𝐅ü𝐧𝐟𝐳𝐞𝐡𝐧

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Weihnachtssturm
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Damals
Immer dichter wirbelten die Schneeflocken um mich herum. Weiß. Alles war weiß. In welche Richtung ich mich auch drehte überall lag Schnee soweit ich mich auch drehte. Lächelnd breitete ich die Arme aus und drehte mich im Kreis. Wie ein kleines Kind streckte ich die Zunge aus und versuchte die Schneeflocken zu fangen. Ich drehte mich zu meinen Eltern um, um sie mit meiner Begeisterung anzustecken, doch ich konnte sie nirgends sehen. Stirnrunzelnd blieb ich stehen und sah mich um, doch der Schnee versperrte mir die Sicht. Dicke Flocken landeten auf meinen Augenlidern und blieben an meinen Wimpern hängen. Ich blinzelte sie weg, doch sofort landeten neue. Meine Sicht begann zu verschwimmen, so dicht wie die Flocken fielen und auch die Hand die ich mir schützend vor die Augen hielt, konnte nichts gegen den Schnee ausrichten. „Mom? Dad?". Keine Antwort erfolgte. Langsam spürte ich wie die Panik mit eiskalten Fingern nach mir griff. „Mom? Dad?". Diesmal schrie ich und fing gleichzeitig an blindlings loszurennen. Heiße Tränen rollten über meine Wangen und bildeten einen scharfen Kontrast zu der Kälte, die sich langsam in meinen Knochen festsetzte. Zusammenhangslose Gedankenfetzen schossen mir durch den Kopf, meine Wangen brannten vor Kälte und die Tränenspuren fühlten sich nass und eklig an, während die Zeit wie in Zeitlupe zu vergehen schien und trotzdem kam es mir vor als würde ich Stunden durch den Schnee taumeln, bevor ich mit einem Mal menschliche Stimmen hörte. Mit letzter Kraft schaffte ich es auf mich aufmerksam zu machen, bevor mir schwarz vor Augen wurde.

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Heute
Keuchend schreckte ich aus dem Albtraum hoch. Wie immer um diese Jahreszeit, wurde ich regelmäßig von Flashbacks geplagt, die mich in meine traumatischen Erinnerungen zurückwarfen. Ich warf einen Blick auf die Leuchtanzeige meines Weckers. 5:30 Uhr zeigte sie an - das war immerhin eine halbe Stunde länger, als ich gestern geschlafen hatte. Da ich aus Erfahrung wusste, dass ich gar nicht erst zu versuchen brauchte, wieder einzuschlafen schaltete ich das Licht auf meinem Nachttisch an und schlug die Bettdecke zurück. Ich zog mir die bereitgelegten Socken an, schlüpfte in die warmen Hausschuhe und zog mir einen warmen Pullover über meinen Schlafanzug, bevor ich mich auf den Weg zum Badezimmer machte. Seit dem Schneevorfall, wie ich ihn immer nannte reagierte ich extrem empfindlich auf jede Form von Kälte und vermied es penibel mich dieser auszusetzen. Mit meiner Chinophobie - welche die Angst vor Schnee bezeichnete - hatte sich bei mir auch noch ein Hang zum minutiösen Planen entwickelt. Wenn ich das Gefühl hatte, das etwas meiner Kontrolle entglitt, geriet ich schnell in Panik. Im Badezimmer angekommen, schaltete ich das Licht ein und versuchte den Blick in den Spiegel zu meiden. Ich wusste ohnehin, wie schrecklich ich aussah. Da ich im Winter kaum einen Schritt vor die Tür setzen konnte, ohne in Panik zu geraten, sah ich aus wie eine wandelnde Leiche. Meine Haut war blass, wegen der mangelnden Sonne und tiefe Schatten unter meinen Augen zeugten von meiner Schlaflosigkeit. Im Kontrast zu meinen schwarzen, lockigen Haaren wirkte meine Haut noch bleicher. Dazu kam noch meine zierliche Figur – und voilà, ich sah aus als hätte ich gerade eine sehr fiese Grippe überstanden, die mich wochenlang ausgeknockt hatte. Sorgfältig erledigte ich meine Morgenroutine und nahm die Vitamine ein, die ich als Ausgleich zum Sonnenmangel nehmen musste. Als ich fertig war, warf ich einen Blick auf die Uhr. Gerade mal in zwei Stunden, würde mein Privatlehrer kommen, der sich in den Wintermonaten immer meiner Schulbildung annahm. Ich schaltete das Licht aus und ging zurück auf mein Zimmer. Meine Eltern hatten mit der Schulleitung und meiner Therapeutin, die meine Chinophobie zu behandeln versuchten, eine spezielle Vereinbarung getroffen, die es mir erlaubte nur in den Sommermonaten an der richtigen Schule teilnehmen zu müssen. Sicher hatten dabei, das Ansehen, der Einfluss und der Reichtum meiner Eltern, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, das zu bewerkstelligen. Aber da ich alleine schon beim Gedanken, einen einzigen Wintertag in der Schule, voller Jugendlicher zu verbringen, die einen Dreck auf die Schulregeln gaben und womöglich mit Schneebällen um sich warfen, beinahe eine Panikattacke bekam, sah ich darüber hinweg. Ich mochte die Sonderbehandlung nicht, die mir zuteilwurde. Die Blicke der Leute, wenn ich wieder in der Schule auftauchte und ihr spöttisches Gekicher und Gerede, wann immer sie sich unbeobachtet fühlten. Aber daran hatte ich mich gewöhnen müssen.

Natürlich hoffte ich, dass ich nicht mein Leben lang Angst vor dem Schnee haben musste. Ich wusste, dass Chinophobie heilbar war und immerhin war ich mittlerweile schon so weit, dass ich nicht mehr das Gefühl hatte, dass die Wände auf mich zukamen, sobald sie weiß gestrichen waren – ein Grund warum es in unserem Haus keine einzige weiße Wand gab. Kurz nach meinem Unfall im Schnee, war das sehr extrem gewesen – mittlerweile machte mir die Farbe weiß an sich nichts mehr aus. Auch der Regen machte mich mittlerweile nicht mehr panisch. Selbst Weihnachtsfilme konnte ich gucken, auch wenn mir der Anblick von schneebedeckten Häusern Unbehagen bereitete. Aber weiter, als fünf Schritte hatte ich es bisher im Winter nie aus dem Haus geschafft, ohne dass mein Kopf mich wieder in die Vergangenheit zurückgeworfen hatte. Es war wie ein Schalter der sich in mir umlegte, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. In diesen Momenten verlor ich komplett die Kontrolle über meinen Körper. Mein Körper verknüpfte meine Sinneseindrücke mit den traumatischen Erinnerungen und schaltete automatisch in den Überlebensmodus. Ich schüttelte die Gedanken ab. Es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Im Moment konnte ich eh nichts dran ändern. Ziellos ließ ich meinen Blick durch mein Zimmer wandern, bis mir eine Idee kam. Stattdessen könnte ich auch –... Mein Blick wanderte zu meinem Fenster und landete auf dem Fenster direkt gegenüber. Vor nicht einmal einem Monat, war eine neue Familie neben uns eingezogen. Und das Zimmer von dem Sohn der Nachbarsfamilie lag genau gegenüber meinem. Ich hatte ihn noch nie richtig, ohne Fensterscheiben dazwischen gesehen, da er erst hergezogen war, als ich mich bereits wieder für die Winterzeit, in meinem Haus eingerichtet hatte, aber irgendwie hatte es sich ergeben, dass wir in Form von Zetteln miteinander kommunizierten. Klar, wir lebten in der Welt des digitalen Zeitalters und es wäre wahrscheinlich sehr viel einfacher gewesen, wenn wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, aber mir gefiel diese altmodische Art des Austauschs. Die Unterhaltungen mit ihm, bildeten mein Highlight des Tages und wann immer ich morgens meine Routine vollendet hatte, belohnte ich mich damit seinen neusten Zettel anzuschauen. Angefangen hatte es damit, dass Ben mich dabei erwischt hatte, wie ich ihn gestalkt hatte. Jep, genau – ich hatte ihn angestarrt wie in einer verdammten Highschoolgeschichte und war dann auch noch klischeelike abgetaucht, als er mich entdeckt hatte. Meine Wangen wurden immer noch rot, sobald ich daran dachte. Als ich dann nach gefühlten Ewigkeiten wieder aufgetaucht war, hatte ich dann den Zettel entdeckt. „Hi". Mehr hatte darauf nicht gestanden und schließlich hatte ich einfach geantwortet. So war dann unser reger Zettelaustausch entstanden. Morgens reichte die Zeit oft nicht für viel mehr als ein kleines „Guten Morgen", da Ben im Gegensatz zu mir zur richtigen Schule musste und auch nicht unter chronischen Schlafproblemen litt. Aber trotzdem begann mein Herz aufgeregt zu klopfen, als ich den weißen Zettel entdeckte. Es erinnerte mich ein bisschen an die Freude, die man als Kind empfunden hatte, wenn man morgens ein neues Türchen im Adventskalender öffnen durfte. Wie immer stammte die letzte Nachricht von ihm, noch von gestern. Ich war die, die morgens als erstes aufwachte und er dafür der, der abends als letztes ins Bett ging. So lagen die Dinge nun einmal.

Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht trat ich ganz nah an das Fenster heran, um seine Nachricht lesen zu können. Es war eine Antwort auf eine vorangegangene Frage von mir und ich musste lächeln als ich sah, was er geschrieben habe.

„Ob ich an Seelenverwandtschaft glaube? Für wen sonst, außer meine Seelenverwandte würde ich wohl sonst meine Schönschrift auspacken ;-)? Ach und guten Morgen – hast du gut geschlafen?".

Ich löste vorsichtig den Zettel vom Vortag vom Fenster und eilte zum Schreibtisch um meine Antwort daruntersetzen zu können.

„Haha – sehr witzig. Ich weiß genau, dass du dich nur über meine Handschrift lustig machen willst – das nächste Mal frage ich dich einfach irgendwas Bescheuertes – wie zum Beispiel ob sie einer Teefabrik auch Kaffeepausen machen. Da weiß ich zumindest, dass ich nicht mit einer ernsthaften Antwort rechnen muss :-P. Dir auch einen guten Morgen – was glaubst du denn?".

Ich hängte den Zettel zurück an das Fenster und machte mich summend auf den Weg nach unten. Tänzelnd bewegte ich mich durch die Küche und warf die Kaffeemaschine an. Unsere Küche sah ein bisschen so aus, als hätte man eine Modellküche aus dem Katalog aufgebaut und dann ausversehen einen Eimer Farbe darübergekippt. Das lag daran, dass die Sache mit den farbigen Wänden ja eigentlich nie geplant worden war, bis zu dem Tag, als meine Eltern feststellten, dass unser Haus mit seiner modernen, hellen Einrichtung mich panisch machte und kurzerhand das ganze Haus hatten bunt streichen lassen. Aber irgendwie mochte ich, dass nicht alles perfekt aufeinander abgestimmt war. Es gab unserem Haus etwas Lebendiges und Persönliches. Und da ich vor allem in der Winterzeit viel Zeit allein in diesem Haus verbrachte, konnte das auf jeden Fall nicht schaden. Meine Eltern hatten zwar eine Haushälterin eingestellt, die mir immer ein wenig Gesellschaft leistete, aber das war nicht dasselbe. Natürlich wusste ich, dass meine Eltern arbeiten mussten und auch nicht während der Wintermonate alles stehen und liegen lassen konnten, doch das änderte nichts an dem Gefühl der Einsamkeit, dass sich an manchen Tagen an die Oberfläche kämpfte. Das änderte nichts an den Albträumen, aus denen ich Nacht für Nacht hervorschreckte. Und es nahm mir auch nicht die Angst davor, dass sie eines Tages einfach nicht mehr zurückkamen, so wie sie an dem Tag wo ich im Schnee verlorengegangen war, nicht mehr wiedergekommen waren. Es waren die Ängste eines kleinen Mädchens, die da aus mir sprachen. Dieses Mädchen steckte immer noch im Schnee fest und niemand war es retten gekommen. Ich schüttelte meinen Kopf, um mich von den Gedanken zu befreien. Das war selbst für mich am frühen Morgen etwas düster – wahrscheinlich lag es daran, dass ich noch nicht meinen ersten Kaffee getrunken. Ungeduldig schaute ich die Kaffeemaschine an, wo der Kaffee immer noch durchlief. Es war wie Pizza, die im Ofen war – auch wenn man wusste, dass sie davon auch nicht schneller fertig wurde, versuchte man trotzdem den Ofen mit seinem Blick zu hypnotisieren. Endlich war der Kaffee durchgelaufen und ich holte mit Blick auf die Uhr drei Tassen aus dem Schrank und befüllte sie mit der duftenden, schwarzen Flüssigkeit. Während mein Vater ihn schwarz bevorzugte, tranken meine Mutter und ich ihn am liebsten mit ganz viel Milch. Meine Mutter tat sogar immer noch Zucker rein, weshalb ich zwei Zuckerstücke in ihre Tasse plumpsen ließ. Ich hielt das ja für einen Frevel, aber sollte sie machen was sie wollte.

Ich lehnte mich gerade gegen die Arbeitsfläche und trank den ersten Schluck Kaffee, in der Hoffnung das Koffein würde genug Lebensgeister wecken, damit ich den Tag durchstand, als sich die Tür öffnete und meine Mutter in die Küche hereinschwebte. Und wenn ich sagte, dass sie hereinschwebte, dann meinte ich das auch so. Meine Mutter war so ziemlich das Gegenteil von mir. Sie hatte blondes, langes Haar, das ihr zu jeder Tageszeit in weichen Wellen über die Schultern zu fallen schien. Ihre Ausstrahlung war immer fröhlich und so natürlich, dass man sie einfach gernhaben musste. Zudem erstrahlte ihre Haut im Gegensatz zu mir in einem gesunden, bronzefarbenen Ton. Während nicht die blauen Augen und die zierliche Figur gewesen – niemand hätte mir geglaubt, wenn ich gesagt hätte, dass sie meine Mutter war. Wahrscheinlich hätte ich mir nicht einmal selbst geglaubt. Mit einem Lächeln griff meine Mutter nach der Kaffeetasse, die neben mir stand. „Du bist ein Schatz". Dann ließ sie ihren Blick kritisch über meine Erscheinung wandern und blieb an meinen Augenringen hängen. „Hast du wieder einen Albtraum gehabt?", fragte sie und Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Ich senkte dem Blick und wich ihren forschenden Augen aus. Ich war es leid meinen Eltern ständig Sorgen zu bereiten, aber ich konnte sie schlecht belügen. „Ja, nur der übliche Kram", antwortete ich und versuchte es herunterzuspielen, doch meiner Mutter konnte ich nichts vormachen. Seufzend stellte sie den Kaffee neben mir ab und legte ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich. „Ach Schatz...". Sie hielt mich ein Stück von sich weg um mich anzusehen und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst, oder?". Ich nickte stumm und sie nahm mich noch einmal in die Arme. „Gut, dann denk bitte daran, dass du heute noch eine Videokonferenz mit deiner Therapeutin hast. Dein Vater und ich müssen jetzt gleich auch los. Um 9:00 Uhr kommt Frau Garcia, aber das weißt du ja. Kannst du ihr vielleicht ausrichten, dass heute nochmal die Fenster in allen Räumen fällig wären?". Sie hatte mich mittlerweile losgelassen und mein Vater war dazugekommen und suchte alle Sachen zusammen. Ich nickte und sagte: „Klar doch, Mom. Bis später". Beide drückten mir eilig einen Kuss auf den Kopf, wünschten mir einen schönen Tag und verschwanden nach draußen. Wenig später hörte ich Motorengeräusche und sie waren weg. Ich war alleine.

„Ihnen noch einen schönen Tag", wünschte ich Mr. Philipps und klammerte mich an dem Türgriff fest. Seit einiger Zeit zwang ich mich immer dazu ihn bis zur Tür zu begleiten, um meiner Therapeutin gegenüber etwas zu haben, das ich als Ablenkung nutzen konnte, wenn sie mich fragte, warum ich immer noch kaum Fortschritte gemacht hatte. Mr. Philipps verabschiedete sich ebenfalls freundlich und ich wollte erleichtert die Tür wieder schließen, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Eine Gestalt lief gemächlich über den Gehweg und ich erkannte seinen blonden Wuschelkopf sofort. Es war Ben! Seine Wangen und Ohrenwaren von der Kälte gerötet und seine Haare sahen noch unordentlicher aus als sonst. Wie erstarrt blieb ich im Türrahmen stehen und wagte es nicht mich zu bewegen. Ich wusste nicht wovor ich Angst hatte: Das er den Kopf zur Seite wandte und mich entdeckte oder dass er es nicht tat. Als er auf der Höhe meiner Tür war, wandte er mit einem Mal tatsächlich seinen Kopf und erschreckte mich damit so sehr, dass ich zurückstolperte. Er blieb stehen und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er winkte mir zu und ich starrte ihn an wie die letzte Idiotin. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein verschrecktes Huhn und prompt breitete sich wieder die Röte in meinem Gesicht aus und ich knallte einfach die Tür zu. Im nächsten Moment verfluchte ich mich schon wieder selbst für diese unüberlegte Übersprungshandlung. Warum verhielt ich mich in Bens Nähe bloß immer wieder wie ein verknalltes Teenagermädchen? So war ich doch gar nicht! Mit brennenden Wangen starrte ich die verschlossene Tür an und fragte mich, was Ben jetzt wohl von mir denken musste. Am liebsten hätte ich mich unter meiner Bettdecke versteckt und in mein Kissen geschrien, aber da Bens Zimmer nun einmal direkt gegenüber meinem lag war das wahrscheinlich keine gute Idee.

Zögerlich schlich ich die Treppen nach oben und warf einen vorsichtigen Blick durch meine Zimmertür, sodass ich das Fenster im Blick hatte und zuckte sofort zurück, als ich Ben sah, der gerade seine Schultasche in die Ecke des Zimmers stellte du dann das Fenster ansteuerte. Aus irgendeinem Grund klopfte mein Herz wie verrückt. Dummes Ding! Doch ich war genauso bescheuert, denn ich drückte mich wie ein Spion an die Wand, neben meiner eigenen Zimmertür. Das war doch verrückt! Kopfschüttelnd atmete ich einmal tief durch und versuchte mich möglichst normal zu benehmen, als ich das Zimmer betrat, was mir aber eher so semigut gelang. Wo tat man normalerweise nochmal Arme hin? Wie entspannte man Gesichtsmuskeln? Und wie zur Hölle vermied man den Blick zum Fenster, ohne dabei so auszusehen, als würde man das absichtlich machen? Schließlich konnte ich mich nicht mehr davon abhalten und blickte doch zum Fenster, wo Ben gerade dabei war eine neue Notiz zu befestigen. Als er meinen Blick auffing, erschien ein herausforderndes Grinsen auf seinem Gesicht. Ich versuchte ein Pokerface zu bewahren, doch die Röte schlich sich trotzdem auf mein Gesicht. Ich trat näher ans Fenster heran um erkennen zu können, was er geschrieben hatte.

„Ich persönlich glaube ja, dass in Teefabriken Teezeiten gemacht werden – das ist doch logisch – und ich würde es niemals wagen mich über deine Handschrift lustig zu machen. Sie ist... einzigartig. Apropos einzigartig – einmalig finde ich auch immer deine Art zu reagieren, wenn ich dich mal wieder beim Stalken erwische :D".

Die Röte auf meinen Wangen vertiefte sich. Na toll, war ja klar gewesen, dass er mir das aufs Brot schmieren würde. Ich riss die Notiz ab und begab mich daran eine Antwort zu verfassen.

„1. Du bist verrückt – das war eine Scherzfrage. 2. Jaja, ist klar – einzigartig ist auch nur ein Synonym für Sauklaue und 3. habe ich dich gar nicht gestalkt, sondern meinen Lehrer zur Tür gebracht. Es dreht sich nicht die ganze Welt um dich!".

Ich befestigte die Notiz erneut am Fenster und wartete darauf, dass er antwortete. So lief es oft ab, wenn er von der Schule nach Hause kam. Manchmal machten wir nebenher noch Hausaufgaben und antworteten nur zwischendrin, aber allzu lange blieb unser Zettelaustausch selten inaktiv.

„1. Ich bevorzuge das Wort genial – Verrücktheit und Genialität liegen oft nah beieinander, weißt du? 2. Das hast du jetzt gesagt :-P und 3. Vielleicht dreht sich nicht die ganze Welt um mich, aber deine schon so ziemlich, oder? Ach, natürlich. Hab ja vergessen, was für eine wichtige Rolle deine ganzen Buchcharaktere noch in deinem Leben einnehmen".

Empört schnappte ich nach Luft und warf Ben einen bitterbösen Blick zu, den er mit einem breiten Grinsen erwiderte. Bei den meisten anderen, hätte mich dieser Satz vielleicht verletzt, aber nicht bei Ben. Ich wusste, wie er das gemeint hatte und daran war nichts wirklich Böses. Er zog mich nur auf. Das Einzige was neben Empörung noch ein wenig in meine Gefühle reinspielte war Belustigung. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch, um den nächsten Zettel zu verfassen und so ging es eine Weile hin und her. Schließlich musste ich vorerst unser Gespräch beenden, weil noch mein Termin mit meiner Therapeutin anstand. Bedauernd winkte ich Ben zu und setzte mich an meinen Schreibtisch und klappte meinen Laptop auf. Einige Minuten später, sah ich schließlich auch schon das Gesicht meiner Therapeutin auf dem Laptopscreen und ein nervöses Grummeln setzte in meinem Magen ein. Es war nicht so, dass ich die Termine mit ihr zusammen direkt hasste, aber ich wusste nie, was sie sich im Laufe dieser Stunden alles ausdachte oder was für Themen thematisiert wurden und das machte mir Angst. Außerdem liebte sie es, einem „tolle" Wochenziele aufs Auge zu drücken, die ich meistens nicht erfüllen konnte. Doch heute verlief die Zeit vergleichsweise harmonisch. Zumindest bis zu dem Moment, bis ich mit ihr auf Ben zu sprechen kam. Ich hatte ihn bisher immer nur am Rande erwähnt, aber irgendwie hatte die Tatsache, dass ich ihn heute ohne Scheiben dazwischen gesehen hatte, etwas in mir verändert. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl ihm viel näher zu sein. Es war, als wäre auch in meinem Inneren eine Glasscheibe gewesen, die ihn bisher noch auf Abstand gehalten hatte und nun war sie zersplittert und bot mir keinen Schutz mehr – da war keinerlei Distanz mehr zwischen uns. Und so war auch heute der Filter weggewesen, der mich normalerweise daran hinderte, Mrs. Smith allzu viel zu erzählen. Und leider hatte sie das auf sehr dumme Ideen gebracht. „Eine Person in deinem Alter, mit der du dich gut verstehst und dazu noch in deiner Nähe – das ist fantastisch", sagte sie gerade. „Vielleicht kannst du mit seiner Hilfe ja mal versuchen ein paar Schritte nach draußen zu gehen". Ich versteifte mich und das Blut wich mir aus dem Gesicht. Automatisch begann ich meinen Kopf zu schütteln. Die Frau fantasierte ja wohl. „D - das kann ich nicht. Bitte, das kann ich nicht". „Das kannst du vielleicht noch nicht", korrigierte mich Mrs. Smith. „Das war ja nur eine Ansatzmöglichkeit. Das heißt ja auch nicht, dass du das gleich heute ausprobieren musst. Aber du willst ja irgendwann wieder raus, oder nicht?". Ich schwieg. Ja, das wollte ich. Aber ich hatte absolut keine Ahnung wie ich das schaffen sollte...

„Und? Wie war's?"

„Frag nicht. Es war grauenhaft. Sie will, dass ich frische Luft schnappe"

„Da hat sie nicht ganz unrecht – könnte dir wirklich guttun. So blass wie du um die Nase bist"

„Haha. Wie überaus witzig. Desweiteren meinte sie auch noch, wie toll es wäre, dass ich Freunde in meinem Alter hätte. Naja, ganz so hat sie das nicht ausgedrückt, aber das war so ziemlich die Kernaussage"

„Interessant also stalkst du mich nicht nur, sondern erzählst auch noch von mir"

„Bild dir bloß nichts ein. Hab dich nur in einem Nebensatz erwähnt, aber sie hat sich natürlich total darauf versteift und meinte du könntest mir dabei helfen, wieder nach draußen zu kommen *Augenverdrehen*"

„Und kann ich das?"

„Kannst du was?"

„Ob ich dir helfen kann, natürlich"

„Naja, ich weiß nicht was deine Wenigkeit daran ändern sollte. Die Angst bleibt ja dieselbe"

„Was genau macht dir denn Angst, wenn du nach draußen gehst?"

Ich zögerte, bevor ich meine Antwort aufschrieb. Diese Informationen waren sehr wertvoll und intim für mich. Aber auf der anderen Seite vertraute ich Ben.

„Der erste Faktor ist die Kälte. Als ich mich damals im Schnee verlaufen habe, bin ich komplett ausgekühlt und reagiere seitdem sehr empfindlich auf Kälte, weil sie sehr schnell mein Trauma triggert. Dann ist das Knirschen von Frost oder Schnee unter meinen Füßen noch schrecklich für mich. Ich kann das Geräusch nicht ertragen, ohne dass ich Panik bekomme. Und zuletzt... wäre da noch die Angst vor dem Alleinsein. Ich habe extreme Angst davor alleine mit der Kälte und dem Schnee alleine zu sein. Das versetzt mich fast augenblicklich in eine Art Ohnmachtszustand, sodass ich mich nicht dagegen wehren kann".

Beinahe angstvoll wartete ich auf seine Antwort, die aber lange auf sich warten ließ.

„Ich habe eine Idee. Vertraust du mir?"

„Ja. Aber Ben, was hast du vor?"

„Wenn du mir vertraust, dann komm jetzt einfach runter zur Tür. Und zieh dir deine wärmsten Sachen an"

Und bevor ich noch etwas sagen oder fragen konnte, war er auch schon vom Fenster verschwunden. Ratlos blieb ich sitzen? Sollte ich runtergehen? Ich war nicht dumm – warme Kleidung bedeutete wahrscheinlich nicht, dass er sich mit mir auf die Couch setzen und einen heißen Kakao trinken wollte. Aber vertraute ich ihm so sehr, dass ich bereit war, mich auf das einzulassen was er mit mir vorhatte? Vielleicht konnte ich mir ja erstmal erklären lassen, was er mit mir vorhatte. Danach konnte ich immer noch Nein sagen. Ich würde mir meine wärmsten Sachen anziehen, mir anhören was er zu sagen hatte und ihn dann wahrscheinlich höflich abweisen. Das klang nach einem guten Plan.

Als ich schließlich fertig angezogen war, klingelte es unten an der Tür und ich schreckte zusammen. Mit klopfendem Herzen, ging ich die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Und da stand er – so nah wie ich ihn noch nie gesehen hatte. In seinen schiefergrauen Augen leuchtete Tatendrang und seine Wangen leuchteten rot. Bei näherem Hinsehen konnte ich jetzt sogar Sommersprossen erkennen, die seine Wangen zierten. In der Hand hielt er einen Schal, ein Paar Kopfhörer und sein Handy. Ich starrte ihn an und erst dann wurde mir bewusst, wie bescheuert ich im Gegensatz zu ihm aussehen musste. Ich war so dick eingepackt, dass ich von Weitem wahrscheinlich nicht von einem Schneemann zu unterscheiden war. Doch Ben blieb vollkommen ernst und lachte mich nicht aus, sondern nickte nur. „Hi", sagte er und lächelte, wobei sich Grübchen in seiner Wange bildeten. „Hi", hauchte ich zurück und versuchte ebenfalls zu lächeln, doch es gelang mir nicht so richtig. „Gib mir mal dein Handy", forderte er mich auf und ich blinzelte verdutzt. „Äh...". „Bitte, ich habe eine Idee. Vertrau mir einfach", wiederholte er seine Worte aus der Nachricht und ich kramte zögernd mein Handy heraus, entsperrte es und reichte es ihm. „Kannst du mr vielleicht mal verraten, was hier los ist?". Er hob kurz eine Hand, während er auf meinem Handy herumtippte. „Einen Moment Geduld bitte noch. Ich erkläre dir gleich alles". Er tippt weiter auf meinem Handy herum, dann hob er den Kopf und gab es mir zurück. „Also wir werden jetzt zu mir rübergehen", verkündete er fröhlich und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, bevor er doppelt so schnell weiter schlug. Ich wollte was sage, doch Ben brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Bevor du jetzt etwas sagst oder in Panik ausbrichst, lass mich erst erklären", sagte er mit erhobener Stimme. „Du hast mir gerade eben alles dargelegt, was dir Angst macht und ich habe eine Idee. Wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht, aber lass es uns wenigstens probieren". Er machte eine kurze Pause und sah mich forschend an, bevor er weitersprach: „Für den Schutz gegen die Kälte hast du ja schon selbst gesorgt. Für die Geräusche habe ich die großen Kopfhörer mitgebracht". Er hob die Kopfhörer. „Damit du den Frost hier draußen nicht sehen musst, habe ich dir den Schal mitgebracht. Wir verbinden dir damit die Augen. Und damit du weißt, wohin du läufst, habe ich die Kopfhörer gerade mit deinem Handy verbunden. Ich werde dich gleich anrufen und dann über den Anruf leiten. Und zuletzt, werde ich die ganze Zeit bei dir sein, dich festhalten und führen und dich nicht für einen einzigen Moment loslassen". Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen. Sein Plan war gut durchdacht und jedes Detail war abgedeckt... aber das war verrückt. Ich musste dafür komplett auf Ben vertrauen. „Das ist verrückt", sprach ich meine Gedanken aus. „Oder genial", erwiderte Ben. Wir schwiegen beide und sahen uns an. „ich werde dich zu nichts drängen oder zwingen. Es ist deine Entscheidung", sagte er leise und ich schaute in seine Augen, suchte nach irgendwas, das mir half diese Entscheidung zu treffen. Und irgendwas musste ich wohl gefunden haben, als sich mein Blick mit seine verhakte, denn ich hörte mich „Okay, ich vertraue dir" sagen.

Mit verbundenen Augen und Kopfhörern auf den Ohren, war der einzige Sinn, der mir bei der Orientierung noch helfen konnte der Tastsinn und selbst der war durch meine Handschuhe eingeschränkt. Ich spürte, wie eine Hand sich in meine schob und eine andere an meine Hüfte gelegt wurde. „Ist das okay so?", erklang die Stimme von Ben aus den Kopfhörern. „Ja", sagte ich. Vielleicht flüsterte ich es auch. Ich wusste es nicht, denn die Kopfhörer verschluckten die Außengeräusche. „Okay, dann gehen wir jetzt los. Als erstes musst du aufpassen, da kommt jetzt eine Stufe". Wir bewegten uns – wahrscheinlich im Schneckentempo, aber das war schon Anstrengung genug für mich. Millimeter für Millimeter bewegten wir uns vorwärts. Wann immer ich spürte, dass die Panik übernehmen wollte, war da Bens Stimme, der sie fortspülte und mich beruhigte. Seine Hand in meiner, seine Hand um meine Hüfte hielt er mich im Hier und Jetzt fest und erdete mich. Schweißtropfen glitten mir über die Stirn und vermischten sich mit Tränen, die über meine Wangen rollten, doch ich gab nicht auf. Ich kämpfte gegen die Panik und die Erinnerungen und blieb im Hier und Jetzt. „Es sind nur noch zwei Schritte, dann sind wir drinnen. Du hast es gleich geschafft Kayla. Das machst du echt richtig gut". Ich machte zwei große Schritte und spürte einen warmen Luftzug, der mich umfing. Ben nahm mir die Kopfhörer und die Augenbinde ab und schloss die Tür. Und dann schloss er mich in die Arme. Ich schluchzte gegen seine Brust, ließ mich von der Wärme seiner Umarmung umfangen. Ich konnte nicht glauben was gerade passiert war. Ein ungläubiges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, während weiter die Tränen über mein Gesicht liefen. „Ich habe es geschafft", schluchzte ich. „Ich habe es tatsächlich geschafft". Vorsichtig strich Ben mit seinen Daumen über mein Gesicht und wischte die Tränen weg, bevor er mir einen Kuss auf die Stirn drückte. Meine Augenlider flatterten zu und die zarte Berührung raubte mir den Atem. „Ja, du hast es geschafft. Das hast du richtig gut gemacht", flüsterte er. Und ich schloss lächelnd die Augen. Denn von meiner Tür zu seiner waren es vielleicht nicht mehr als sechs Meter gewesen. Aber es waren sechs Meter gewesen, die ich aus meiner Vergangenheit herausgetreten war, rein in eine neue, warme Zukunft. Das kleine Mädchen in mir hatte sich endlich befreit und trat nun aus dem Schneesturm heraus. Es war ein kleines Weihnachtswunder...

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© _lesesxchti_

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