Sich emotional Näherkommen - Lillys Sicht

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Ich bin total nervös, weil Noah erneut zu mir nach Hause kommen wird. Ich weiß nicht, welche Fragen er mir stellen wird. Ein Gefühl sagt mir, dass ihn mehr Dinge interessieren als die Fragen, die wir unserem Projektpartner stellen sollen. Ich kann ihn sehr schlecht einschätzen.

Als es an der Tür klingelt, denke ich kurz daran, nicht aufzumachen. Doch ich fasse mir ein Herz und öffne.

,,Hey'', begrüße ich Noah. Er trägt dieselbe Basballcap wie letztens am Friedhof. Wie spricht man so etwas am besten an? Hey, ich bin dir aus dem Weg gegangen, weil ich dich zufällig um 22 Uhr in der Nacht vor einem Grab entdeckt habe. Das wäre vermutlich nicht die sensibelste Art, dies anzusprechen. Wen er wohl besucht hat? ,,Meine Mutter ist heute nicht da'', informiere ich ihn.

,,Habt ihr beide ein gutes Verhältnis zueinander?'', erkundigt er sich bei mir.

,,Ich weiß, dass sie es gut mit mir meint. Aber sie kann ab und zu etwas übertreiben. Manchmal habe ich auch das Gefühl ihren Erwartungen nicht gerecht werden zu können'', gebe ich zu, wobei ich ungewollt mit den Zähnen knirsche.

,,Inwiefern?'', hakt er nach.

,,Ich gebe mir Mühe in der Schule, lerne so viel ich kann und versuche gute bis sehr gute Noten mit nach Hause zu bringen. Trotzdem habe ich die Befürchtung, dass ihr das nicht reicht. Ich versuche mein Bestes zu geben und dennoch scheint ihr das nicht zu genügen.''

Erstaunlicherweise tut es gut das auszusprechen. Solche Sachen behalte ich normalerweise für mich selbst. Ich habe in meinem Leben keine Person mit der ich über meine Probleme sprechen könnte.

Normalerweise mache ich sie stets mit mir selbst aus. Das ist nicht immer unbedingt gut, aber ich kenne es nicht anders. Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas bringt mich dazu, mich Noah anzuvertrauen.

Der Noah Baumgartner, den ich kennenlernen durfte, ist anders als der an unserer Schule beliebte Basketballspieler. Er hört einem zu und scheint ebenso Zwischentöne zu registrieren. Ich rechne es ihm hoch an, dass er sich für mich eingesetzt hat, als seine Freunde blöde Kommentare mir gegenüber gemacht haben.

,,Man wird nie den Ansprüchen anderer gerecht, Lilly'', holt er mich zurück in die Wirklichkeit. ,,Man kann es versuchen, doch irgendwann wird es einen innerlich kaputt machen. Schlussendlich kommt es am meisten darauf an, dass man sein Bestes gegeben hat. Nicht mehr und nicht weniger.''

Noahs Worte treffen mich unerwartet. Er hat recht. Ich kann es versuchen, aber ich werde niemals allen Erwartungen meiner Mutter vollkommen gerecht werden. Dieses Ziel lässt sich niemals erreichen. Viel eher sollte ich dafür sorgen, dass ich auf mich selbst stolz bin. Dass ich mit einem guten Gewissen von mir selbst behaupten kann, alles gegeben zu haben.

,,Wir sollten hoch in mein Zimmer.''

Wir gehen wie das letzte Mal die Treppen hoch. Als wir in meinem Zimmer stehen, fällt sein Blick dieses Mal nicht auf die Fotos. Wahrscheinlich hat er aus dem letzten Mal gelernt und bemerkt, dass er mich lieber nicht auf meinen Vater ansprechen sollte.

Er setzt sich auf meine Fensterbank und ich an meinen Schreibtisch.

,,Wie wäre es, wenn wir es dieses Mal anders machen? Wir könnten erst einmal probieren, die Fragen für uns selbst zu beantworten und erst dann darüber sprechen. Wärst du damit einverstanden?'', schlägt er vor.

,,Gute Idee'', stimme ich zu.

Ich gebe ihm einen Stift und wir beide nehmen unsere Fragebögen zur Hand.

Wie würdest du dich selbst beschreiben?

Schon bei der ersten Frage weiß ich nicht, was ich hinschreiben soll.

Langweilige Persönlichkeit?

Bücherwurm?

Jemand, der sich nicht gerne einem anderen Menschen gegenüber öffnet?

Ein Mensch, der innerlich kaputt ist?

Dem letzten Gedanken gebe ich nur für einen ganz kurzen Augenblick eine Stimme.

Was bedeutet innerlich kaputt?

Jemand, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll?

Jemand, der keine richtige Lebensfreude mehr verspürt?

Jemand, der sich verloren auf dieser Welt fühlt?

Eventuell gibt es auf diese Fragen keine richtige Antwort. Jeder Mensch hat ein individuelles Päckchen mit sich zu tragen. Nur bei manchen ist es größer als bei anderen. Eventuell gibt es niemanden, der vollständig ist. Das, was wir erleben, prägt uns. Vor allem Schicksalsschläge sorgen dafür, dass man sich charakterlich verändert. Ob wir aus dieser Veränderung etwas positives machen, bleibt uns selbst überlassen.

Ich entscheide mich dazu, die Frage zu überspringen und zur nächsten über zu gehen.

Gibt es ein Ereignis in deinem Leben, welches dich stark geprägt hat?

Vor meinen geistigen Augen sehe ich meinen Vater, wie er mit seiner Atemmaske in einem Krankenbett liegt. In meinen Ohren höre ich die Krankenschwester sagen: ,,Wenn ich ihm gleich die Atemmaske abnehme, wird er nicht mehr atmen können. Sein Herz wird daraufhin aufhören zu schlagen und er wird friedlich von uns gehen.''

Ich muss gegen Tränen ankämpfen, die sich in meinen Augen bilden. Ich darf nicht anfangen zu weinen! Noah wird das merken und mich dann ausfragen. Ich muss stark bleiben und darf meine Emotionen nicht zulassen solange er bei mir im Zimmer ist.

,,Lilly, ist alles in Ordnung bei dir? Was ist los?'' Es ist zu spät. Noah hat mich anscheinend beobachtet und bemerkt, dass ich kurz davor stehe, zu heulen. Er steht von der Fensterbank auf und kommt auf mich zu. Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. Er deutet mir an, aufzustehen und setzt sich mit mir aufs Bett. Seine Arme schlingen um mich. Ich kann die Wärme spüren, die von seinem Körper ausgeht. Er drückt mich gegen seine Brust. Ich halte meine Tränen nicht mehr zurück und lasse ihnen freien Lauf. Mir ist es egal, dass er mich in so einem verletzlichen Zustand sieht. Weinen tue ich nur, wenn ich nachts alleine bin. Es ist für mich etwas völlig neues, dass mich jemand in so einer Situation in den Arm nimmt. ,,Möchtest du darüber sprechen?'', werde ich von Noah gefragt.

Als er über meine nasse Wange streicht, fühlt es sich überraschender Weise sehr beruhigend an. Keine Ahnung wieso, aber die körperliche Nähe zu ihm tut gut, auch wenn wir uns noch nicht so richtig kennen.

,,Versprichst du mir, dass du es niemanden erzählen wirst?'', verlange ich von ihm und er nickt direkt.

,,Du hast mich das letzte Mal nach meinem Vater gefragt. Er ist ... er ist gestorben, als ich gerade einmal 11 Jahre alt war.''

Es kostet mich verdammt viel Kraft, jedes einzelne Wort herauszubringen.

,,Er hat einfach so einen Herzstillstand erlitten, als meine Mutter mit mir beim Einkaufen und er alleine zuhause war. Dieser hat dafür gesorgt, dass sein Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde. Kurz darauf ist er von den Ärzten für Hirntod erklärt worden und sie meinten, dass sie nichts mehr für ihn tun könnten. Daraufhin wurden die lebenserhaltenen Maßnahmen eingestellt. Es war wie ein schlimmer Albtraum und der schrecklichste Tag in meinem Leben.''

Ich erwarte, dass Noah mit mir Mitleid hat. Das ist normalerweise die erste Reaktion von Menschen, wenn man ihnen von dem Tod einer geliebten Person erzählt. In Noahs Augen sehe ich etwas anderes. Kein Mitleid, eher so etwas wie Mitgefühl. Ich tue ihm nicht leid. Er scheint stattdessen zu verstehen, wie beschissen ich mich gerade fühle.

,,Du bist nicht allein'', höre ich ihn leise murmeln.

Sein Griff ist fest, aber nicht zu fest. Er will mir mit dieser Geste deutlich machen, dass er für mich da ist und mir eine tröstende Schulter bieten möchte. Dass ich mich solange bei ihm ausheulen darf, bis es mir wieder besser geht. Dass ich mich nicht nicht zu schämen brauche, solche Gefühle zuzulassen.

Ich muss sein T-Shirt bestimmt schon mit meinen Tränen durchnässt haben, dennoch beschwert er sich nicht. Ich kann es selbst nicht glauben, dass es ausgerechnet Noah Baumgartner ist, dem ich einen Blick in meine zerbrochene Seele gewähre.

Dem beliebteste Junge der Schule liegt tatsächlich etwas an der Einzelgängerin Lilly Schilling. Und dann macht es Klick bei mir. Ihm liegt etwas an mir, weil er ganz genau weiß, wie man sich fühlt, wenn man einen geliebten Menschen für immer verliert. Mit ,,nicht allein'' meint er, dass er den Schmerz und das Gefühl der Einsamkeit, welches einem fest in seinem Griff hat, kennt.

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