#06 Ein Buch lesen

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Montag, 02. Oktober - 17:38 Uhr

Nach meinem Vorsatz von Freitag, mit dem Abarbeiten der Liste gezielt voranzuschreiten, bin ich am Samstag, nachdem ich mich von Hannah verabschiedet hatte (das Frühstück hatten wir ausfallen lassen, uns war immer noch übel von der vielen Schokolade), in einen Buchladen gegangen. Dort habe ich gezielt nach Büchern gesucht, die mich bei meinem Selbstheilungsprozess unterstützen sollten. An der Kassa fühlte es sich so an, als gäbe ich mich und mein Innerstes preis, in dem Moment, in dem ich gleich zwei Bücher zur Selbstheilung auf den Verkaufstresen legte. Ich versuchte den Blickkontakt zu meiden und sah mich kurz im Buchladen um, ob ich schon kein bekanntes Gesicht entdeckte. Die Verkäuferin schaute mich nur kurz an, scannte die Bücher kommentarlos ab und gab sie direkt in eine Papiertüte. Ich lächelte sie dankbar an und verließ zufrieden den Laden.

Eines dieser Bücher habe ich, direkt nachdem ich zu Hause angekommen war, begonnen zu lesen. Einerseits, weil ich mir dadurch etwas Inspiration und Halt bei diesem Prozess, der mich erwarten wird, verspreche und andererseits damit ich bald einen weiteren Punkt auf meiner Liste abhaken konnte: #06 Ein Buch lesen.

Während ich in unserem Stammcafé auf Hannah wartete, blätterte ich durch die letzten Seiten des Buches und nippte vorsichtig an meiner heißen Schokolade. Heute war es mir nicht mehr ganz so unangenehm gewesen, mich alleine ins Café zu setzen. Vielleicht weil ich wusste, dass Hannah gleich nachkommen wollte. Oder es konnte auch daran liegen, dass der eisige Wind, der schon den ganzen Tag wehte, mir das Warten vor dem Café wenig überzeugend gestaltete. Gegen Ende des Buches wurden die wichtigsten Inhalte des Selbstheilungsprozesses noch einmal zusammengefasst. Es geht im Wesentlichen darum, das Trigger-Event, das uns in eine störende Situation gebracht hat, ausfindig zu machen und die Folgen dieser Störung zu identifizieren. Dann sollte man sich bewusst vor Augen führen, wer man sein möchte, oder  wer man in Wahrheit eigentlich ist und wie sich dieses "Ich" zusammensetzt.

Das klang im ersten Moment etwas kompliziert. Also nahm ich noch einen Schluck von meiner Schokolade und las die Stelle im Buch noch einmal Wort für Wort durch. Als Auslöser für meine Situation könnte ich mehrere Ereignisse nennen, aber hauptsächlich fing alles mit der Trennung von Anton an. Die Worte, die er mir anschließend an den Kopf warf, trafen mich tief und haben all meine Unsicherheiten getriggert. Daraufhin machten sich meine Selbstzweifel breit. Die Fragen, ob ich es überhaupt verdient hatte, geliebt zu werden. Ob Anton mit seinen Worten Recht hatte? Ob ich besser dran wäre, wenn ich alleine bleiben würde? Immer wieder wiederholten sich diese Gedanken in meinem Kopf - liefen auf Dauerschleife. Um mich deren Antworten nicht stellen zu müssen, habe ich begonnen, den Kontakt zu anderen Menschen auf ein Minimum einzuschränken. Ich war der festen Überzeugung, besser dran zu sein, wenn ich mich in meinem Zimmer verkrieche - bis es irgendwann zu einer Gewohnheit wurde. Das wären folglich die Ursache und die Folgen dieser Störung, von der ich mich befreien wollte.

Bis zu diesem Punkt habe ich die ganze Situation bereits analysiert und dieses Verhaltensmuster, mit Hannahs Hilfe, glücklicherweise durchbrochen. Was mir jedoch noch nicht gelungen ist, ist die soziale Angst abzulegen. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich nicht in diese Gesellschaft passe. Dass mein Denken falsch ist, mein Verhalten unangepasst und überhaupt mein Auftreten merkwürdig für die Außenwelt scheint. Es fühlt sich an, als würde jeder meiner Schritte begutachtet und bewertet werden. Bei allem was ich mache, kreisen meine Gedanken um meine mögliche Wirkung auf meine Mitmenschen, was für mich enormen Stress bedeutet. Und je mehr Leute sich in meinem Umfeld befinden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung und um so größer auch der emotionale Stress.

Das Problem hatte ich erfolgreich analysiert. Jetzt ging es also noch darum, herauszufinden, wer ich in Wahrheit war und wie ich auf Andere wirken möchte. Ich nahm den Keks, der mit der heißen Schokolade serviert wurde, vom Untersatz der Tasse, tunkte ihn einmal ein und schob ihn mir nachdenklich in den Mund. Ich möchte eigentlich nur wieder zurück zu meinem alten Selbst. Ich möchte wieder der fröhliche, ausgeglichene Tim sein, der immer das Positive in den Menschen gesehen hat. Ich möchte einfach normal sein und mir keine Sorgen mehr machen müssen, dass andere mich komisch finden könnten. Aber wie konnte ich das erreichen?

"Hi!", unterbrach Hannah meine Gedanken.

"Oh, hi!", lächelte ich. Ich schloss das Buch und ließ es in meiner Tasche verschwinden.

"Habe ich dich gerade bei etwas unterbrochen?" Hannah setzte sich mir gegenüber an den Tisch und zog sich die Jacke aus.

"Nein! Naja, also nicht wirklich. Ich habe gerade das Buch, das ich mir am Samstag gekauft hatte, fertig gelesen und war deshalb noch etwas in Gedanken versunken."

"Worum ging's? Kann ich dir helfen?"

Ich überlegte kurz. "Es ging darum herauszufinden, wer ich wirklich bin und wie ich zu diesem Ich werden kann." Hannah nickte und schaute mich mit ihren blaugrauen Augen interessiert an. "Ich möchte eigentlich nur wieder zu meinem alten Ich zurück. Aber wie genau, das weiß ich noch nicht."

"Was stand denn diesbezüglich im Buch?"

"Dass es verschiedene Wege gibt, um dieses Ziel zu erreichen und dass man sich Schritt für Schritt herantasten muss. Im Wesentlichen geht es darum, jeden Tag etwas zu tun, was das 'neue Ich' machen würde. Also ein bisschen nach dem Motto 'Fake it till you make it!'"

Hannah nickte. "Dann ist die 30-Tage Liste doch eigentlich ein guter Leitfaden. Immerhin hast du dort Dinge aufgelistet, die dir wichtig sind - auch wenn du zu dem Zeitpunkt selbst noch nicht an die Umsetzung dieser gedacht hast. Das heißt, es waren eigentlich bereits die Ziele des 'wirklichen Tim', oder?"

Ich presste meine Lippen zusammen und nickte schließlich. "Ich denke du hast Recht. Also geht es noch darum, wie ich diese Dinge umsetze."

Hannah lächelte: "Wie wär's damit: Versuch dir einfach vorzustellen, dass du in eine Rolle schlüpfst, so als wärst du auf einer Bühne. Du spielst den neuen Tim, dem es egal ist, was andere denken und der einfach seine Ziele verfolgt." Etwas skeptisch sah ich sie an, weshalb sie noch hinzufügte: "Frag dich einfach, was würde der neue Tim jetzt machen? Und dann machst du das einfach."

"Ich weiß nicht, ob das so einfach ist. Das hieße nämlich, ich muss irgendwie meinen Gedanken-Kreislauf durchbrechen. Ich weiß nicht, ob ich das so einfach schaffe.

"Vielleicht könntest du versuchen, die Entscheidung zu treffen und umzusetzen, bevor sich deine Gedanken überhaupt einschalten können? Und bevor du jetzt zu lange darüber nachdenkst, beginnst du am Besten gleich jetzt damit. Ab jetzt bist du der neue Tim und du darfst deine Rolle erst dann wieder verlassen, wenn du alle 30 Punkte auf deiner Liste abgehakt hast."

Noch bevor ich darauf antworten konnte, kam die Bedienung zu unserem Tisch und fragte Hannah nach ihrer Bestellung. Sie bestellte sich einen Cappuccino und ein Stück Kuchen.

Hannah nutzte dies aus, um das Thema zu wechseln, sodass ich nicht mehr dazu kam, weiter darauf einzugehen.

"Weißt du, wer heute auf der Arbeit nach dir gefragt hat?" Sie grinste. "Jay!"

Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen. "Echt?"

"Ja!" Immer noch grinste meine Freundin. "Er hat gefragt, ob wir noch gut nach Hause gekommen sind und wie es dir geht."

"Das ist aber nett von ihm!", antwortete ich ihr, ehrlich überrascht.

"Ja, Jay ist wirklich total nett! Und total hot...", schwärmte Hannah.

"Das hast du am Freitag bereits gesagt", lachte ich.

"Ja und? Ist er doch immer noch. Da kann man das ruhig nochmal erwähnen."

"Oh Mann! Und ich hab dir euren gemeinsamen Abend versaut." Mein Lächeln verschwand aus meinem Gesicht. "Sorry nochmal dafür!"

"Hörst du endlich auf, dich für Freitag zu entschuldigen?", tadelte Hannah mich und hob drohend einen Zeigefinger, was mir wieder ein Lächeln entlockte.

"Aber was ich nicht verstehe, wieso hast du mich überhaupt auf euer Date eingeladen? Wieso bist du nicht mit Jay alleine losgezogen?"

Energisch schüttelte sie den Kopf. "Das war doch kein Date. Jay und ich sind nur Freunde."

Ich schmunzelte. "Am Freitag meintest du noch, er sei nur ein Arbeitskollege und jetzt ist er schon ein Freund. Na das klingt doch vielversprechend."

Hannah gab mir einen leichten Klaps auf den Arm. "Hör auf zu stänkern. Ich habe dir gesagt, er ist nur ein Freund und mehr wird da auch nicht sein." Was genau das anschließende Zwinkern zu bedeuten hatte, versuchte ich nicht weiter nachzudenken. Die Bedienung kam mit Hannahs Cappuccino und einer Sachertorte an den Tisch. Während Hannah gleich ein Stück der Torte in den Mund schob, musterte ich meine Freundin. Ich war nicht ganz überzeugt, ob sie Jay wirklich nur als einen Freund sah, oder ob sie sich mehr erhoffte. Immerhin war Jay nicht nur eine Augenweide, sondern er schien ein echt netter und anständiger Kerl zu sein. Schade, dass Jay nicht schwul war. Ich unterdrückte ein Seufzen.

Sofort schüttelte ich den Kopf über diesen Gedanken. Wie konnte ich überhaupt an sowas denken? Denn auch wenn er schwul wäre, würde das noch lange nicht heißen, dass er mich auch gut fand. Ich verbannte die weiteren Gedanken an Jay aus meinem Kopf.

"An was denkst du?"

"Ich denke, ich sollte gleich Punkt 6 von der Liste streichen, ehe ich das vergesse." Ich zog mein Portemonnaie heraus. "Und übrigens, das geht heute auf mich, als kleines Dankeschön für Freitag."

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