mir sofort.

,,Wir haben nicht darüber gesprochen, warum ich dir letzte Woche aus dem Weg gegangen bin. Der Grund dafür war, dass ich dich nachts am Friedhof gesehen habe.''

Noahs Körperhaltung versteift sich, seine Schultern sind verkrampft.

,,Darf ich dich fragen, wen du besuchst hast?''

Nun ist es raus und das ist auch gut so. Eine Last fällt von mir und ich bin sehr gespannt, ob er mir eine Antwort auf meine Frage geben wird.

,,Ich habe meine Schwester besucht. Sie hieß Antonia und ist mit gerade mal fünf Monaten einfach so im Schlaf gestorben. Sie hat ein Babyphone gehabt, nur leider war die Batterie leer. Das haben wir erst hinterher gemerkt, als wir sie morgens tot aufgefunden haben.''

Es hat mich schon tief getroffen, als ich ihn weinend am Grab gesehen habe. Es hat mich daran erinnert, wie ich mich mit elf Jahren auf Papas Beerdigung von ihm Abschied genommen habe. Doch jetzt, wo er offen über seinen Verlust spricht, tut es in meinem Herzen umso mehr weh.

,,Wie alt warst du, als das passiert ist?'', möchte ich von ihm wissen.

,,Das Ganze ist vor sechs Jahren passiert. damals war ich gerade mal elf Jahre alt.''

Ich richte mich auf, um in sein Gesicht schauen zu können. In seinen Augen haben sich Tränen gebildet, die er inständig versucht zurückzuhalten.

,,Hey, steh auf.''

Ich greife nach seiner Hand, ziehe ihn mit ihr hoch, damit er sitzt.

,,Tut mir leid, ich ...''

Noah kommt nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, da ich ihn sofort in eine Umarmung ziehe und ihn ganz fest an mich drücke, genau so wie er es bei mir getan hat. Noah lässt zu, dass ich ihn in den Arm nehme und ihm so versuche, Trost zu spenden, als er die Tränen nicht mehr zurückhält und weint.

Sein Kopf ist währenddessen an meine Schulter gebettet. Ich beschließe, dass wir beide gerade keine Worte brauchen. Ein ,,das tut mir leid'' ist nicht das, was ich zu ihm sagen möchte. Stattdessen will ich mit dieser einfachen körperlichen Geste zeigen, dass ich mit ihm fühle. Dass er sich nicht zu schämen braucht und den Schmerz rauslassen kann.

Ich weiß selbst zu gut, dass ich ihm diesen nicht nehmen kann. Aber ich möchte dafür sorgen, dass er ein sicheres Auffangnetz hat, wenn er ihn zulässt. Es gibt meiner Meinung nach nichts Schlimmeres, als das Gefühl, ihn für sich selbst ausmachen zu müssen. Nachdem er sich etwas beruhigt hat, lösen wir uns voneinander.

,,Geht's dir jetzt besser?'', erkundige ich mich bei ihm.

,,Mir geht es gerade immer noch ziemlich beschissen, aber es ist nun deutlich besser. Ich danke dir.''

Noahs Augen sind ganz rot und verquollen vom Weinen.

,,Anscheinend haben wir mehr Gemeinsamkeiten, als wir ursprünglich gedacht haben. Zumindest was unsere Vergangenheit betrifft.''

,,Das stimmt, damit hatte auch ich definitiv nicht gerechnet'', gibt er mir recht. ,,Wahrscheinlich haben wir wegen unserer Gemeinsamkeiten so schnell einen Draht zueinander gefunden.'' Ich weißt nicht, ob es Absicht ist, doch ich kann Noahs Finger ganz leicht auf meiner Wange spüren. ,,Ich fühle mich in dir gespiegelt, Lilly. Und das hat mir zuerst eine Heidenangst eingejagt. Deswegen bin ich dir nach unserem zweiten Treffen aus dem Weg gegangen. Es hat mir selbst so weh getan, den eigenen Schmerz in deinen Augen widergespiegelt zu sehen.''

Ihm ist es also genauso ergangen wie mir.

,,Mir ging es genauso. Mittlerweile macht mir das aber keine Angst mehr. Soll ich dir sagen warum?''

Es sind nur noch wenige Millimeter, die unsere Gesichter voneinander trennen. Mein Herz klopft schneller und ich muss mich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben.

,,Warum?'', fragt Noah nach und hält dabei meinem Blick stand.

,,Weil ich mich durch dich mit meinem Schmerz nicht mehr alleine fühle. Ich weiß durch dich, dass es jemanden gibt, der ihn versteht'', erkläre ich ihm.

Noahs Fingerspitzen liegen nicht mehr auf meiner Wange, sondern wandern zu meinen Kinn. Sein Blick liegt abwechselnd auf meinen Augen und auf meinem Mund.

,,Ich möchte, dass du weißt, dass du nicht alleine bist, Noah Baumgartner.''

Als ich seinen Daumen auf meiner Lippe spüren kann, ziehe ich leise die Luft ein. Mir wird klar, was er tun will. Er sucht immer noch nach meiner Zustimmung.

Noch kann ich ihn daran hindern, mich zu küssen. Doch eigentlich möchte ich, dass er mich küsst! Jede verdammte Faser meines Körpers verlangt danach!

Wie muss ich mich verhalten, damit er begreift, dass er meine Zustimmung hat?

Muss ich ihn auch berühren, um ihm zu signalisieren, was ich will?

Kann er meine Gedanken lesen und in mein Innerstes blicken?

Bemerkt er meine aufkommende Nervosität?

,,Lilly Schilling. Du hast keine Ahnung, wie wahnsinnig du mich gerade machst.''

Ich stehe unter Feuer. Eine Hand verfängt sich in meinen nassen Haaren, die andere tastet meinen Mundwinkel ab. Ich kippe hier gleich um. Das sind so viele Empfindungen auf einmal. Jetzt verstehe ich, wovon die Rede ist, dass eine einfache leichte Berührung einen nach oben in die Wolken schicken kann.

Mit meinen Fingern fahre ich die leichten Stoppeln auf seinem Kinn nach. Meine andere Hand lege ich auf seine Brust, wo mir sein heftiges Herzklopfen die nötige Sicherheit gibt, das hier durchzuziehen.

Sein heißer Atem prallt gegen mein Gesicht und setzt in mir noch so viel mehr Energie und Gefühlswallung frei. Keine Panik. Keine Angst. Nur Aufregung, die mich innerlich zum Beben bringt, als seine Lippen nach einer Ewigkeit auf meine treffen.

In meinem Kopf herrscht eine Explosion von einer solchen Wucht, dass es mir den Atem raubt. Das Abtasten genügt längst nicht mehr. Meine Finger schließen sich etwas stärker um seinen Nacken, als er mit seinen Lippen den Kuss intensiviert. Sehnsüchtig setze ich meine Zunge ein, suche nach seinem Geschmack und verliere mich in ihm mit jeder Faser meines Körpers.

Seine starke Präsenz und die ganze Nähe steckt uns in eine Blase, in der nur wir beide existieren. Das Glücksgefühl, das ich dabei empfinde, bringt meinen Hormonhaushalt völlig durcheinander. Erst als die Trance langsam abklingt, lassen wir voneinander ab.

Mir entgeht dabei nicht das leichte Zittern von Noahs Händen. Er hält mich selbst nach dem Kuss noch so fest, dass ich das Gefühl habe, er wolle mich nie wieder loslassen.

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