Lilly Schilling - Noahs Sicht

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Alle an dieser Schule kennen den Noah Baumgartner, der zu jeder Party kommt und einen Bierkasten mitbringt. Jeder kennt den Noah Baumgartner, der in dem gelb-blauen Trikot den Basketball in den Korb wirft und für die Mannschaft damit weitere Punkte erzielt.

Jeder kennt den Noah Baumgartner, der im Unterricht von Mädchen Liebesbriefe zugesteckt bekommt und im Flur von ihnen umringt ist. Auch den Noah Baumgartner, der im besten Fall eine 4 oder eine 5 kassiert hat oder der vom Lehrer ermahnt wurde, leise zu sein, kennt man. Ich stehe praktisch jeden Tag unter der Aufmerksamkeit der Leute.

Doch den Noah Baumgartner, der alles dafür tut, um nicht nach Hause zu müssen, weil er sich dort einsam und alleine fühlt, kennt man so gut wie kaum. Auch der Noah Baumgartner, der nachts viel zu lange wach liegt, weil er ein Schlafproblem hat, bleibt im Verborgenen. Ebenso wenig weiß so gut wie niemand, dass Noah Baumgartner ein Mal im Monat zum Grab seiner Schwester geht, um ihr zu erzählen, was sich gerade in seinem Leben ereignet und am 09.08 eine Kerze in Erinnerung an ihren Geburtstag anbrennt.

Viele denken, dass man einen Menschen bloß sehr stark vermisst, wenn man mit ihm sehr viel Zeit verbringen konnte. Aber auch einen Menschen mit dem man viel zu wenig Zeit verbringen konnte, vermisst man sehr. Ich erinnere mich an das erste Mal, dass ich Antonia im Arm halten durfte. Das war an ihrem zweiten Tag hier auf der Welt.

Ich musste einen Kittel anziehen, weil die Ärzte Angst hatten, dass ich Antonia mit Bakterien anstecken könnte. Sie war so winzig gewesen, ihre kleinen Beinchen waren nur so groß wie mein Zeigefinger. Ihre Äuglein  waren noch zu und sie hatte leise geatmet. Je mehr Tage vergingen desto lebendiger wurde sie. Dies begann damit, dass sie das erste Mal ihre ozeanblauen Augen aufschlug und meinen Daumen mit ihren Fingerchen umschloss.

Wenn sie nachts geweint hat, dann haben meine Eltern und ich sie in der Wohnung herumgetragen, bis sie irgendwann wieder ganz still war und friedlich ins Traumland hinüber geschlummert ist. Das erste Mal richtig gelacht hat sie, als ich mein Gesicht zu einer lustigen Grimasse verzogen habe.

Antonias liebstes Spielzeug  war der Teddybär ,,Fussel'' gewesen. Er hat große schwarze Knopfaugen, ein braunes, weiches Fell, welches heute etwas abgenutzt aussieht. Er befindet sich in meinem Schrank und ist das einzige Spielzeug, das aussagt, dass ich mal ein großer Bruder gewesen bin.

***

,,Ich wünsche euch allen einen guten Morgen und begrüße euch zu einem neuen Schuljahr, meine Lieben'', schmettert Herr Hartkamp in die Klasse, als er das Klassenzimmer betritt.

Von seinen Schülern gibt es nur eine mittelmäßige Begrüßung zurück und das ist auch verständlich: Es ist Montagmorgen, 8 Uhr und keiner ist so wirklich wach. Auch ich habe absolut keinen Bock hier zu sitzen.

Die harten Holzstühle sind viel zu umbequem und trotzdem müssen wir 8 Stunden mit unserem Arsch darauf hocken. Während draußen die Sonne scheint, müssen wir uns anhören, wie quadratische Gleichungen gelöst werden oder in Chemie, wie das Periodensystem aufgebaut ist. Lehrer beschreiben solche Dinge oftmals so, als wären die überlebenswichtig!

Ich weiß nicht, was für einen Beruf ich später mal ausüben möchte, doch Mathematiker oder Chemiker werde ich ganz sicherlich nicht. Dafür müsste ich mich auf den Hosenboden setzen und lernen. Ich bin davon überzeugt, dass jeder junge Mensch das Recht auf Bildung haben sollte.

Aber diese sollte nicht daraus bestehen, dass man ihnen vorsagt, wie sie zu denken und sich zu verhalten haben. Und sie sollte auch nicht daraus bestehen, dass man sie mit einer dämlichen Zahl gleichgestellt.

Es sollte darum gehen, dass man diesen jungen Menschen zeigt, dass sie ihr Leben selbst gestalten können und ihnen dabei helfen herauszufinden, was sie antreibt, damit sie erkennen, was ihre Stärke ist. Wenn ich daran denke, dass ich in drei Jahren mit einem Abitur dastehe und mich gefälligst für ein Studium zu entscheiden habe, wird mir schlecht. Ich habe nie gelernt, wie ich herausfinde, in was ich wirklich gut bin und was ich mit meinem Leben erreichen möchte. Ich sehe keinen Weg, den ich gehen kann, weil ich mich verloren auf dieser Welt fühle.

Wer wird Noah Baumgartner sein, wenn er nicht mehr zur Schule geht?

Wird er bei seinen Mitstudenten genauso beliebt sein, wie bei seinen Mitschülern und zu jeder Party eingeladen?

Was ist, wenn er eines Tages nicht mehr so gut aussieht, werden sich dann die Mädchen immer noch um ihn reißen?

Und wenn ich zu alt bin, um Basketball zu spielen, wer wird noch für Noah Baumgartner applaudieren?

,,Ich werde morgen eine Party bei mir zuhause veranstalten'', verkündet Louis und holt mich damit aus meinen Gedanken.

,,Bist du dabei?''

,,Ja, klar'', versichere ich ihm, obwohl ich keine Lust habe hinzugehen.

Die letzte Party vor 3 Wochen hat daraus bestanden, dass ich mich beim Bierpong volllaufen ließ und daraufhin am nächsten Tag einen kompletten Filmriss hatte. Laut Bildern habe ich mit irgendeinem braunhaarigen Mädchen rumgeknutscht, von dem ich nicht einmal den Namen kenne. Dass ich in den Garten von Louis Nachbarn gekotzt habe, habe ich erfahren, als diese bei ihm geklingelt und ihn wütend angeschrien haben.

Mittlerweile ist es zu einem Dauerzustand geworden, dass ich am Samstag feiern gehe und am Sonntag meinen Kater ausschlafe. Manchmal lasse ich mich auch unter der Woche auf Partys blicken und komme anderntags etwas benebelt zur Schule. Gerade weil ich mich nicht am Unterricht beteilige, fällt niemanden so wirklich auf, dass ich an solchen Tagen eine Fahne habe.

Es mag verrückt klingen, aber ab und zu wünsche ich mir, dass ich Lilly Schilling sein könnte. Ich weiß nicht viel über sie, aber dennoch lässt mich der Gedanke nicht los, wie es wäre, sie zu sein. Wenn ich sie wäre, müsste ich mir keine Gedanken darüber machen, was andere von mir halten. Zuhause kriegt sie wahrscheinlich ganz viel Lob von ihren Eltern für ihre tollen Noten und wird von ihnen rund um die Uhr umsorgt.

Ihnen ist die Zukunft von ihrer Tochter ganz gewiss nicht egal. Doch auch Lilly selbst scheint zu wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Ich hätte gerne auch Tage, an denen niemand etwas von mir will und ich meine Ruhe habe. Ich wünschte, ich könnte in den passenden Momenten unsichtbar sein. Ich stelle es mir schön vor, nicht nur auf Äußerlichkeiten reduziert zu werden.

Sie sieht nicht schlecht aus mit ihren schwarzen, glatten Haaren und ihren dunkelbraunen Augen, ist aber kein Hingucker. Ob sie einen schönen Körper hat, kann ich nicht beurteilen, weil sie diesen sehr gut unter grauen Pullis und dunkelblauen, weiten Jeans versteckt. Vielleicht ist es gut, eben nicht wie ein verdammtes Supermodel, das frisch per Katalog bestellt wurde, auszusehen.

Wenn ich durch den Flur laufe, spüre ich immer, dass nicht gerade wenig Blicke auf mir liegen. Meistens empfinde ich das als einen großen Ego-Booster, aber es gibt auch Tage, an denen mich das nervt. Soweit ich es mitbekommen habe, dreht sich niemand nach Lilly um.

,,Ich habe heute etwas ganz besonderes für euch'', verkündet Herr Hartkamp strahlend. ,,Wisst ihr, wir haben schon so oft im Geschichtsunterricht berühmte Persönlichkeiten analysiert. Doch auch ihr habt eine Geschichte zu erzählen. Deswegen habe ich mir etwas ausgedacht: Ihr werdet euch in Zweiergruppen zusammen tun und jeweils einen Text über die andere Person schreiben, in dem ihr sie und ihre Geschichte vorstellt. Diesen werdet ihr in drei Wochen präsentieren. Was ihr in diesem Text schreiben wollt, bleibt euch überlassen. Ich habe für euch einen Fragebogen erstellt, den ihr für dieses Projekt nutzen könnt.''

Herr Hartkamp geht durch die Reihen und verteilt einen Zettel. Ich nehme mir meinen in die Hand und lese durch, was darauf steht:

Fragen an meinen Projektpartner:

1.Wie würdest du dich selbst beschreiben?

2.Gibt es ein Ereignis in deinem Leben, welches dich stark geprägt hat?

3.Was wünschst du dir für deine Zukunft?

4.Welche Ziele möchtest du noch erreichen?

5.Hast du schon mal einen anderen Menschen inspiriert?

6.Gibt es eine Botschaft, die du an andere vermitteln möchtest?

Anmerkung:  ändern Sie zum Schluss diese Frage etwas ab und schreiben Sie einen Text über Ihren Partner.

Ich verdrehe genervt die Augen.

Was soll dieser Scheiß!?!

Mich interessiert es nicht, zu erfahren, welche Ereignisse eine andere Person geprägt haben. Ich will nicht wissen, welche Ziele sie für die Zukunft hat und ob sie schon mal jemanden inspirieren konnte. Genauso wenig möchte ich für mich selbst diese Fragen beantworten, damit ein Text über mich geschrieben werden kann.

,,Noah, ist es in Ordnung für dich, wenn ich mit Basti zusammenarbeite?'', erkundigt sich Louis bei mir.

,,Ist okay, ich werde schon jemanden finden, der mit mir in einer Gruppe sein möchte'', versichere ich ihm, doch innerlich bin ich nun etwas unruhig.

Mit wem soll ich denn zusammenarbeiten, wenn meine zwei besten Freunde bereits eine Gruppe bilden?

Ich sehe mich in meiner Klasse um und bemerke, dass viele sich schon zueinander gesetzt haben. Ich durchforste mit meinen Augen Reihe um Reihe, um zu sehen, wer noch keinen Partner hat. Und tatsächlich ist die einzige Person, die noch keinen Partner hat, Lilly Schilling.

Na super, der gefeierte Badboy und der Einzelgänger werden also eine Gruppe bilden müssen. Wenn das mal nicht eine wunderbare Kombination abgibt, dann weiß ich auch nicht ...

,,Lilly und Noah, bitte bildet eine Gruppe, damit alle einen Partner haben'', befiehlt Herr Hartkamp, der uns beide auffordernd ansieht.

Wenig begeistert packe ich meinen Block und mein Mäppchen in meinen Rucksack und stehe auf.

,,Oh je, sieht so aus, als hättest du die Klassenstreberin abgekriegt'', spricht mir Basti sein Bedauern aus und lacht.

Ich lasse mich davon nicht beirren und zucke gleichgültig mit den Schultern.

,,Sieht ganz so aus. Aber das hat auch einen Vorteil: Ich werde wenig für dieses Projekt arbeiten müssen und werde am Ende trotzdem eine gute Note kriegen.''

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